November/Dezember 2019
Am Bahnhof von Tel Aviv: ein junger Israeli, Rucksackreisender, mag Deutschland, lernt Deutsch und versucht zwei jungen Deutschen zu erklären, dass sie eine Kultur haben. Wir, eine Kultur? Haben wir nicht! Ich würde dir nie empfehlen, Deutsch zu lernen, sagt die junge Frau. Warum lernst du Deutsch?
– Warum soll ich nicht Deutsch lernen? Etwa weil ich Jude bin?
– Oh nein, sondern, weil es so schwer ist. Der, die, das und so weiter!
Sie betont, dass sie von der DNA her zu 36% Russin sei. Der Taxifahrer schimpft über Netanjahu und dessen Frau, die jeden Champagner trinke und rauche, und gerade kommen wir an einer Demo gegen ihn vorbei, an der Konzerthalle. Auf der Straße läuft eine Frau im Bikini, es ist so schön warm im November. Es erinnert ein bisschen an Indien hier, nur ist es nicht so gedrängt voll. Der Taxifahrer war oft in Deutschland. Ich sage, ich komme ursprünglich aus der Nähe zum Ruhrgebiet. Ruhrgebiet, sagt er, das ist nicht mehr Deutschland. Borussia dagegen schon. Borussia gegen Bayern, das ist in Israel Maccabi Tel Aviv gegen Beitar Jerusalem. Er sagt, er hätte die Schule nicht abbrechen sollen, dann wäre er jetzt nicht Taxifahrer, sondern Professor. Warum hat er denn abgebrochen? Weil er sich zu sehr für Fußball interessierte. „Man weiß nie, wohin einen das Leben führt.“
What’s your Ism? steht an der Wand der Kneipe geschrieben. Um in mein Zimmer zu kommen, schleiche ich durch Hinterhöfe, knacke Codes und unterhalte mich mit einer dicken Katze, die bei jedem Wort wegspringt. Zum Abend ein wunderbares israelisches Frühstück. Salat, Thunfisch, Hummus. Das Denksportgeschäft vor mir. Der Buchladen mit alten deutschen Büchern, die die Emigranten herbrachten. Buber, Rosenzweig, Scholem. Israel ist eine Mischung aus Frankreich, Italien, Türkei und dem arabischen Orient. Im Zug von Tel Aviv nach Haifa: ein frommer Jude hört religiöse Vorträge auf dem Smartphone. Ein dicker Bettler setzt sich neben uns. Am Ende gibt ihm der Fromme eine Münze und beide lachen.
In Haifa wohne ich bei Z. Gastfreundlich, hilfsbereit ist sie, die Siebzigjährige, die noch an einer Grundschule arbeitet, voller Erzählungen über ihre Familie und ihre Gäste. Die Eltern waren Überlebende des Holocaust, doch strandeten sie auf dem Weg nach Palästina auf Zypern. Dort hielten die Briten die einwandernden Juden bis 1947 fest. Z: Ich weiß nicht, was gut ist für andere. Ich weiß nicht mal, was gut ist für mich. Heute ist sie unzufrieden mit der israelischen Siedlungspolitik.
Wie bewegend, im Bus die Ansagen der Haltestellen zu hören, es ist wie ein Echo des alten Europa, der jüdischen Geschichte: Martin Buber, Balfour, Kisch, Elisabeth, Schindler, Freud, Einstein, Korczak. Höre Sting in einem arabischen Café. Bei meinem Abflug hab ich ihn noch in Tegel am Schalter gesehen, sehr dünne Beine, lockerer Auftritt.
Die Studenten, helle und aufmerksam. Eine Ukrainerin sieht aus wie Madame Blavatsky. Der klügste Student trägt ein Trikot der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Christen, Juden, Muslims, Drusen in den Seminaren. Eine Studentin war gerade in Island und hat die Edda neu übersetzt. Eine andere Studentin war in Mekka und wurde zufällig Zeugin einer öffentlichen Enthauptung. Im Zentrum von Haifa steht der Schrein eines Bahai-Märtyrers, hoch oben leuchtet er weiß wie eine polierte Wolke, über springenden Wassern und Gärten. Unten in der Hauptstraße ein großer Weihnachtsbaum, ein Halbmond und ein Davidstern: Symbole der drei Religionen, die sich in Haifa gut zu vertragen scheinen. Die Treppen von Haifa: ein dreidimensionales Labyrinth. Suche zuerst die Spinoza-Treppe, sie wird dich hinaufführen zum Berg Carmel, wo du wohnst. Mehrmals verirre ich mich. Eine junge Frau frage ich nach der nächsten Treppe und sage, es ist doch wie in einem Bild von diesem M.C. Escher. Sie schaut gleich in ihr Tablet, um zu sehen, wer das ist. Ja, klar, den kennt sie auch. Haifa ist Escher-Gebiet.
In Tsfat, der Stadt der Kabbalisten, nicht weit vom See Genesareth. Viele orthodoxe Juden unterwegs, ihre Schläfenlocken erinnern an die Kabel von Kopfhörern. Grandma Yocheved saß immer an ihrer Gasse und wartete auf den Messias. Ja, er würde nach Tsfat kommen und dann nach Jerusalem weiterziehen. Viele Jahrzehnte saß sie unten an der Gasse. Als sie alt und gebrechlich wurde, brachte man eigens für sie einen Handlauf die Gasse hinauf bis zu ihrem Haus an. Ich lese gerade die Erzählungen über den Chassidim Ari, den Löwen. Und finde hier sein Grab. Zwei Juden beten schwankend.
Im Hecht-Museum Haifa: die Objekte gehen viele Jahrtausende zurück. Götter der Kanaaniten, Resheph, der Gott der Pest und Seuchen, Astarte, die Liebesgöttin, die auch Kriegsgöttin sein kann. Stiergottheiten. Aus diesem Gebiet an der Levante, Syrien, Palästina, Libanon, kam der Stier, der die Europa nach Kreta entführte. Danach gehe ich mit einer Kollegin spazieren in einem Dorf oben auf dem Berg Carmel. Eine Frau winkt uns aus ihrem Auto zu, wir sollen doch zu ihr ins Haus kommen. Es gibt guten Drusen-Kaffee! Gleich versammelt sich die Familie, Mann und Sohn, und wir unterhalten uns über die Drusen. Sie sind Araber und bilden eine Minderheit in Israel, ca. 125 000 Mitglieder. Sie missionieren nicht und man kann als Nicht-Druse kein Druse werden. Die Gelehrten streiten sich bis heute, ob sie zum Islam gehören oder nicht. Für sie war die letzte Manifestation Gottes auf Erden der Kalif Al-Hakim um das Jahr 1000. Glauben Sie an die Reinkarnation? frage ich. Die Frau sagt, ja, ganz klar. Ein Mädchen, das hier geboren wurde, wusste alle Verstecke des Großvaters, der ein paar Jahre zuvor verstorben war. Sie kannte seine ihm lieben Dinge und seine Lebensgeschichte, ohne dass man ihr davon erzählt hätte. Es habe Kinder gegeben, die die Mörder erkannt haben, von denen sie im letzten Leben umgebracht worden seien. Es gebe auch heilige Plätze hier auf dem Berg, ein Wasserloch, wo ihre Propheten regelmäßig umherwandeln.
Jerusalem
Im Israel Museum. Mit dem Sesshaftwerden tauchen die ersten Gesichter in der Skulptur auf. Das älteste Bier der Welt, 11 000 Jahre alt, stammt vom Berg Carmel bei Haifa – ein Produkt der Natufien-Kultur, die schon um 14 500 v. Chr. beginnt. In Jordanien fand man die ältesten Brotreste der Welt. Brot wurde schon gebacken, bevor es überhaupt einen regelmäßigen Getreideanbau gab! Die ältesten Masken der Welt sind hier zu finden. Eine Frauenhüfte, die mit Fuchszähnen dekoriert ist; ein Frauengrab, das mit Schildkrötenschalen, Knochen von Adler, Wildschwein, Marder und Kuh verziert ist. Es soll eine schamanistische Kultur gewesen sein. Die Priester trugen Armbänder wie Uhren am Handgelenk. 3000 v. Chr.: Die Frau als Violine – Picasso. 2000 v. Chr.: Frau im babylonischen Schmuck – Gustav Klimt. David und Orpheus verschmelzen: beide spielen Harfe und betören Mensch und Tier mit ihrer Musik.
Im orthodoxen Stadtteil Mea Shearim. Alles eilt den Geschäften nach. Später treffe ich einen Kollegen, der mir erklärt, warum: die orthodoxen Juden wollen zurück zu ihrer Torah. Sie wollen studieren und haben keine Zeit für Geschäfte. Schilder verkünden, dass Reisegruppen hier nicht erwünscht sind. Zu Recht, denn jede Gruppe macht einen Ort und seine Bewohner zu einer Ausstellung. Mein Kollege wird oft von den Studenten aus Tel Aviv gefoppt, Jerusalem sei doch langweilig, in Tel Aviv aber brumme das Leben. Da antwortet er: In Tel Aviv weiß man, wie man lebt; in Jerusalem weiß man, warum.
Die Dichte der religiösen Orte ist erdrückend: das Grab des Königs David, die Stelle, wo Jesus gegeißelt oder verhört wurde, das Grab Marias, der Garten Gethsemane, Klagemauer, Felsendom, der Ort, wo Mohammed mit seinem Pferd in den Himmel stieg – alles lagert hier neben- und übereinander. Um den Schlüssel zur Grabkirche haben sich die christlichen Konfessionen im Mittelalter gestritten. Da beschloss Saladin, dass eine muslimische Familie ihn hüten sollte – was bis heute der Fall ist. Man kann hier der Religion überdrüssig werden. Jerusalem ist ein guter Ort, um in die Kirche des Atheismus einzutreten.
Am nächsten Morgen stehen 300 indische Weihnachtsmänner und -frauen auf dem Platz vor dem Jaffa-Tor. Ein Araber, der hier im Hotel arbeitet, erklärt mir, er hätte nicht geglaubt, dass so viele Verrückte nach Jerusalem kommen. Jeden Tag tritt hier oder da ein Messias barfuß und im weißen Gewand auf. Monty Python’s Life of Brian lässt grüßen.
Am letzten Tag lege ich ein paar Steine auf das Grab von Else Lasker-Schüler, die hier auf dem Jerusalemer Friedhof am Ölberg begraben liegt – ein Wunsch meines Vetters in Indien. Und jetzt ist es Zeit, ihr Buch über Palästina zu lesen: Das Hebräerland.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Darf ich auf English schreiben, bitte? Danke. Much easier for me. What a wonderfully evocative travel piece by he inveterate travel author. I am fortunate to have Professor Emeritus Elmar Schenkel as my dear friend. There is a puzzle game called „Where in the world is Waldo?“ Well may we wonder where our Professor-Adventurer will appear next — Mongolia? Antarctica? We wait in suspense.