Zwischen Himmel und Erde 1.0: Eine Lektion im Lächeln – Der Naumburger Dom

Seit jeher ist der Mensch fasziniert vom „Oben“, dem Blick zu den Wolken, zur Sonne, zum Mond oder zu den Sternen. Das Oben scheint unendlich. Und ungreifbar. Ein weiter Raum, der unsere Vorstellungskraft anregt, und vielleicht war und ist es genau das, weshalb das Oben seit jeher mit dem Sitz von Göttern, dem Reich der himmlischen Heerscharen oder aber mit dem Paradies assoziiert wurde. Alles Gute kommt von oben. Alles Schlechte lauert in der Tiefe, der Unterwelt, der Hölle, dem Reich fernab des Lichts. Schon im Schamanismus finden wir die Dreigeteiltheit des Kosmos in Ober- und Unterwelt, verbunden durch die axis mundi (die Weltenachse), symbolisiert etwa durch den Weltenbaum, einen heiligen Berg oder auch eine Trommel. Auf der Tabula Smaragdina (Smaragdtafel), der grundlegenden Schrift der Alchemisten, heißt es: Quod est inferius, est sicut (id) quod est superius, et quod est superius, est sicut (id) quod est inferius – Das Unten ist wie das Oben, und das Oben ist wie das Unten.

Menschen haben die Pyramiden errichtet, Obelisken, Tempel, Steinkreise, angeblich sogar den legendären Turm zu Babel, um das Oben zu berühren oder zumindest symbolisch in seine Nähe zu gelangen, um Anteil daran zu haben, es zu begreifen und zu deuten. Selbst die modernen Naturwissenschaften richten ihren Blick nur allzu gern in die Höhe. Wir wissen mittlerweile mehr über die Entstehung des Weltalls, über schwarze Löcher, Sternennebel und die Oberfläche des Mondes als über das Erdinnere oder die Tiefsee. Das Oben hat etwas Mythisches und Mystisches zugleich. Das derzeit höchste Gebäude der Welt, der Burj Khalifa in Dubai, misst stolze 828 Meter. Und der Traum vom Wettstreit in der Höhe ist noch lange nicht zu Ende geträumt.

Auch die Kirchen- und Kathedralbauten des Mittelalters haben dieser Sehnsucht (die man vielleicht sogar als eine Art urmenschlicher Sehnsucht verstehen mag) auf ihrer Weise Rechnung getragen, angelehnt an die antike Monumentalarchitektur und verbunden mit der ebenfalls auf antiken Wurzeln basierenden Vorstellung, dass die reinsten Seelen (aber auch die von Sünden geläuterten und für würdig erachteten) in den Himmel, das Reich Gottes aufsteigen. Mit dem real erschaffenem Oben war ein religiösen, philosophisches, rituelles, geglaubtes und erdachtes Oben verbunden, zu dem es – im Unten verankert – aufstreben konnte.

Dieser besonderen Wechselwirkung will unsere neue Blogreihe auf einem besonderen Rundgang nachspüren. Wir wollen die Leserinnen und Leser mitnehmen zu jenen Orten, an denen sich das Dazwischen von Raum, Zeit und Vorstellung auf ganz eigene Weise ins Bewusstsein eingegraben hat, Orte, die uns inspirieren, uns vielleicht sogar verschrecken oder uns staunen lassen.

Beginnen wir an der Via Regia, der Hohen oder Königlichen Straße, Pilgerweg und eine der bedeutendsten Verkehrs- und Handelsrouten des Mittelalters, in ihren weitesten Ausdehnungen von Santiago de Compostela bis nach Kiew und Moskau reichend und damit im wahrsten Sinne des Wortes europaverbindend. Viel Raum zum Erzählen. Viel Raum für das Dazwischen.

1 – Der Teufel steckt im Detail

Es sind die berühmt-berüchtigten Details, die uns zu überraschen verstehen und dadurch vielleicht sogar am nachdrücklichsten im Gedächtnis bleiben. Wie der Handlauf einer Treppe zum Beispiel; gewöhnlich nichts Besonders, meist aus Holz, hin und wieder aus Eisen, geschmiedet, gedrechselt, poliert, abgegriffen, selten benutzt, kaum wirklich beachtenswert, aber doch alltäglich-vertraut, und wie selbstverständlich Absicherung für jeden, der ein Gebäude betritt und nicht im Erdgeschoss verweilen möchte. Auch im Naumburger Dom gibt es solche Handläufe. Doch sollte man vor allem jenen, die in den Ostchor hinauf- bzw. wieder hinabführen, einen Blick gönnen. Der Magdeburger Künstler Heinrich Apel (1935-2020) gestaltete diese in den Jahren 1972 (Franziskustreppe) und 1982/83 (Paradiestreppe). An der Franziskustreppe ist der Gründer des Franziskanerordens Franz von Assisi (1181-1226) abgebildet, wie der den Vögeln predigt. Es handelt sich um eine der bekanntesten Legenden, die dem Heiligen zugesprochen werden.

Ein wenig mehr fasziniert hat mich aber die Szene an der gegenüberliegenden Ostchor-Treppe, beginnend mit dem rundnasigen Teufel, der mit triumphierendem Lächeln und Teufelsgabel auf einer Schlange reitet, welche am Ende des Handlaufs einen Sünder verschlingt. „Der schmale Pfad ins Paradies“ hat Apel sein Werk genannt. Und nicht nur schmal ist dieser Weg, sondern auch von Mühsal geprägt (ein wenig erinnert das Beelzebubsche Gefälle an den ewig den Felsbrocken hinaufrollenden Sisyphos – der auch plastisch dargestellt ist), denn das Paradies inkl. Adam und Eva befindet sich am oberen Treppenabsatz, und die hoffnungsvollen Sünder, die zu Gottes Reich streben (Könige, Bischöfe, Arbeiter), müssen sich Stück für Stück emporarbeiten, immer verbunden mit der Gefahr, doch noch verführt und verspeist zu werden. Oder sich vor dem Sündenbock zu erschrecken, das letzte Hindernis vor dem Reich der Herrlichkeit. Es sei denn, man ist clever und versucht, den den Anstieg abzukürzen. So probiert einer der Sünder (der sogenannte „Quereinsteiger“) kurzentschlossen sein Glück und klettert heimlich an einer der Geländerstreben empor. Wird er von den Dämonen, die im Schatten der Schlange hocken, entdeckt werden oder wird sein kühnes Unterfangen erfolgreich sein? Das hat Apel geschickt unserer Fantasie überlassen.

Beim Anblick des Handlaufs kommt mir der Gedanke, was der Dichter der Göttlichen Komödie, Dante Alighieri (1265-1321), wohl zu dieser Szene gesagt hätte. Immerhin haben seine Vorstellungen von Hölle, Fegefeuer und Himmel nicht nur dem christlichen Jenseitsgedanken eine Gestalt verliehen, sondern auch die Kunst beeinflusst. Passenderweise erklärt die Domführerin, dass die Nase des Teufels sehr häufig von den Besuchern berührt wird. Um Unglück vorzubeugen oder dem Bösen der Bösen endlich einmal rachsüchtig in die Nase zwacken zu können? Ich denke, Dante hätte die Szene gefallen. Wiewohl Apels Handläufe angesichts dessen, was der Naumburger Dom seinen interessierten Pilgerinnen und Pilgern – ob mit oder ohne Konfession – sonst noch zu offenbaren weiß, fast in Vergessenheit geraten sind.

2 – Eine „neue Burg“

„Schon vor 7000 Jahren befand sich auf dem heutigen Stadtgebiet von Naumburg eine bedeutende Siedlung der Bandkeramiker. Weitere Funde aus den verschiedensten Zeitschichten lassen auf die Dauerhaftigkeit der Ansiedlung im Stadtraum Naumburgs schließen.“ (Ludwig/Kunde, S. 6) Die Ursprünge des heutigen Nuenburg reichen derweil bis in die Völkerwanderungszeit und das frühe Mittelalter zurück. Ähnlich wie die Elbe bildete auch die Saale eine natürliche Barriere zwischen dem ostfränkisch-ottonischen Reich und den slawischen Gebieten, eine von ständigen Auseinandersetzungen geprägte Grenze, was u. a. in einem regen Ausbau von Befestigungsanlagen entlang der Flüsse Ausdruck fand. Unter Kaiser Otto I. (936-973) verlagerten sich die kirchlichen und weltlichen Machtansprüche noch weiter in Richtung Osten. Um 1000 entstand schließlich auf Betreiben des Markgrafen von Meißen, Ekkehard I. aus der Familie der Ekkehardiner (Stammsitz bei Kleinjena), „über dem Steilrand des der Saale zufließenden Mausabachs“ (LMA 5, Sp. 1056) eine Burg (Nuenburg, oder: Nuwenburg). Diese wurde bald um eine Kaufmannssiedlung erweitert, lag der Ort entlang der Via Regia doch verkehrstechnisch günstig.

Angesichts der ständigen Gefahren an den Reichsgrenzen, die sowohl militärisches als auch politisch-diplomatisches Geschick erforderten, kam den Markgrafen des Reiches eine besondere Stellung zu. Wie viel Einfluss Ekkehard I. auf die Reichspolitik besaß, zeigte sich u. a. bei seinen Ambitionen auf die Königswürde nach dem Tod Kaiser Ottos III., der 1002 in Italien kinderlos verstorben war. Allerdings kam es nicht dazu. Ekkehard I. wurde am 30. April 1002 in der Pfalz Pöhlde (Harz) ermordet. Es oblag nun seinen Söhnen, Ekkehard II. und Hermann, die Konsolidierung von Macht und Ländereien voranzutreiben und in diesem Zuge auch Nuenburg weiter ins Zentrum dieser Bestrebungen zu rücken. Dazu bedurfte es der Mithilfe eines neuen Kaisers (Konrad II.) , eines Bischofs (Hildewald von Zeitz) und einer immensen Prise Selbstvertrauen in die eigene Stellung.

Im Jahr 1028 gelang es in einem kirchenpolitisch einmaligen Szenario, abgesegnet durch päpstliche Genehmigung, den sich bis dato in Zeitz befindenden Bischofssitz (das Bistum Zeitz war 968 parallel mit den Bistümern Meißen, Merseburg und dem Erzbistum Magdeburg von Otto I. gegründet worden) nach Naumburg zu verlegen. „Die offiziell dafür geltend gemachte Begründung der Unsicherheit des Zeitzer Bischofssitzes durch regelmässigen Feindeinfall ist […] sicher nicht allein entscheidend [gewesen]. […] Der salische Kaiser Konrad II. konnte mit seiner Zustimmung zur Verlegung eine der mächtigsten Adelsfamilien Ostsachsens dauerhaft an sich binden. Zudem scheinen die ekkehardinischen Brüder, die beide kinderlos blieben, den Kaiser zum Erben eines Teils ihrer umfangreichen Güter bestimmt zu haben. Für Bischof Hildeward ergab sich der Vorteil, dass sein Bistum einen Großteil des ekkehardinischen Allodialgutes [Privatvermögen einer fürstlichen Familie] als Ausstattung übertragen bekam und er damit die dürftige Gründungsausstattung Kaiser Ottos I. deutlich aufbessern konnte.“ (Ludwig/Kunde, S. 7 f.) Im Grunde also eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten und nicht nur der Grundstein für den Bau des Naumburger Domes, sondern ebenfalls Wurzel für eine über zweihundert Jahre andauernde Rivalität mit Zeitz, das (trotz etabliertem Kollegiatstift) stets bemüht war, die Entscheidung von 1028 rückgängig zu machen, Urkundenfälschungen inklusive. Dass man sich auch beim Kirchenbau versuchte gegenseitig auszustechen, erscheint dabei fast folgerichtig. Doch auch hier gelang mit der Anwerbung des sogenannten Naumburger Meisters ein Geniestreich. Vielleicht einer der Gründe, sich schlussendlich bei den Rivalitäten großzügig zu zeigen und, wiederum kaiserlich und päpstlich sanktioniert (1236/37), dem Zeitzer Propst Stimme und Sitz im Domkapitel zu gewähren, womit auch die direkte Beteiligung an der Bischofswahl verbunden war. Zudem verlegten die Bischöfe ihre Residenz Ende des 13. Jahrhundert nach Zeitz zurück, wiewohl Naumburg weiterhin Bistumssitz blieb.

3 – Für die Erinnerung

Ein Bischofssitz verdient nichts anderes als eine angemessene Domkirche. Darum wurde wohl bereits kurz nach dem erfolgreichen Bistumstransfer mit dem Bau begonnen. Archäologische Untersuchungen gehen von einer dreischiffigen und kreuzförmig angelegen frühromanischen Basilika aus, mit einem quadratischen Chor im Osten und einem Westwerk mit quadratischen Türmen. 1044 soll (laut der Chronik des Thietmar von Merseburg) die Weihe erfolgt sein. Die Domkirche führte fortan das Patrozinium der Apostel Petrus und Paulus. Über die Ausstattung des ersten Doms kann nur spekuliert werden. Anhand von Quellen (Anniversarien und Nekrologien) lässt sich jedoch rekonstruieren, dass dort schon früh Begräbnisse durchgeführt wurden und der Bau damit der „memoria“ diente, also sowohl eine Gedächtnisfunktion für die Lebenden als auch für die Verstorbenen erfüllte. So fand u. a. Uta von Ballenstedt (gest. 1046), Ehefrau von Markgraf Ekkehard II., hier die letzte Ruhe. Das Grab ihres Gemahls, der ebenfalls 1046 verstarb, wird auch im Dom vermutet, allerdings kommt dafür auch das Benediktinerkloster St. Georg bei Naumburg (das Hauskloster der Markgrafen von Meißen) in Betracht. Gleiche Unsicherheit gilt für die Bestattungen von Ekkehards Bruder Hermann und seiner Ehefrau Reglindis, einer polnischen Prinzessin aus der Familie der Piasten.

Das Quartett zählte nicht nur zu bedeutenden Förderern des Doms, sondern wurde auch in Form von Stifterfiguren verewigt, die zum Zuge der Errichtung des frühgotischen Westchores um 1245/50 unter dem Episkopat von Dietrich II. (1243-1272), Halbbruder des wettinischen Markgrafen Heinrich des Erlauchten (1218-1288), entstanden. Der Naumburger Dom wurde infolgedessen zu einer Doppelchoranlage, „mit einem basilikalen Langhaus und einem dreijochigen östlichen Querhaus […]. Zwei spätromanische Türme flankieren den Ostchor. Ihre Hauben wurden im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts aufgesetzt. Die Westtürme hingegen entstanden sukzessive sei dem 13. Jahrhundert, wobei der Südwestturm erst im 19. Jahrhundert vollendet worden ist.“ (Kunde, S. 165) Sicherlich dürfte das Bedürfnis nach Repräsentation bei den Umbauten eine Rolle gespielt haben, aber auch der Gedanke, den aus Sicht des Domkapitels wichtigsten Stiftern nicht nur namentlich, sondern auch visuell ein Zeugnis der „memoria“, der Erinnerung, zu setzen. Da die Ehen der beiden Ekkehardiner, wie bereits erwähnt, kinderlos geblieben waren, galt ihr Engagement für den Dombau schon zu Lebzeiten als wichtiges Gedächtniszeugnis für die Nachwelt, um dadurch nach christlichen Vorstellungen am Tag des Jüngsten Gerichts an der Erlösung teilhaben zu können.

4 – Ins Unten

Bevor die Besucher in die baulichen und kunstgeschichtlichen Besonderheiten des 13. Jahrhunderts eingeführt werden, erfolgt jedoch zunächst eine Visite des Ostchors, dem liturgisch wichtigsten Kirchenpart (Ort der Messen, Stundengebete, Versammlungsort des Domkapitels), beginnend mit seiner Krypta (der Unterkirche). Bei dieser handelt es sich um den ältesten Teil des Naumburger Doms. Wie selbstverständlich scheint hier inmitten von Säulen mit Ranken- und Blattwerkkapitellen die Romanik (der älteste Teil des Doms) mit den gotischen Erweiterungen des Chors (ab 13. Jahrhundert) ineinander überzugehen. Einzig die Höhe der Kreuzgratgewölbe (tiefliegend und gedrungen in der Romantik; hoch aufschießend in der Gotik) sowie die Form der Säulen (einzeln und schlicht in der Romanik; fünffach-Säulen in der Gotik) geben auf den zweiten Blick Auskunft über die wechselhafte Baugeschichte.

Der Abstieg in die aus drei Teilen bestehende Krypta ist duster. Man hat bisweilen den Eindruck, das Gebäude verlassen zu haben und in ein anderes Reich, ins Unten, eingetreten zu sein. Dieser Eindruck wird verstärkt, ergibt sich die seltene Gelegenheit, allein durch das von Licht- und Schattenspiel durchdrungene Gewölbe zu streifen. Wie von fern hallen dann die Stimmen der Besucher heran, ein mehr und mehr verblassendes Flüstern. Und über dem Flüstern liegt ein Rauschen, das an gefangenen Wind erinnert, ähnlich, als würde man eine Muschel an sein Ohr halten und das Meer hören, nur, dass man sich hier innerhalb der Muschel befindet. Doch statt Grusel ist es eher Ruhe, die den Betrachter umfängt, und es ist leicht, sich vorzustellen, dass hier an dieser Stelle der Anfang des Steins liegt. Alles darum herum ist Geschichte. Geschichte, die nach oben strebt.

Blickt man zum Ende der Krypta, dort wo sich über dem Stein der Altarbereich des Chors ausdehnt, findet man sich im wahrsten Sinne des Wortes offenen Auges mit einem Kruzifix aus dem 12. Jahrhundert gegenüber. Es zeigt Jesus als Triumphator über Leben und Tod, nicht die in späterer Zeit übliche Darstellung von Jesus als Schmerzensmann. Dieser Jesus trägt keine Wundmale, hält die Arme waagrecht und die Beine parallel. Sein Blick scheint zu sagen, ich habe gesehen, ich sehe, ich werde sehen, und man hat beinahe das Bedürfnis, dabei lächeln zu wollen, aber nicht ängstlich, sondern ein Lächeln mit der Gewissheit des Augenblicks. Fast könnte man meinen, dass die Schlusssteine im gotischen Kreuzgratgewöbe, die fratzenhafte Tiere zu zeigen scheinen, ebenfalls herablächeln. Aber es ist zu dunkel und die Kamera, mit Blitzlichtverbot, vermag die Schatten nicht einzufangen.

5 – Die Sprache des Steins

Die Rückkehr ins Kirchenschiff erscheint erneut wie ein Übergang oder Weltenwechsel. Der Trubel ist zurück, ebenso wie das Licht, und die Erkundung wird fortgesetzt. Wir bewegen uns weiter im lebendigen Stein. Gebaut wurde im Naumburger Dom (ähnlich wie bei vielen anderen Kirchengebäuden) mit Unterbrechungen fast immer. Veränderung ist Teil der Zeit. Und das Oben und das Unten lösen sich seltsamerweise beim Gehen und Bestaunen allmählich auf bzw. wird es zu einer Frage des Blickwinkels, zu dem, was uns die stoischen Augen des Steins zeigen oder verschließen.

Wie mag es zugegangen sein im Dom vor fünfhundert oder mehr Jahren? Wie bunt waren die Mauern, die Pfeiler und die zahlreichen Altäre im Langhaus, die heute meist nicht mehr existieren oder uns in abgewaschenem Grauweiß und in vereinzelt verblassten Farben entgegenleuchten? Über wie viele mit kunstvollen Platten verzierte Gräber, die im Inneren von Kirchenräumen häufig in den Boden eingelassen waren, sind Angehörige des Domkapitels und Gottesdienstbesucher geschritten? Fragen, bei der die Vorstellung an ihre Grenzen stößt. Und dann prallen die Augen doch an reale Grenzen, an die Lettner, jene architektonischen Schranken, die das Kirchenschiff des Doms (so wie die Krypta) in drei Teile gliedern (Ostchor, Langhaus, Westchor) und früher die Laien von den Angehörigen der Kirche separierten. Der Ostlettner, der um 1230 errichtet wurde, ist heute der älteste Hallenlettner deutschlandweit. Noch immer spürt man die (auch reale) Düsterkeit dieser besonderen naumburgischen Dreiteilung und weiß als Besucher zunächst nicht so recht, wohin man sich wenden soll. Nach Osten, und damit der Sonne, dem Hauptaltar und dem gekreuzigten, in sich gekehrten und leidenden Jesus entgegen? Oder doch noch Westen, wo ein weiterer Jesus am Kreuz sehr viel direkter auf die Besucher hinabblickt?

6 – Nach Westen

Die Domführung hat beim Rundgang die Ost-West-Abfolge gewählt und es beruhigt seltsamerweise, die Frage nach der Himmelsrichtung eine gute Stunde lang nicht für sich selbst beantworten zu müssen. Was bleibt, ist aber die Erkenntnis, dass der Westteil mit Westlettner und Westchor im Vergleich zu seinem Gegenüber (wiewohl sich hier neben den Apelschen Handläufen, der inschriftenlose Grabplatte eines Bischofs oder dem spätgotischen Dreisitz mit den Darstellungen von Petrus, Paulus und Jesus als salvator mundi [Erlöser der Welt], u. a. ein Kapitell findet, das zwei auf Stühlen hockende und Schach spielende Affen zeigt) den imposanteren Part darstellt und auch einer der Gründe ist, weshalb der Naumburger Dom seit 2018 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Sogar den großen Brand des Jahres 1532 hat dieser Kirchenpart überstanden, trotzdem es zu schweren Schäden an den Stifterfiguren und an den Fassaden kam. Ein Schweißtuch, zu dem ein besonderer Kult samt Ablass überliefert ist, überstand das Wüten der Flammen nicht. „Wahrscheinlich konnte das Feuer nicht oder nur marginal auf das Langhaus übergreifen, da der Westlettner diesen Bereich wie eine Brandmauer abschirmte. Der Legende nach war es eine wundertätige Madonna, die auf dem Westlettner stand, die das Feuer aufhielt, indem sie ihren Mantel darüber ausbreitete und die Flammen erstickte.“ (Ludwig/Kunde, S. 86)

Mondsichel-Madonna (um 1500), bis 1746 auf dem Westlettner

Eine Lindenholz-Skulptur der Gottesmutter im Strahlenkranz (Mondsichel-Madonna), die sich bis heute erhalten hat und bis 1746 über dem Eingang zum Westchor aufgestellt war, dürfte für die Legende Pate gestanden haben. Ihr Lächeln und ihr Blick wirken monoton entrückt und doch seltsam nachsichtig zugleich. Es ist dieses überirdische Lächeln, das häufig (wenn es in der mittelalterlichen Kunst dargestellt oder angedeutet ist) von einer eingefroren wirkenden Gelassenheit respektive einer Erkenntnis kündet, die dem Betrachter (noch) entzogen ist, welche aber auf ihn wartet, sofern er ein gottgefälliges Leben führt und in diesem gottgefällige Werke tut. Es ist ein Lächeln, das mich oft irritiert und ob seiner, wenn auch nicht räumlichen, so doch einer gewissen metaphorischen Entfernung frustriert. Dagegen wirkt der Besuch des Naumburger Westchores so nahbar und wirklich, als würde man alten, in der Zeit erstarrten Bekannten begegnen. Ähnlich hat es der Schriftsteller, Philosoph und Semiotiker Umberto Eco (1932-2016) einmal ausgedrückt: „Wenn Sie mich fragen, mit welcher Frau in der Geschichte der Kunst ich essen gehen und einen Abend verbringen würde, wäre da zuerst Uta von Naumburg.“ (zitiert in: Schumann, Große Zeit starker Frauen) In der Tat hat man den Eindruck, dass die zwölf überlebensgroßen Stifterfiguren von einem Augenblick zum anderen die Köpfe neigen, um mit den Anwesenden unter ihnen ins Gespräch zu kommen. Was würden sie wohl sagen? Vielleicht könnten sie uns von ihrem Schöpfer berichten, der namenlos geblieben ist, aber auf der europäischen Landkarte des 13. Jahrhunderts dennoch seine steinernen Fußabdrücke hinterlassen hat.

7 – Lächelnd in den Osten

Gern heben die Besucherführer im Dom hervor, dass der sogenannte Naumburger Meister im 13. Jahrhundert an diesem Ort sein wahres Meisterwerk geschaffen hat. Unter der Bezeichnung wird in der kunsthistorischen Forschung ein anonymer Bildhauer und Architekt mitsamer seiner Werkstatt bezeichnet. „Trotz aller Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, Quellen zu entdecken, die über die Identität des Meisters und seine Persönlichkeit näheren Aufschluss vermitteln würden. […] Es gelingt ihm, nicht nur Realien wie Schmuck, Bewaffnung und Bekleidung derart in Stein zu gestalten, dass man die originale Beschaffenheit der unterschiedlichen Materialien zu verspüren meint, sondern auch die Körperlichkeit unter den Gewändern so hervortreten zu lassen, als hätte man tatsächlich Menschen aus Fleisch und Blut vor sich.“ (Ludwig/Kunde, S. 21 f.) Es ist eben diese Lebendigkeit, die gleichermaßen fasziniert, verstört und zum Verweilen einlädt. Die Wurzeln hierfür liegen, ausgehend von der Universität Paris, in der sich ausbreitenden Scholastik begründet, welche sich, gestützt auf die Rezeption der Werke des Aristoteles, nicht allein auf Philosophie und Theologie beschränkte, sondern mit ihrer Erweiterung des Schöpfungsbegriffs und des Wissenschaftsverständnis maßgeblich Einfluss auf den Kathedralbau besaß. Das Äußere (Gestalt) und das Innere (Eigenschaften) fanden in der Bauplastik ihren Ausdruck. Die Figuren wirkten beseelt und nahbar.

Besonders markant ist mir die neue Lebendigkeit zum einen an den Figuren der Uta und der Reglindis aufgefallen, zum anderen an den Figuren rund um die Passion Christi auf dem Westlettner. Wie die übrigen Stifterfiguren handelt es sich bei diesen nicht um Einzelwerke, die nachträglich auf ihren Platz im Chor montiert wurden. Sie tragen vielmehr die Säulen, aus deren Stein man sie erschaffen hat, und die Säulen tragen sie.

Reglindis

Verschmitzt, vielleicht sogar herausfordernd lächelt Reglindis (um 989-1016), Tochter des polnischen Piasten-Königs Bolesław I. Chrobry, deren Identität im Ensemble durch eine Urkunde aus dem Jahr 1249 als gesichert gilt, mit geschlossenen Lippen. Sie wirkt heiter, mit femininer Grazie und einer selbstbewussten Gewissheit. Ob dies darin begründet liegt, dass sie als Stifterin Anrecht auf das ewige Leben erworben hat oder dies einem höfischen Selbstverständnis geschuldet ist, bleibt dem Auge des Betrachters überlassen. Gegen die Heiterkeit wirkt die auf der gegenüberliegenden Westchorseite positionierte Uta von Ballenstedt (um 1000-1046), aus dem Geschlecht der altsächsischen Askanier (ihre Herkunft wurde im 16. Jahrhundert rekonstruiert, da zeitgenössische Quellen fehlen), ernst, würdevoll und je nach Perspektive entweder melancholisch, distanziert, ja in ihrem schwer zu erahnenden Lächeln beinahe ein wenig herablassend.

Uta

Einigermaßen unrühmlich diente sie als Vorlage für die böse Königin im Schneewittchen-Film von Walt Disney aus dem Jahr 1937. Die Nationalsozialisten wiederum missbrauchten ihr Aussehen und ihre Ausstrahlung, um sie als Ikone der deutschen Frau zu stilisieren. Weder das eine noch das andere trifft zu. Uta von Naumburg ist einfach Uta von Naumburg. Alles Übrige ist das Urteil, besser vielleicht: die jeweilige Interpretation der Zeiten, die sie überdauert hat.

Interessant fand ich, dass die beiden Stifter-Ehegatten Hermann und Ekkehard II. die Stimmung ihrer Gemahlinnen zu spiegeln scheinen (oder ist es umgedreht?). So wirkt Ekkehard II. gesetzt, sich seiner Stellung und der damit verbundenen Aufgaben als Markgraf des Reiches gewusst, fast schon etwas skeptisch, während Hermann einen verträumt-abwesenden Blick zeigt und man sich unwillkürlich fragt, woran er wohl gerade denken mag.

In kaum einer Kirche habe ich solange in die Höhe geschaut wie bei meinem Besuch im Naumburger Dom; ich konnte mich dabei des einen oder anderen kleinen Lächelns nicht erwehren. Was meine Neugier erneut zum Naumburger Meister führte, dessen Wege und Werke eine Ausstellung in der Westklausur des Domgeländes ausführlich beleuchtet.

Der Weg des Naumburger Meisters

Die Forschung konnten die Ursprünge seines Werdegangs bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts in der Krönungskathedrale der französischen Könige in Reims zurückverfolgen, einem der „größten und innovativsten Kathedralbauten Europas“ (Ludwig/Kunde S. 22), Vorbild in seiner Harmonie und seiner Ausgewogenheit von Architektur und Skulptur. Weitere Stationen des Meisters waren Noyon (nördlich von Paris) sowie Coucy (Picardie). Bei letzterem weisen die Ausstattung des imposanten Donjons (Wohn- und Wehrturm) seine Handschrift auf. Es folgten u. a. Metz, Mainz und vermutlich Gelnhausen, bevor er schließlich nach Naumburg fand. Eine stete Wanderung von West nach Ost. Wann genau die Beauftragung (vom Naumburger Bischof Dietrich II.) erfolgte und welche Motive dahintersteckten, ist nicht gesichert. Es darf aber vermutet werden, dass – auch im Angesicht des Dauerstreits mit Zeitz – der Gedanke an eine historische, theologische und memoriale Legitimation des Bischofssitzes eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. Dafür spricht auch eine Urkunde aus dem Jahr 1249, welche die „Erststifter“ des Doms, neben dem markgräflichen Quartett einen Graf Sizzo, Konrad, Wilhelm, Dietrich (von Brehna) sowie eine Gräfin Gerburg (Ehefrau von Dietrich) sowie Berchta und Gepa/Adelheid von Gernrode (die Namen sind auch durch Inschriften auf den Stifterfiguren erschlossen) benennt und zudem alle „Nachfolgenden, die durch Spendenabgaben für den Bau des Stifts […] beitragen haben und beitragen“. (Ludwig/Kunde, S. 25)

Bei den Erwähnten handelt sich um Angehörige von Adelshäusern, die im Thüringer Raum ansässig waren. Ihre Gesichtsausdrücke, die durchweg kein Lächeln zeigen, reichen von feierlichem Ernst, zorniger Entschlossenheit bis hin zu einer in Stein gehauenen Bitte um Nachsicht. Es scheint fast, als seien die Mienen der Stifterfiguren auch Spiegelbild der für ihre Zeit am wichtigsten erachteten menschlichen Emotionen.

Anstelle von elf urkundlich dokumentierten Stiftern sind im Westchor des neuen Doms zwölf in Stein verewigt worden. Unter den Figuren lässt sich per Schildumschrift noch ein Thimo von Kystritz identifizieren, der in der Quelle von 1249 nicht erwähnt wird; „zugleich ist in der Urkunde eine weibliche Person genannt, die nicht im Westchor dargestellt worden ist“. (Ludwig/Kunde, S. 26) Über die Gründe lässt sich spekulieren. Vermutlich lag es am Ende auch schlicht an der Zahl. Zwölf entspricht der Anzahl der Apostel, was einmal mehr das Irdische und das Himmlische auf eigentümliche Weise miteinander in Verbindung setzt. Interessant ist auch, dass die salischen Kaiser, die im 11. Jahrhundert zahlreiche Schenkungen an das Bistum durchführten, weder als Stifter Erwähnung fanden noch für die bildlichen Darstellungen berücksichtigt wurden.

8 – Nah an Mensch und Natur

Erst auf den dritten Blick fällt zudem auf, dass die Präsenz von weltlichen, in Stein verewigten Figuren in einem Kirchenchor doch recht ungewöhnlich anmutet. Das Kreuzrippengewölbe des Doms trägt sein Übriges an Atmosphäre bei. Und dann ist da auch noch der Westlettner (ein Mauerlettner) mit seiner achtteiligen Relief-Darstellung der Passion Christi sowie einer ans Kreuz geschlagenen Christusfigur (von je einer Seite betraut durch Maria und Johannes), die so nah über dem Eingang zum Chor hängt, dass man fast Angesicht in Angesicht mit dem Körper und dem Gesicht des Leidenden ist, ja, ihn sogar berühren könnte. Es hinterlässt ein merkwürdiges Gefühl, unter diesen halb geschlossenen und dabei viel zu wissend wirkenden Augen hindurchzugehen, und doch bewirkt eben diese Nähe, dass die für das Christentum so essentiellen Passionsgeschichte nicht fern entrückt wirkt, wie ich bisher – wiewohl aus der Perspektive des Atheisten – häufig bei Kirchenbesichtigungen den Eindruck hatte. Auch dieser Eindruck ist dem Wirken des Naumburger Meisters geschuldet. „Hinzuweisen ist hier etwa auf den völlige Verzweiflung ausdrückenden Gesichtsausdruck des Verräters Judas bei der Entgegennahme der 30 Silberlinge oder den gehetzten Blick des Petrus bei der Verleugnung. “ (Ludwig/Kunde, S. 32)

Im Bild, das den mit Kreuznimbus dargestellten Jesus vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus zeigt, wirkt Ersterer erhaben schweigend, mit gleichzeitig entrücktem wie um sein Schicksal ahnenden Blick, während Letzterer mit geöffnetem Mund dargestellt ist, sein Gesichtsausdruck zweifelnd und doch entschieden ob der Verurteilung. Dabei wäscht er die linke Hand in Wasser und damit symbolisch in Unschuld. Keine Lettnerfigur gleicht hier von Körper und Ausdrucksweise her der anderen. Noch eine Faszination, für die man sich Zeit nehmen sollte, auch um die verschiedenen Details mit der Kamera festzuhalten. Die eingerahmten Reliefs der Passionsgeschichte wurden, ebenso wie die Stifterfiguren, nicht einzelnen hergestellt und dann in den Lettner eingesetzt, sondern bis zu 30 cm tief aus dem Stein herausgearbeitet. Zudem haben sich, auch Dank der Restaurierungen, noch Teile der farbigen Ausmalungen erhalten, was ebenfalls zur Individualität der Bilder beiträgt.

Kapitell Westlettner

So einzigartig und detailliert wie die menschliche Physiologie, so präzise hat der Naumburger Meister auch die Natur, u. a. in Form von Blättern und Ranken an den Schlusssteinen im Westchor oder an Teilen der Arkaden im Westlettner, wiedergegeben. Sein Werk wirkte künstlerisch auch in der Johanneskapelle auf dem Domfriedhof nach, deren Kapitelle die Darstellungen von Efeu, Hopfen, Wein, Eiche, Hahnenfuß, Anemone und Heckenrosen zeigen. Eine steinerne Sammlung, die man im Domgarten – der zu einem Spaziergang einlädt und auch einen Eindruck von der Weitläufigkeit der Anlage vermittelt – in natura wiederfinden kann. Darüber hinaus herrscht hier im Gegensatz zum doch recht trubeligen Dom eine Ruhe, die beinahe idyllisch und aus der Zeit gefallen anmutet. Ein guter Ort, sich zu erden, die Eindrücke der Domführung einsinken zu lassen und hernach nochmals den Spuren der Neugier zu folgen.

9- Mehr Details

Chorbuch

Weit mehr noch ließe sich über den Naumburger Dom erzählen. Der Stein kennt viele Geschichten. Im 16. Jahrhundert etwa beherbergten die Gebäude sowohl die protestantische Gemeinde als auch das katholische Domkapitel. Grund dafür war der verheerende Brand von 1532, dem die Marienkirche – der ursprüngliche Pfarrort der lutherischen Gemeinde – zum Opfer fiel. Bis zur Auflösung des Domkapitel blieb diese „hybride Sonderstellung“ bestehen. Und trug auch danach recht kuriose Blüten. So übernahm man Teile der „altgläubigen“ Liturgie, wie etwa die Nutzung der Chorbücher inkl. der Chorgesänge. „Trotz immer wieder unternommener Anstrengungen zur Einstellung der ‚römischen‘ Liturgie, die nach Ausweis der Kapitelprotokolle auch von einzelnen Domherren unternommen worden waren, hielten die für die Horenfeiern [hore > Teil des Stundengebets] verantwortlichen Vikare bis in das 19. Jahrhundert an den alten lateinischen Gesängen fest.“ (Ludwig/Kunde, S. 85) Endgültig abgeschafft wurden sie erst 1874. Die Chorbücher, die ursprünglich auf taubenhausähnlichen Pulten ruhten, sind heute in Domstiftsbibliothek und Domschatzgewölbe ausgestellt.

Naumburger Atzmann, um 1239

Auch den imposanten Glasfenstern (teilweise aus dem 13. und 14. Jahrhundert) sollte man einen Blick gönnen. In der an den Westchor angeschlossenen Elisabethkapelle (geweiht der Heiligen Elisabeth von Thüringen, 1207-1231) sind vom Künstler Neo Rauch 2007 gestaltete Fenster zu sehen, die Szenen aus deren frommen Leben zeigen. Ein weiteres Highlight für mich ist der Atzmann etwa aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, ebenfalls gestaltet vom Namburger Meister. Damit ist er der älteste Atzmann der Welt. Beim Atzmann handelt es sich um eine Figur in diakonischen Gewändern, die als Lesepult fungierte. Mit offenem Blick fordert das Naumburger Exemplar seinen potenziellen Benutzer auf, sich von Wissen und Neugier leiten zu lassen. Etymologisch ist der Begriff „Atzmann“ übrigens identisch für die Bezeichnung einer Stellvertreterpuppe (auch Rachepuppe oder Atzelmann genannt) beim magischen Schadens-(Bild)-zauber. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

10 – Und zum Schluss: Der Blick nach oben

Den Naumburger Dom mit einem einzigen Besuch erkunden zu wollen, ist eine Illusion. „Die Gesamtausdehnung des Kirchenbaus beträgt von Ost nach West etwa 100 Meter.“ (Ludwig/Kunde, S. 69) Zu viele Eindrücke sind es, welche Aufmerksamkeit fordern, zu viel ist es auch, an dem man blind vorüberlaufen muss. Und so richte ich einen letzten Blick nach oben und entdecke sie überall an den Türmen und Fassaden: die Wasserspeier. Mönche sind darunter, Nonne, Stiere und dann wieder phantastische Wesen wie Greife oder andere Mischwesen. Unheil sollen sie abwehren mit ihren weit aufgerissenen Mündern und Mäulern, und es fällt nicht schwer, sich ob der Aufgabe das Grinsen des Apelschen Teufels vorzustellen. Bestimmt wissen sie auch die eine oder andere Geschichte zu erzählen, so hoch oben zwischen Himmel und Erde. Aber hier in Naumburg bleiben sie stumm und überlassen das Dazwischen den Gedanken der Betrachter. An einem anderen Ort verstehen sie hingegen sehr wohl zu sprechen. Aber das ist eine Geschichte für andere Steine.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm


Literaturhinweise:

Heinz Wießner. Naumburg. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 6. Metzler, Stuttgart 2000, Sp. 1055-1057.

Holger Kunde. Naumburg – Dom St. Peter und St. Paul. In: Christian Antz (Hrsg.), Sieben Dome, Architektur und Kunst Mittelalterlicher Kathedralen, Verlag Janos Stekovic, Wettin 2009, S. 160-187.

Ludwig Schumann. Große Zeit starker Frauen. Unterwegs auf der Straße der Romanik. BuchVerlag für die Frau, Leipzig 2013.

Matthias Ludwig/Holger Kunde. Der Dom zu Naumburg. 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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