Zu den zentralen Elementen einer Mythologie der Sinti und Roma gehört der weitverbreitete Kult des reinigenden Feuers, auch im Zusammenhang mit der Sonne, vom Sonnenkönig als Sohn von Himmel und Erde wie auch das symbolträchtige Sonnenrad. Die mysteriöse Herkunft der Sinti und Roma stellt ein weiteres mythologisches Kernelement dar. Erst mit Hilfe des Sprachvergleichs des Romani bzw. Romanes mit anderen, in erster Linie indischen Sprachen, konnte die Herkunft der Sinti und Roma geklärt werden.
Entsprechende Untersuchungen ergaben u.a. eine besondere sprachliche Nähe zum Sanskrit. Das heutige Romani weist eine Vielzahl sich zum Teil wesentlich voneinander unterscheidenden Dialekten auf. Das wahre Herkunftsland umfasst Teile des heutigen Indiens und Pakistans, das die Sinti und Roma durch Kriege, Verfolgung und Vertreibung verlassen mussten. Die mythische Herkunft aus Ägypten konnte inzwischen weitgehend widerlegt werden, ihr kommt allerdings in den Geschichten nach wie vor eine große Bedeutung zu. Für das Mythologische, für die Mythologie gilt es, mehr noch als für die Kultur und Literatur, zu berücksichtigen, dass wir es mit einer mündlichen Weitergabe von Überlieferungen und Erzählungen zu tun haben. Allein schon aus diesem Grund gibt es nur wenige, oft von Nicht-Roma „eingefärbte“ Quellen. Hinzu kommt, dass sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Sinti und Roma zunächst vorrangig auf ihre Kultur und Literatur und die Erforschung ihrer Sprache beschränkte. Als Fahrende, als umherziehende Nomaden hatten die „Zigeuner“ keine eigene Heimstatt mehr, wurden sie in Folge eines verhängnisvollen Gottesurteils über die gesamte Erde verstreut. Das geschah Überlieferungen zufolge, als Gott auf einer Versammlung den einzelnen Völkerschaften ihre zukünftig einzuschlagenden Wege in ihre Heimatländer zuwies.
Die Sinti und Roma, die hinter Gott standen, wurden aus diesem Grunde von ihm nicht wahrgenommen. Seitdem müssen sie heimatlos umherziehen und mit Hilfe von Bitten und Betteln, von Wahrsagerei und schwarzer Magie, aber auch durch ihr überaus handwerkliches Geschick ihren Lebensunterhalt bestreiten. Voreilig wurden die „Zigeuner“ nicht nur als ein umherziehendes, heimatloses Volk stigmatisiert, man sprach ihnen auch ab, eine eigene Kultur, einen eigenen Glauben zu besitzen, stigmatisierte sie immer wieder als ein schriftloses und kulturloses Volk bar jeglicher Moral. Ihr angeblich zutiefst „heidnisches Verhalten“ gab Anlass genug, sie auszugrenzen und zu verfolgen. Die Schriftlosigkeit selbst gilt bei den Sinti und Roma als ein auf ihrem Volk lastender Fluch, der auf eine von den Ahnen begangene Sünde zurückzuführen sei. Es handelt sich dabei um einen noch in Indien begangenen Inzest ihres Stammesoberhaupts. Wegen dieser „Blutschande“ sprach deshalb ein Zauberer und Magier einen Fluch aus: Das „sündige Volk“ der Sinti und Roma solle aus diesem Grunde zeitlebens über die Erde ziehen, nie zweimal am selben Ort nächtigen, nie zweimal aus der gleichen Quelle trinken und im Verlauf eines Jahres nicht den gleichen Fluss überqueren.
Eng mit den mythischen Erzählungen der Sinti und Roma verbunden ist die bei fast allen osteuropäischen Roma-Gruppen weit verbreitete alte Pharao-Legende, die davon berichtet, dass in der „ersten Welt“ der Stamm der von Pharavono angeführten Pharavunuren lebte, der zu den Ahnen der Sinti und Roma, aber auch der ganzen Menschheit gehören soll. Es waren fast ausschließlich negativ konnotierte christliche Erzählungen, die gleichfalls eine vermeintliche ägyptische Herkunft der Sinti und Roma nahelegten. Eingebettet in die christlichen Erzählungen gehört u.a. die angebliche Beteiligung der Sinti und Roma an der Kreuzigung von Jesus Christus; sie war ein weiterer Grund, dass die „Zigeuner“ zur Strafe über die ganze Welt verstreut wurden. Hinzu kommt das deutliche Züge eines apokryphen Christentums tragende „Zigeunerevangelium“, welches die Pharaolegende als einen vermeintlichen Ursprungsmythos der Sinti und Roma ebenso wie die Sintflutnthält, die zum Untergang der „ersten Welt“ führte. In diesem „goldenen Zeitalter“ lebten die Menschen noch ohne Sorgen, ohne Kummer, Krankheit und Tod. Dabei scheint bei Sturmflut den Sinti und Roma eine Verbindung zur altindischen Sage von einer verheerenden Überschwemmung durch Vishnu, der zweiten Gottheit der hinduistischen Dreifaltigkeit und seiner ersten Inkarnation als Fisch gegeben zu sein.
Eine andere, eng mit Ägypten verbundene Erzählung berichtet, dass die „Zigeuner“ als ein Volk des Pharaos auch beim Auszug der Juden aus Ägypten und ihrem Durchzug durch das Rote Meer beteiligt waren. Angeblich blieben die Sinti und Roma tatenlos am Meeresufer stehen, ohne Hilfe zu leisten. Daraufhin kam plötzlich ein heftiger Sturm auf und zerstreute sie über die ganze Welt. Eine andere Erzählung besagt, dass es Gott war, der die Sinti und Roma zu einer Existenz als „Fischmenschen“ verurteilte. Zu weiteren Versuchen, das unstete Schicksal der Zigeuner mit ihrer Herkunft aus Ägypten in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen, gehört eine Überlieferung, nach der die „Zigeuner“ der Heiligen Familie auf der Flucht aus Ägypten Herberge und Gastfreundschaft verweigert hätten. Überdies beinhaltet die Pharaolegende auch die offensichtlich vom Christentum beeinflusste Narration von einer „neuen Welt“ bzw. „Ära“, die mit der Geburt eines „göttlichen Kindes“ angebrochen sei. Erst mit großer Verspätung wurde versucht, die teilweise weit in die mythische Vergangenheit zurückreichenden Überlieferungen und Legenden in einer gewagten Gratwanderung zwischen Facta und Ficta zu rekonstruieren und schriftlich festzuhalten. Dabei gewann die eigene Sprache der Sinti und Roma, Romani bzw. Romanes, die von einem mündlichen Idiom zur Literatursprache avancierte, für eine nunmehr als authentische angesehene Literatur an Bedeutung. Die Roma betrachten ihre mündliche Erzähltradition bisher auch als einen Fluch. So berichten mythische Erzählungen von einem gewissen Gesandten Gottes, der ihnen in der alten indischen Heimat vor den Fremden geheim zu haltende Gebote in einem heiligen Buch überreichte. Als die Sinti und Roma gezwungen waren, ihre angestammte Heimat zu verlassen, sollen dort angeblich vier heilige Bücher verblieben sein, die bis heute als verschollen gelten. Eine weitere Erzählung berichtet, dass Gott vom Himmel zu den Roma auf die Erde niederkam, um ihnen ein eigenes Alphabet zu schenken. Allerdings traf er dort nur eine einzige Person an, einen alten Mann mit seinem Esel. Alle anderen Sinti und Roma waren auf den Feldern, und so überreichte Gott dem Alten das auf einem Kohlblatt festgehaltene Alphabet, das allerdings der Esel augenblicklich auffraß. Damit wird in den Überlieferungen erklärt, weshalb die Roma ohne eine eigene Schrift verblieben. Was die Auffassung von Gott als höchstes aller Wesen betrifft, findet sich bei allen Roma-Stämmen die Bezeichnung „devel“ bzw. „del“, sie bezeichnet im Romani bzw. Romanes all das, was sich über der Erde befindet: Himmel, Wolken, Sonne und Gott.
Kulturgeschichtliche, gesellschaftliche wie auch politische Bedingungen waren ausschlaggebend dafür, dass das Eigene der Sinti und Roma vor Fremden mit größter Vorsicht und Ängstlichkeit behütet wurde. So kam die Weitergabe der Sitten, Bräuche, der Kultur und Erzählungen einem Tabu gleich. Ein Verstoß dagegen wurde als Frevel, als Verrat am eigenen Volk angesehen und dementsprechend bestraft. Dazu zählten zumeist auch Informationen und Interpretationen „fremder“ Ethnologen, Kulturhistoriker und Soziologen, die vielfacht zur Verfestigung negativer „Zigeunerbildern“ beigetragen hatten. Zu ihnen gehörten zuvorderst die „Zigeunerexperten“ der Nazis wie auch zahlreiche den Sinti und Roma gegenüber feindlich eingestellte Nationalisten unterschiedlicher Couleur. All jene Roma und Sinti, die einen derartigen Frevel, einen „Verrat“ am eigenen Volk begingen, wurden aus der eingeschworenen Gemeinschaft der Sinti und Roma ausgeschlossen. So ging es u.a. der Roma-Sängerin und Schriftstellerin Papusza aus Polen, deren Namen eigentlich Bronisława Wajs (1910-1987) lautet. Papusza (die Puppe), die sich selbst immer wieder stolz als „Zigeunerin“ bezeichnete, trug maßgeblich zu einer Aufwertung, zu einer positiven Neubesetzung des stark belasteten, klischeehaften Begriffs „Zigeuner“ bei, der heute zum Teil auch von einer Minderheit der Sinti und Roma verwendet wird.
Das ungebrochene, wachsende Interesse an den Sinti und Roma zeigt sich auf vielfältig Weise: in zahlreichen Forschungsprojekten u.a. an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, in der Magie der sogenannten „Zigeuner“ und anderer Fahrenden, u.a. auch im Film, wie Emir Kusturicas Spielfim „Der Pate der Zigeuner“ – „Time of the Gypsies“. (1989). Verwiesen sei auf zwei Museen, das Museum der Roma-Kultur (Muzeum romské kultury) in Brno/Brünn, das auf Initiative von Roma-Intellektuellen als nichtstaatliche, gemeinnützliche Organisation im Jahr 1991 gegründet wurde; seit 2005 wird das Museum vom tschechischen Staat verwaltet. In sechs Räumen wird der Weg der Roma von Indien bis heute in einer Dauerausstellung mit dem Titel „Die Geschichte der Roma“ (Příběh Romů) nachgezeichnte. Im Ethnografischen Museum (Muzeum Etnograficzne) Tarnów in Polen gibt es seit 1979 eine Dauerausstellung: „Cyganie – Kultura – Historia“ (Zigeuner – Kultur – Geschichte)“, die aus der Zusammenarbeit des „Soziokulturellen Roma-Verbandes“ (Stowarzyszenie Kulturalno-Społeczne Romów) und dem „Roma-Kulturhaus“ (Dom Kultury Romów) hervorging. 1990 fand in Polen bei Warschau der „4. Weltkongress der Rom_nja“ statt, an dem Roma aus allen ehemals sozialistischen Ländern teilnehmen. Im Jahre 2021 erschien die „RomoKher-Studie zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland“, die auf hohe Angaben zur Diskriminierung verweist. Im Online-Feuilleton LeipzigAlmanach vom 15. Mai 2024 wird im „Büchersonntag“ die wichtige Studie von Jens Bengelsdorf „Die ‚anderen Zigeuner‘. Zur Ethnizität der Rudari und Bajeschi in Südeuropa“ (Leipzig 2009) im aktuellen gesellschaftspolitischen und kulturgeschichtlichen Kontext vorgestellt. Das Kulturmagazin „perlentaucher“ (www.perlentaucher.de) verweist auf wichtige Bücher unter dem Stichwort „Zigeuner“, die ebenso wie Kinder- und Jugendbücher (www.kinderundjugendmedien.de) zu einer weiterführenden, interessanten und aufschlussreichen Lektüre anregen.
Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
„Für das Mythologische, für die Mythologie gilt es, mehr noch als für die Kultur und Literatur, zu berücksichtigen, dass wir es mit einer mündlichen Weitergabe von Überlieferungen und Erzählungen zu tun haben.“
Das finde ich recht häufig problematisch. Es gibt in Deutschland einige Anhänger der nordischen Mythologie, manchmal sogar mit ideologischen Ideen ergänzt. Dabei wird aber selten berücksichtigt, dass es zur nordischen Mythologie auch keine schriftlichen Quellen gibt. Jetzt sagt vielleicht jemand: Doch, es gibt die Edda! Die Edda ist aber erst im frühen 13. Jahrhundert entstanden, also im Mittelalter. Da gibt es keine einzige schriftliche Quelle aus der Antike.
Achso: Missbrauch der Mythologien für ideologische Zwecke finde ich prinzipiell falsch. Wie ich erwähnte, wird die nordische Mythologie für Nationalismus missbraucht. Antike Quellen zur nordischen Mythologie gibt es dabei nicht. Leider wird auch die griechische Mythologie manchmal für Ideologien missbraucht. Dieses mythologische Hyperborea wird im Zusammenhang mit Rassentheorien missbraucht – und dies geschieht sogar noch aktuell ->
https://www.mythologie-antike.com/t60-hyperborea-ein-problematischer-ort-in-der-griechischen-mythologie-auf-dem-rassismus-grundet