Zum Ende der Welt: Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 5: „Messa Mani 2“

Näher rückten die Berge an das Meer heran, der schmale Küstensaum löste sich auf, und hoch und immer höher schraubte sich die enge Straße den Berg hinauf. Der südliche Ausläufer der Mani besteht aus steil ansteigenden Hügeln mit sanft gerundeten Kuppen, dazwischen gibt es kaum flaches Gelände, nur vereinzelt noch schmale Buchten.  Auf einer der Bergkuppen liegt Vathia. Liegt nicht, sondern steht aufrecht. Turm neben Turm, dicht an dicht, festgekrallt, schweigend, weißgrau und verlassen. Vathia ist ein Geisterdorf, nur zwei, drei Häuser am Rand der Siedlung sind noch nicht verlassen.

An einem der Türme werkelte ein Mann mit Schubkarre und Maurerkelle, als wir vorüberkamen. Einige Wohntürme sind fünfzehn bis zwanzig Meter hoch, sie haben stets einen quadratischen Grundriss und eine beachtliche Wandtiefe. In einem der aufgegebenen Türme fanden wir zerbrochenes Mobiliar und verstaubte Küchengeräte. Hier mochte bis vor einigen Jahrzehnten noch jemand gelebt haben. Lange streiften wir durch die engen Gassen zwischen den aufragenden Gemäuern. Oft trennten zwei Türme nur wenige Meter; kaum vorstellbar, dass sich verfeindete Familien über die engen Gasse hinweg mit Musketen beschossen haben sollen, in manchen Fällen sogar kleinere Kanonen eingesetzt haben, um den Nachbarturm sturmreif zu schießen. Nach einer dieser Auseinandersetzungen, bei der an die zweihundert Bewohner ums Leben gekommen sein sollen, verödete der Ort allmählich. Vathia – ein verlassener Adlerhorst. Von hier oben sah die umliegende Berg- und Tallandschaft wie eine Wüstengegend aus. Kein Baum, kein Strauch war in Sichtweite.

Wir ließen Vathia zurück, marschierten weiter auf der Straße, wir wollten die südlichste Spitze der Mani noch an diesem Tag erreichen. Nach eineinhalb Stunden und nicht mehr als drei Autos, die in dieser Zeit an uns vorbeifuhren, öffnete sich nach einer Kurve ein weiter Blick über eine zerklüftete Landschaft, eine Bucht mit Sandstrand am westlichen Rand des Landstreifens, der hier schon nur noch wenige Kilometer breit war, und steil ansteigende Hügel im Osten. Die Straße schlängelte sich zwischen diesen Hügeln hindurch, führte zuerst bergab, stieg aber schon bald wieder an. Über der Bucht, der wir uns nun näherten, klebten die Appartements einer Hotelanlage am Steilhang. Im Halbkreis angeordnet und eng beieinander, einem Amphitheater oder Bienenwaben gleich. Dahinter, auf dem höchsten Punkt des Felsens, bildeten ein dutzend Häuser das Dorf Marmári. Die Vorstellung, hinunter in diese Bucht zu gehen, im Meer zu schwimmen, vielleicht ein gekühltes Getränk zu bekommen, war verlockend. Aber wir marschierten weiter auf unserer gottverlassenen Straße. Und nach drei, vier Stunden waren wir endlich in Kokkinogia angekommen, dem letzten Ort vor dem Kap. Wir rasteten in der einzigen Taverne, saßen unter einer Pergola mit Blick auf jenen Ort, an dem sich das antike Totenorakel von Tenaro befunden hatte.

Nahe bei dieser Orakelstätte soll sich auch ein Poseidontempel befunden haben, vermutlich nicht allein das Tempelgebäude, sondern auch  Priesterhäuser und Versorgungseinrichtungen. Die Bucht von Kokkinogia müsste also vor Jahrtausenden dicht bebaut gewesen sein. Eine Ruine oberhalb der Uferzone  gilt als Überbleibsel der antiken Anlage, es dürfte sich dabei allerdings um die Reste einer postbyzantinischen Kapelle handeln. Ihre Fundamente jedoch könnten weitaus älter sein und tatsächlich den Standort jenes Poseidontempels bezeichnen.

Die malerische Ruine hat sich offensichtlich zu einer Art Wallfahrtsstätte entwickelt, sie gilt Touristen, die den Weg hierher finden, als sichtbares Zeichen des einstigen Totenorakels. Drinnen haben Besucher zahlreiche Devotionalien rings um eine Art Altar zurückgelassen: beschriebene Zettel, Münzen, einen großen Knochen, der mit Namen beschriftet worden war, bunte Bändchen, Kerzenstummel, Spielzeugfiguren. Wir blieben hier nicht lange, gingen stattdessen hinunter in die Bucht, um zu schwimmen. Und hier fanden wir auch den eigentlichen Ort der einstigen Orakelstätte: Eine von Gestrüpp überwucherte Höhlung im Felsgestein. Hier hatte der Klient gesessen und atemlos gelauscht, um im Wellengemurmel die flüsternden Stimmen aus der Unterwelt zu vernehmen.

Nicht weit von der Orakelstätte entfernt befand (und befindet sich noch heute) einer der legendären antiken Zugänge zum Hades. Allerdings ist er – eine Höhle im Felsgestein des Kap Tenaro – nur vom Meer aus erreichbar. Patrick Leigh Fermor ist während seiner Mani-Umsegelung in den fünfziger Jahren hineingeschwommen. Seine Schilderung ist einer der poetischsten Abschnitte in seinem Buch über die Mani: „Die Luft war dunkel, doch unter der Oberfläche schimmerte das Wasser in einem magisch leuchtenden Blau, und mit einer einzigen Hand- oder Fußbewegung konnte ich schimmernde Säulen von phosphoreszierenden Bläschen erzeugen. Es war, ganz anders als erwartet, kein bisschen unheimlich, sondern bis auf die Kälte des Wassers, das nie ein Sonnenstrahl erreicht, still und friedlich und wunderschön. Durch das Licht, das unter Wasser vom fernen Höhleneingang ins Innere strömt, hat es den Anschein, als schwimme ein Eindringling, der von einer phosphoreszierenden Hülle umgeben in die kühle Tiefe hinabtaucht, mitten im Herzen eines riesigen Saphirs.“  (P.L.Fermor, Mani ,Kap. 10, Das Tor zur Unterwelt) 

Neben diesem Hades-Zugang gab es laut der antiken Überlieferungen noch mindestens zwei weitere: im Hain Persephones und im Land der rätselhaften Kimmerer. Während das Land der Kimmerer noch nicht eindeutig lokalisiert werden konnte und diverse Thesen darüber im Widerstreit liegen, ist ein weiterer Hades-Zugang in Epirus bekannt. Bei den Quellen des als Unterweltsfluss geltenden Acheron befand sich das berühmte Totenorakel von Acheron. Wie der Zugang am Kap Tenaro war er ebenfalls in einem unwirtlichen Randgebiet der griechischen Welt angesiedelt.

Auf dem Weg von Kokkinogia zum Kap passiert man ein großflächiges, kreisrundes Bodenmosaik aus antiker Zeit. Nur notdürftig geschützt durch einen hüfthohen Steinwall leuchtete es uns schon von weitem entgegen. In hellenistischer Zeit stand hier wohl ein Gebäude, ein Tempel oder Wohnhaus. Die Farben der Steinchen leuchten noch immer, noch nach all den Jahrhunderten.

Ab hier führte der Weg führte bergauf und dann, als wir den Höhenrücken erreicht hatten, weiter am östlichen Rand des Felsgrades entlang. Macchia, knöchelhoch nur, aber hart wie Draht, säumte den Pfad. Ich erinnerte mich hier in der felsigen Leere an ein Kinderbuch, an die Geschichte von einem Jungen, der zum Ende der Welt zog, um dort dem Mond auf seiner Fidel vorzuspielen. Mit diesem schwächlichen Köhlerjungen, der nicht zum väterlichen Beruf taugte, bin ich, kaum dass ich lesen konnte, mitgezogen. Habe neben ihm gesessen auf jener Klippe am Ende der Welt, auf der er dem Mond sein Lied spielte. Hier tauchte aus dem Nichts über dem Meer aber kein Mond auf, sondern ein Leuchtturm. Er erschien uns gleichsam als letzte Instanz der vertrauten Welt. Einige dutzend Meter mussten wir absteigen vom Gipfelgrad, um zu seiner Plattform zu gelangen. Und hier ging es nicht mehr weiter, hier standen wir am südlichsten Punkt, südlicher als jeder andere Punkt des europäischen Festlands. Vor uns und um uns das Meer, das unweit von hier die ungeheure Tiefe von mehr als fünftausend Metern erreicht, ein Bereich, der als Calypsotief bezeichnet wird. Im Osten lagen die Inseln Kytheria und Antikytheria und dahinter, weiter noch entfernt, Kreta. Pharos, der Leuchtturm, als einsamer Wächter stand er am felsigen Hang. Vielleicht leuchtete er nicht nur den Schiffen der Lebenden, sondern auch den Seelen, die im Schutz der Dunkelheit dem Tor zum Hades zustrebten.

Wir fanden einen Schlafplatz in einer kleinen Bucht unterhalb der Tempelruine. Zwei, drei Meter über dem Wasser bildete das schwarze Felsgestein eine ebene Fläche. Hier rollten wir unsere Matten und Schlafsäcke aus. Im Dunkel tranken wir Ouzo und schauten auf die silbrig glänzenden kleinen Wellen, die sich mit leisem Plätschern am steinigen Ufer brachen. Eingemummt bis zur Nasenspitze  – es gab Moskitos am Ende der Welt – schauten wir später in den Sternenhimmel, den ich selten so klar gesehen hatte wie hier, die Milchstraße war deutlich zu erkennen, Myriaden von Lichtpunkten waren großzügig verstreut auf dem schwarzen Tuch, das über uns ausgebreitet worden war. Schon lange vor Anbruch der Dämmerung war ich wieder wach. Schlich mich davon, um den Gefährten nicht zu wecken. Weißgrauer Dunst lag über dem Schwarz, das sich ringsum erstreckte. Das Meer war darunter nur zu erahnen. War es ein Traum oder hatte ich wirklich etwas gehört? Ein Flüstern, ein Raunen, ein Windhauch vielleicht. Im Dunst huschte etwas lautlos vorüber, vielleicht eine Fledermaus. Ein ferner Ton war zu hören, kaum Gesang zu nennen, ein Geräusch aber wie von vielen Stimmen, dünn und hoch. Mit offenem Mund lauschte ich, nahm wieder eine Bewegung wahr, draußen auf dem Meer, aber ich konnte nichts erkennen, nur Schwärze war da und kaum sichtbare Dunstschleier darin, mit denen ein Windhauch spielte.

Erstmals gingen wir am nächsten Tag nun in Richtung Norden, kehrten zurück auf der Straße, auf der wir gekommen waren. Vorbei an Kokkinogia und weiter und hinüber auf die östliche Seite der Mani. Wir rasteten auf einer macchiabewachsenen Bergkuppe, auf der sich ein Friedhof befand. Die Häuschen dort waren mit Glastüren verschlossen, so dass wir einen Blick auf die steinernen Truhen hatten, in denen die Toten schliefen. Tief unter uns lag die Bucht von Porto Kagio, das in früherer Zeit ein berüchtigtes Piratennest gewesen sein soll. Dass aber diese Bucht, dieser Ort schon bei Homer Erwähnung gefunden hatte, dieser gottverlassene Ort am Ende der Welt, schien mir unglaublich, und unfassbar scheint mir, dass dies überliefert wurde bis in meine Tage und dass ich selbst jetzt hier stand, auf diese Bucht schaute, die doch noch dieselbe war wie in jener fernen mythischen Welt. Eine ferne und entrückte Welt aber nicht durch jenes Konstrukt, das wir Zeit nennen, sondern durch die unaufhörliche Kette von Ereignissen, die sie ausfüllen und erst begreifbar werden lassen. Nördlich von Porto Kagio, an der Ostseite der Mani, führt die Straße an einem langgezogenen Hochtal vorbei. Hier sollen in antiker Zeit Pferde gehalten worden sein, um sie von Kap Tenaro aus zu exportierten. Überliefert sind solche Handelsverbindungen jedenfalls zwischen dem Peloponnes und Kreta. Vielleicht kamen diese Pferde aus der Region Peneia im Westen des Peloponnes. Eine Region, die seit der Antike für ihre Pferdezucht bekannt ist, und deren Pferde begehrt waren. In der Ilias wird über den König Nestor von Pylos berichtet, dass er als Kriegsbeute auch Pferde heimbrachte: „Auch der bräunlichen Rosse gewannen wir hundertundfünfzig, Stuten all, und viele von saugenden Füllen begleitet”  (Homer Ilias, Buch 11, Gesang 680).

Zwei Dutzend Häuser, zwei, drei Tavernen, ein Wohnmobil auf dem Uferweg, eine Jacht dümpelte in der matten Dünung. Porto Kago war ein stiller, versteckter Ort, an dem man sich vorstellen konnte, die Welt für einige Zeit zu vergessen. Wir nahmen ein Zimmer in einem sorgfältig restaurierten Steinhaus mit Turm. Maria, eine Frau Mitte Vierzig, war die geschäftige Patronin des Ortes. Gemeinsam mit zwei jungen Leuten und einem bärtigen, Elektrozigarre rauchenden Faktotum namens Antonio bewirtete sie uns später in der Taverne. Tische und Stühle standen direkt am schmalen Strand, fast im Wasser, ein Bild, das man eigentlich nur von Kitschpostkarten kennt. Hier war es wirklich so, und auch gegen Abend füllten sich die Tische nur langsam, es gab lediglich eine Handvoll Touristen, der Oktober war bereits weit vorangeschritten und die Saison nahezu beendet. Von der überdachten Terrasse der Taverne schweifte der Blick über die Bucht, die von steilen Hängen gerahmt wurde. Das Wasser lag ruhig wie in einem See, denn der Zugang zur Bucht war schmal; gut konnte man sich vorstellen, dass dies ein Schlupfwinkel der maniotischen Piraten gewesen ist. Da und dort waren auch uralte verrostete Kanonenrohre zu sehen, teils dekorativ aufgestellt, teils genutzt als stabilisierendes Element des gepflasterten Gehweges. Da, wo der Hafenbereich endete, führte ein schmaler Pfad auf der rechten Seite der Bucht bis zu ihrem Eingang. Eine Kapelle wachte dort über die Einfahrt in die Bucht. In dieser Kapelle begegnete uns in diversen Formaten, die sich mit typischer Fingerstellung und der hageren Gestalt des Asketen doch alle in der ikonographischen Darstellung glichen, wieder einmal der Heilige Nikolaus. Ihm, den Verteidiger gegen die Ungläubigen, Beschützer gegen alle Feinde und Patron der Seeleute, hatte man den Schutz über Hafen und Ortschaft anvertraut. Hier las mein Freund jene Passage aus Fermors Mani-Buch, in der Fermor über die Ikonenmalerei schreibt. Die Beharrlichkeit und Kunstfertigkeit, mit der über Jahrhunderte hinweg ein bestimmter Stil entwickelt und gepflegt wurde, die Verehrung, die diese Heiligendarstellungen hier in Griechenland noch immer erfahren, erschien uns interessanter und aufrichtiger als alles, was wir aus den westlichen Kirchen kannten.

Der erste Teil unserer Reise war zu seinem Ende gekommen. Kap Tenaro, das Totenorakel, das mythische Ende der Welt, war unser Ziel gewesen. Jetzt dümpelten wir wie die Jacht in der Bucht in den Wellen. Lagen in Porto Kagio vor Anker, schrieben Tagebuch, tranken, schwammen, und spielten Tavli. Nach ein oder zwei Ruhetagen wollten wir erneut aufbrechen und die Ostküste der Mani erkunden. Allerdings riet man uns davon ab. Es sei unmöglich, dort zu Fuß zu gehen, es gäbe keine Wege zwischen den kahlen Bergen im Inneren und den steilen Klippen am Ufer. Eine Straße sei zwar vorhanden, sicher, aber sie sei schlecht, sehr viel schlechter als jene auf der Westseite, auch gäbe es überhaupt keine Busverbindungen zwischen den Orten.

Bleibt hier, sagte Antonio. Was soll das Umherziehen mit dem Gepäck, bleibt, ich mache euch einen guten Preis, sagte Maria. Die junge Frau, die uns bediente, sagte nichts, lächelte nur und brachte eine weitere Karaffe Wein. Bleiben wir noch einen Tag, sagte mein Gefährte, oder zwei.

In der Bucht lag eine beschädigte Jacht vor Anker, sie war uns schon bei unserer Ankunft in Porto Kagio aufgefallen, denn sie wirkte auch aus der Entfernung ziemlich ramponiert. Ihr Heimathafen war Southampton, ihr Name Gorgonia. Wir waren einmal zu ihr hinausgeschwommen, um sie uns aus der Nähe anzusehen. Am Heck war die Bordwand über der Wasserlinie eingedrückt, als hätte eine Riesenfaust darauf eingeschlagen. An den metallenen Fassungen der Bullaugen hatten sich Rostnasen gebildet, und an der Wasserlinie war der Lack beschädigt. Ein Teil der Segel war auch nicht ordentlich eingepackt, hing wirr von Mast und Takelage herab.

Es sah alles in allem aus, als wäre das Boot gerade aus einem schweren Sturm gekommen. Wir konnten in Erfahrung bringen, dass es einem Mann gehörte, der von England hierher gesegelt war und dem jetzt das nötige Geld fehlte, die Gorgonia wieder flott zu machen. Mehr konnte oder wollte man uns in Porto Kagio dazu nicht erzählen, doch einige Zeit später erfuhren wir in Gythio die ganze Geschichte: Sir Richard war auf der Mani bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund, und die Gorgonia lag bereits seit zwei Jahren in der Bucht von Porto Kagio vor Anker. Der Mann war mit ihr von England herüber gesegelt, dabei war er tatsächlich in einen schweren Sturm gekommen. Die Gorgonia bräuchte dringend eine Überholung, aber Sir Richard hauste seit Monaten in einem Hinterzimmer der Pension von Porto Kagio, hatte angefangen zu trinken und versteckte sich vor der Gorgonia und der Welt.

Eine Zeitlang nach seiner Ankunft hatte er es noch unter Kontrolle gehabt und versucht Geld aufzutreiben, um die Gorgonia wieder flott zu bekommen, aber er hatte das Geld nicht bekommen. Weder von der Bank, noch von Freunden und auch nicht von seiner Familie. Sir Richard lebte in der ersten Zeit in Gythio, der nächstgrößeren Stadt. Das war die Zeit, in der er noch voller Zuversicht und Hoffnung gewesen war, genug Geld zu beschaffen. Dann ging er zurück nach Porto Kagio. Er saß im Tweedanzug vor der Taverne und betrachtete die Gorgonia, die in der Bucht schwojte. Er war zu diesem Zeitpunkt noch so zuversichtlich, dass er noch nicht einmal die Sonnenkollektoren auf dem Boot einklappte und die letzten Meter Segel in die Persenning packte. Bald habe ich sie wieder flott, dachte er bei sich. Irgendwie werde ich schon noch an das nötige Geld kommen. Dann ließ er sich die erste Flasche Ouzo bringen und die Dinge entwickelten sich, wie sie sich in solchen Fällen zu entwickeln pflegen. War die Flasche leer, hatte Sir Richard ein ansprechendes Bild vor Augen: Er sah sich selbst am Steuer der Gorgonia, er trug ein makellos sauberes Tweedjacket und ein lavendelblaues Einstecktuch. Gerade steuerte die Jacht aus der Bucht hinaus und sie nahm Fahrt Richtung Westen auf. Sir Richard trank, er hörte nicht mehr auf mit dem Trinken und er lag tagelang in seinem Zimmer und dachte darüber nach, wie er doch noch zu dem nötigen Geld kommen könnte. Aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen Monate, und irgendwann verließ Sir Richard sein Zimmer überhaupt nicht mehr. Man brachte ihm das Essen auf einem Tablett und die Bewohner von Porto Kagio – ein ehemaliges Piratennest, was man berücksichtigen muss – begannen zu spekulieren, was ihnen die Gorgonia bei einer Abwrackung einbringen würde.

Kommt wieder, sagte Maria. Unbedingt, sagte mein Freund, irgendwann kommen wir noch einmal hierher. Am besten nächstes Jahr schon. Dann saßen wir im Auto und die Bucht blieb zurück und wir waren wieder auf der Straße, auf der wir von Vathia und Gerolinemas hergekommen waren. Antonio hatte uns überredet, die angeblich unwirtliche Ostküste zu meiden. Besser wäre es, so hatte er gesagt, erst von Areopoli aus auf die östliche Seite zu wechseln. Seine Frau fuhr zum Mandolinenunterricht nach Areopoli und nahm uns mit. Auf der Rücksitzbank lag ihre Mandoline, sie hatte das Fenster heruntergelassen und ihr strubbeliges rotes Haar wurde durchgepustet. Wir fuhren vorbei an einer Reihe am Straßenrand abgestellter Pickups, auf deren Ladeflächen Drahtkäfige standen. In den Küstenbergen waren Jäger unterwegs, die mit ihren Hunden Steinhühner aufstöberten. Wahrscheinlich das einzige Wild, das hier im Süden der Mani existierte. Immer wieder knallte ein trockener Schuss, sah man die Silhouette eines Mannes mit erhobener Flinte auf einem der Hänge links und rechts der Straße. Kühler Fahrtwind blies uns ins Gesicht. Die Strecke, für die wir vor einigen Tagen viele Stunden gebraucht hatten, schmolz zu einer halbstündigen Autofahrt zusammen. Dann saßen wir erneut auf dem Platz der Unsterblichen in Areopoli, tranken Kafé Ellinikós und warteten wieder einmal auf einen Bus. Wir waren inzwischen versiert in der griechischen Kunst des Wartens, fielen nicht mehr auf durch ungeduldige Blicke auf Armbanduhr oder Telefon. Saßen entspannt und beobachteten die ankommenden Manioten, in die Jahre gekommene Kerle mit Bäuchen und schwarzen Bärten und Goldkettchen, die lässig aus ihren verbeulten und rostigen Toyota-Pickups sprangen, um für die nächsten Stunden den Fahrersitz mit einem Kaffeehausstuhl zu tauschen.


Unser Gastschreiber Jörg Jacob berichtet von einer Griechenlandreise, die ihn mit einem Freund von Athen über Sparta und Mystras bis zum südlichen Ende des Peloponnes geführt hat. Eindrücke und Gedanken der Wanderer verbinden sich mit Orten, die aus der griechischen Mythologie überliefert sind. Unterteilt in sieben Kapitel veröffentlichen wir diesen Text im Jahresverlauf auf unserem MYTHO-Blog.


Kapitel 1 – „Hotel Byzantio“

Kapitel 2 – „Exo Mani“

Kapitel 3 – „Exo Mani 2“

Kapitel 4 – „Messa Mani“


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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