Zum Ende der Welt. Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 1 „Hotel Byzantio“

In Regenfällen versinkt Nordgriechenland. Bilder und Namen überfluteter Ortschaften huschen durch die Nachrichtenkanäle. Mantoudi, Achladi, Agia Anna. In der Region Evia und an der Grenze zu Albanien soll die Lage dramatisch sein. Immer mehr und immer südlicher ziehen Regenfronten über die Schaubilder der Wettervorhersagen. In Athen jedoch ist es bei meiner Ankunft in den ersten Oktobertagen noch trocken und warm. In meiner Unterkunft nimmt mich Sergej in Empfang, ein Ukrainer aus Mariupol im Camouflage-Anzug. Er läßt mir kaum Zeit, meinen Rucksack abzusetzen, beginnt unverzüglich, mir Athen zu erklären: Wie man wohin gelangt, was man gesehen haben muss und was nicht. Sergej spricht unentwegt über dies und das, allein über meine Mitbewohner in seiner Unterkunft, düstere Gestalten, die schweigend umherschleichen und einem Dostojewski-Roman entsprungen sein könnten, bewahrt er Stillschweigen. Vom Dach des Hauses aus zeigt er mir die Akropolis, führt mich danach zu einem Kaffeehaus am Rande eines Parks. Hier treffe ich Stefanos, den Freund, mit dem ich schon früher auf Kreta und in Griechenland gereist bin. Gemeinsam wollen wir dieses Mal die Mani durchwandern, jene karge und legendäre Halbinsel, die der Schriftsteller Patrick Leigh Fermor so unnachahmlich beschrieben hat. Zum südlichsten Zipfel des Peloponnes, zum Totenorakel der alten Spartaner und zum Kap Tenaro wollen wir, wo sich den mythischen Überlieferungen nach einer der Hadeseingänge befinden soll.

Stefanos hat die Angewohnheit, an abgelegenen Orten mit dort aufgefundenen Steinen große Kreise zu formen. Mehrere Meter im Durchmesser messen diese Kreise, in stundenlanger mühsamer Arbeit schleppt er Steine und ordnet sie kreisförmig an. Der Boden innerhalb des Ringes wird von Steinen befreit, wird gesäubert, geglättet und von einem Ring größerer Steine umgeben. Hier in Athen überrascht er mich mit dem Vorschlag, die Akropolis zu umrunden, auf diese Weise einen unsichtbaren Kreis um den Burgberg zu ziehen. Weder hinaufzugehen noch zu fotografieren, sondern den Kreis abschreitend über Athen nachzudenken, der Atmosphäre  des Ortes nachzuspüren. Die an die Hänge geschmiegten Überreste einstiger Theater, Tempel, öffentlicher Gebäude und Straßen betrachten. Hadriansbogen, Zeustempel, die römische Agora, eine ungeheure Fülle antiker Artefakte und in der Ebene zwischen den Hügeln dann das weite Feld der weißschimmernden Würfel staunend betrachten: Athen, die große, chaotische, irrsinnige Stadt, voller Lärm und Bewegung. Die ungeheure Vitalität ihrer Bewohner beeindruckt mich, und ich denke, in Athen muss man lange bleiben oder sofort wieder gehen.

Durch endlose Vorstädte kämpft sich der Bus, vorbei an Wohnhäusern, Supermärkten, Tankstellen, schließlich durch Industriegebiet. Das Meer zur Linken mit Silos und Containerplätzen, Schiffskränen, Tankern auf Reede. Nach einer Stunde überqueren wir endlich den Kanal von Korinth. Schmal und tief eingeschnitten, liegt er wie eine enge Schlucht tief unter der Straße. Und dann sind wir auf dem Peloponnes. Das Land des Pelops, Morea im Mittelalter genannt, nach den Maulbeerbäumen vermutlich. Die große Halbinsel, eigentlich eine Insel, seit es den Kanal vom Korinth gibt, der sie seither vollständig vom griechischen Festland trennt. Die westliche Ebene bei Patras und das Tal des Evrotas rings um Sparta im Süden, dazwischen raues, zerrissenes Gebirgsland. Die Namen der Städte auf den Straßenschildern: Nauplia, Argos, Mykene, Olympia – wie flackernde Scheinwerfer in der Dunkelheit rufen sie mir Bruchstücke der mythischen Erzählungen in Erinnerung: die Argonauten, der Gesang des Orpheus, Jason und das goldene Flies, Agamemnon, Klytaimnestra, Menelaos, der Fluch des Hauses Pelops, und die beschämende Empfindung, nicht tief genug zu schöpfen, nur an der Oberfläche zu flanieren mit angelesenem Halbwissen. Könnte man nicht die Fahrt der Argonauten nachvollziehen, herausfinden, was der wahre Kern der Geschichten ist? Unruhe befällt mich, Gedanken gehen auf große Fahrt, während ich doch still im Bus ausharren muss. Und während ich das vorüberziehende Land betrachte, taucht eine Frage auf: Ob die griechische Gedankenwelt – Mythos, Religion, Philosophie – aus dem Geist der Landschaften erwachsen sein könnte. Kleinteilige Gebirge, Ebenen, Wälder: Landschaften, die sich stetig abwechseln und von Meeren voller Inseln umgeben sind. Die besondere Geografie des Landes, diese Vielzahl der Gestalten, seine Kleinteiligkeit und Zerrissenheit, der ständige Wechsel von Bergen und Flusstälern, Halbinseln und Landzungen, karg und zerklüftet, von Insel und Meer, diese abenteuerliche Landschaft in ihrer Gesamtheit musste doch die reiche Mythologie zumindest begünstigt haben. Änderungen, Wandlungen, Metamorphosen auf kürzeste Distanz, die Abwesenheit monotoner Großlandschaften wie Wüste, Steppe, Ozean. Eine Wechselwirkung von Topografie und Mythos. Nur ein Faktor neben anderen oder der bestimmende?

Die antike Akropolis ist nur einen Spaziergang von der modernen Stadt Sparta entfernt. Dicht mit Olivenbäumen bewachsen ist der Hang des Hügels, wie ein schützender Wall umringen die Bäume die Ausgrabungsstätte: Den Tempel der Stadtgöttin Athena Chalkioikos, eines der bedeutendsten Heiligtümer Spartas, ein rundes Gebäude aus römischer Zeit, dessen einstige Bedeutung nicht ganz klar zu sein scheint, sowie die Agora und das Theater. Mitten zwischen diesen antiken Ruinen befinden sich auch die Überreste einer großen Basilika aus byzantinischer Zeit, ein Bauwerk, das dem Heiligen Nikon gewidmet war. Einzig erhaltenes Gebäude ist jenes aber, das als Grab des Leonidas bezeichnet wird. Der Überlieferung nach sollen die Gebeine des legendären Heerführers von den Thermopylen hierher gebracht und beigesetzt worden sein. Das Sparta Homers sucht man auf der antiken Akropolis jedoch vergeblich. Die ältesten Überreste hier stammen wohl aus der Zeit, als längst schon Dorer hier siedelten. Auch das sogenannte Menelaion, östlich von Sparta auf einem Hügel gelegen, ist nicht älter. Doch die Erinnerung an die mythische Gestalt des Menelaos muss noch Jahrhunderte später so deutlich gewesen sein, dass sie Anlass genug war, das pyramidenförmige Bauwerk zu errichten. Auf dem Hügel befinden sich neben dem Menelaion auch die Überreste eines wesentlich älteren, bronzezeitlichen Bauwerkes.  Vielleicht ist also hier das mythische Sparta des Menelaos und der Helena zu suchen?

Oberhalb des antiken Theaters geht der Blick von der Akropolis weit über die Ebene. Jenseits der modernen Stadt Sparta erhebt sich im Südosten die Bergfront des Taygetos, die aufragt wie eine Wand. Dunkle Wolken näherten sich bedrohlich, ein Gewitter zog herauf. Dorthin sollte unser Weg führen. Auf einem der Ausläufer des Gebirges, einem allmählich ansteigenden Hügel, befinden sich die Überreste der spätbyzantinischen Stadt Mystras. Auf der Kuppe dieses Hügels wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts von Wilhelm II. von Villehardouin eine Burganlage errichtet. Fränkische Ritter des Vierten Kreuzzuges hatten damals Teile der Morea erobert und versucht, sich hier festzusetzen. Doch die Festung fiel schon wenige Jahrzehnte später wieder den Byzantinern zu. In den folgenden 200 Jahren wuchs zu Füßen der Burg eine bedeutende Stadt heran, die sich zum Zentrum spätbyzantinischer Kultur entwickeln sollte.

Unweit der Ruinen von Mystras liegt das gleichnamige Dorf, mit einem halben Dutzend Tavernen und Gasthäusern für die Besucher der historischen Stätte. Wir bezogen Zimmer im Hotel Byzantio, einem großzügigen 50er-Jahre-Bau an der Straße nach Sparta. Vom Balkon blickte ich auf das Denkmal für Konstantinos XI. Palaiologos, den letzten byzantinischen Kaiser. Noch heute findet jedes Jahr am 29. Mai  in der gut erhaltenen Hauptkirche der Ruinenstadt ein Gedenkgottesdienst statt, der ihm gilt. Konstantinos fiel an diesem Tag im Jahr 1453 auf den Mauern von Konstantinopel. Nach der osmanischen Eroberung Konstantinopels hielt sich Mystras noch fast ein Jahrzehnt. Die Stadt gilt als ein letztes Zentrum byzantinischer Kultur. Lange durchstreiften wir die ausgedehnte Ruinenlandschaft, die sich über den gesamten Berghang zieht. Gepflasterte Straßen, die noch deutlich erkennbare Unterteilung in Unter- und Oberstadt, Befestigungsanlagen und Mauern, der Palast des Herrschergeschlechts der Palaiologen, die erhaltenen Kirchenbauten und zahlreiche Überreste einstiger Wohnhäuser geben eine gute Vorstellung von der einstigen Anlage.

Durch den Zuzug von Gelehrten und Künstlern wuchs die Bedeutung der Stadt. So hatte sich auch der Philosoph Georgios Gemistos Plithon um das Jahr 1400 in Mystras niedergelassen und eine Akademie gegründet, in der die antiken Autoren erneut studiert wurden – aus heutiger Sicht ein Versuch, die Geistesgeschichte von Antike und Mittelalter zu verbinden. Aus der Ruinenlandschaft ragt das noch intakte Kloster Pantanassa hervor, erbaut im 15. Jahrhundert. Die Klosterkirche mit acht Kuppeln und einem Glockenturm ist eines der markantesten erhaltenen Gebäude in Mystras. In ihrer Architektur findet sich sowohl der gotische Spitzbogen als auch die byzantinische Ziegelornamentik. Als wir durch den Innenhof gingen, um die Kirche zu besichtigen, öffnete sich eine schmale Tür. Eine alte Frau in der dunklen Tracht der Nonnen trat heraus, sie lächelte freundlich und fragte, woher wir kämen.

In den Kirchen von Mystras – die meisten noch gut erhalten (im Gegensatz zu den Wohnhäusern, von denen nur Grundrisse und Mauerreste vorhanden sind) – überraschen besonders die zahlreichen Fresken. Biblische Szenen und die teils großformatigen Darstellungen diverser Heiliger sind in vielen Fällen gut erhalten. Wände, Decken, Apsis und auch die Kuppeln sind vollständig ausgemalt, Blau- und Rottöne überwiegen in der Farbgebung. Mit individuell wirkenden Personen weichen einige Fresken von der klassischen byzantinischen Ikonenmalerei ab. Durch den Einfluss der Lateiner scheinen sich in Mystras die Stile und Formen vermischt zu haben. Man ist versucht zu denken, es sei eine Art Labor gewesen, indem sich das, was von Byzanz noch fortdauern konnte, bereits versuchte mit den Lateinern, mit Westeuropa zu arrangieren. Goethe, der zwar nie in Mystras war, aber von dem Ort wusste,  versetzt im Faust II. Faust und Helena nach Mystras (3.Akt). Die Synthese von klassischer Antike und Abendland, die in diesem Paar angelegt ist, spiegelt sich in jener, von der Malerei und Architektur der Stadt noch heute zeugen.

Metropolis, die Haupt- und Bischofskirche von Mystras, ist dem hl. Demetrios geweiht und wurde Anfang des 14. Jahrhunderts erbaut. Am 6. Januar 1449 wurde Konstantinos – bisher lediglich Herrscher der Provinz Morea –  hier zum byzantinischen Herrscher gekrönt. Eine Marmorplatte im Boden mit dem Emblem der byzantinischen Kaiser, dem Doppeladler, zeigt noch heute die Stelle an, auf der er während der Zeremonie gestanden haben soll. Von der Höhe des Berges geht mein Blick hinunter nach Sparta und über die weite Ebene des Flusses Eurotas. Mystras klammerte sich an die Bergkette des Taygetosgebirges, die noch für zwei  Jahrhunderte Halt bot, bis auch das letzte Überbleibsel eines tausendjährigen Imperiums unterging. Von hier war kein weiterer Rückzug mehr möglich. Denn jenseits dieses Gebirges erstreckt sich nur noch eine schmale Landzunge ins Meer hinaus. Für manche Familie aus den byzantinischen Gebieten galt die Mani als allerletzte Zuflucht. Wer das Gebirge überstieg, gelangte allerdings in eine Steinwüste, die nur wenig Lebensraum gewährte.

Zurück im Hotel Byzantio erwarteten uns schlechte Nachrichten: Es gab wieder neue Regen- und Gewitterwarnungen. Der Hotelchef riet uns dringend davon ab, ins Gebirge zu steigen. Dichter Nebel schwappte über die Schlucht, stieg höher und verschlang nach und nach Mystras. Nur einzelne Zypressen ragten noch eine Weile hervor. Im Regen wirkte alles hier trist. Von Konstantinos steinernem Kopf und seinen Schultern  rannen Wasserströme, eine große Pfütze bildete sich zu Füßen des Denkmals. Eine Legende berichtet, dass während des Kampfes um Konstantinopel ein Engel vom Himmel herabgestiegen sei, um den letzten byzantinischen Kaiser vor den osmanischen Eroberern zu verbergen. Dieser Engel habe Konstantinos in eine marmorne Statue verwandelt. Es heißt auch, dass er eines Tages wieder zurückverwandelt werden würde, um Konstantinopel zu befreien. Der Regen fiel, strömte unaufhörlich. Mystras, so dachte ich, ist wie ein gewaltiges Mausoleum. Die Grablege eines untergegangenen Imperiums, das doch noch ein ganzes Jahrtausend hindurch das weströmische Reich überdauert hat.

Wird fortgesetzt


Unser Gastschreiber Jörg Jacob berichtet von einer Griechenlandreise, die ihn mit einem Freund von Athen über Sparta und Mystras bis zum südlichen Ende des Peloponnes geführt hat. Eindrücke und Gedanken der Wanderer verbinden sich mit Orten, die aus der griechischen Mythologie überliefert sind. Unterteilt in sieben Kapitel veröffentlichen wir diesen Text im Jahresverlauf auf unserem MYTHO-Blog.


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, sowie ein aktueller Romanauszug in Doppelte Lebensführung, Poetenladen, Leipzig 2020.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

3 Antworten auf „Zum Ende der Welt. Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 1 „Hotel Byzantio““

  1. eine tolle mythische Reise! Erstmals seit langem höre ich wieder etwas von Mystras und Gemisthos Pletho. Ich freue mich auf die Fortsetzung!
    ELmar Schenkel

    1. Ich freue mich ebenfalls auf weitere Geschichten hierzu. Ich habe 2006 Mistra besucht und meine Absicht war den Besuch wiederholen .Die Reise war ebenfalls mit dem Schiff und dem öffentlichen Bus

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