Zum Ende der Welt: Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 6: „Kato Mani“

Auf der Ostseite der Mani angelangt, hatten wir uns noch einmal nach Süden gewandt, um in die große Bucht von Kotronas zu gelangen. Kotronas war in der Antike ein wichtiger Hafen, jedenfalls bis Gythio ihm den Rang ablief. In der byzantinischen Zeit geriet Kotronas jedoch in Vergessenheit, wie es heißt, auch wegen der häufigen Pirateneinfälle in der Gegend. Weitgeschwungen ist diese stille Bucht; der kleine Ort zieht sich entlang der Straße den Hang aufwärts. Einige hundert Meter höher liegt auf einer Bergkuppe das Kloster Sotiros. Es wird nicht mehr bewohnt, liegt still und verlassen auf der kargen Kuppe des Berges. Braun und grau sind hier die vorherrschenden Farben, es gibt kein Grün, kaum Vegetation. Mühsam gestaltet sich der lange Weg aus der Bucht herauf, kein Baum, kein Gesträuch, keine Felshöhlung bietet Schatten, um eine Pause einzulegen. Erst hinter den Klostermauern finden wir Schutz vor der gleißenden Sonne. Sotiros heißt Rettung. Vielleicht Rettung vor Angreifern für die Bewohner der Bucht, ein letzter Rückzugsort vielleicht. Wie Schießscharten muten die schmalen Fensteröffnungen an, von denen man Bucht und Meer weithin überblicken kann. Wir sind wegen der Fresken in der Klosterkirche heraufgekommen. Anastasia, die wir vor einigen Tagen kenngelernt hatten, hatte gesagt, dass wir hier etwas Außergewöhnliches zu sehen bekommen würden.

Die Klosterkirche hält tatsächlich eine Überraschung bereit. Sie ist vollständig ausgemalt, Wände, Kuppel, Apsis. Die üblichen Szenen, vor allem aus dem Neuem Testament. Interessant zum Beispiel die Kreuzigungsszene, auf der die römischen Soldaten beritten sind und auf das Kreuz, an dem Christus hängt, von links und rechts zuzugaloppieren scheinen. An Wand und Decke über der Eingangstür entdeckten wir dann aber Szenen, die wir in dieser Art in keiner anderen Kirche oder Kapelle bisher gesehen hatten: Tier- und Menschendarstellungen, die an Hieronymus Bosch erinnern. Mischwesen aus Tier und Mensch zusammengesetzt, merkwürdige Kreaturen, ein Pan- oder Teufelskopf mit Hörnern. Geflügelte Fabelwesen. Entsprangen diese Bilder gängigen Vorstellungen der Hölle und ihrer Bewohner? Oder flossen hier Elemente paganer Kultur ein? Gab es vergleichbare Darstellungen in anderen griechischen Klöstern? Sollten sie Dämonen und Teufel fernhalten, etwa so wie die Drachen und Monster der Wasserspeier mittelalterlicher Dome und Kirchen in Europa, sollten sie also Grenzgänger zwischen Himmel und Hölle darstellen? Oder waren diese irritierenden Fresken vielleicht Hinweise auf den Physiologus, eine frühchristliche Naturlehre, in der Tiere in Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen gebracht werden?

An einem späten Nachmittag trafen wir in Gythio ein. Eine Stadt, die ganz anders auf mich wirkte als die Ortschaften, die wir bisher auf der Mani gesehen hatten. Mit ihrer europäisch anmutenden neoklassizistischen Architektur erinnerte sie mich – besonders die Häuserzeile entlang der Hafenmole – im ersten Augenblick ein wenig an Triest. Ein Triest im Miniaturformat allerdings, denn Gythio ist eine Kleinstadt. Die Mani indes scheint hier weit entfernt zu sein, ihre unverputzten Häuser aus Naturstein, die Wohntürme, das karge Bergland. Der Hügel, an den sich Gythio lehnt, ist dicht bewachsen mit Zypressen, Lorbeersträuchern und Pinien. Nach Norden hin, in Richtung Gebirge, sieht man bereits wieder die Bergkette um den Profitis Ilias. 

Wir waren in Gythio zu Gast bei Anastasia, unserer Bekanntschaft aus der Taverne von Neo-Idylo. Sie hatte vor einigen Jahren ein verfallenes Haus im Treppenviertel gekauft und restauriert. Treppen führten von der Gasse steil hinauf zu einer ersten Ebene. Hier befand links vom Hauptgebäude ein separates Gästehäuschen mit Terrasse, in dem wir einquartiert wurden. Im Hauptgebäude befand sich ein großzügiger Wohn- Arbeitsraum mit Küchenecke, im Obergeschoss darüber ein Schlafraum und eine offene Terrasse mit weitem Blick über die Dächer hin zum Meer.

Anastasia führte ein nomadisches Dasein, sie reiste häufig, pendelte zwischen Wien und Gythio. War sie längere Zeit hier, fuhr sie häufig hinüber in die Bucht von Limeni, besuchte ihre Freunde dort und schlief dann in ihrem Auto. Vielleicht war es vor allem eine Fluchtbewegung, denn sie ertrug die Einsamkeit nicht gut. Beim Abendessen unterhielt uns Anastasia mit zahlreichen Mani-Anekdoten. Ich erinnere jene, die vom Leuchtturmwärter von Kap Tenaro handelte, der allmählich sein Gedächtnis verloren habe, eine Analogie – wie ich fand – zu dem verblassenden antiken Bodenmosaik nahe dem Totenorakel von Tenaro. Der alte Mann sitzt in seinem Leuchtturm, sieht die Schiffe vorüberziehen wie eh und je, aber er kann sich nicht mehr erinnern, wohin sie fahren, warum er hier ist. Aber dies ist sein Platz, es ist seine Aufgabe, hier zu sein. Das blinkende Licht der Turmspitze in der Nacht bedeutet Zuhause, doch er weiß nicht mehr, wozu er hier ist, kann den Sinn nicht mehr erfassen. Er bleibt, akzeptiert das Verblassen der Erinnerung, aller Sinnzusammenhänge. Er bleibt auf seinem Posten, schaltet die Signallichter an und aus, nur noch aus dem einzigen Grund, weil er sich nicht erinnern kann, jemals etwas anderes getan, an einem anderen Ort gewesen zu sein. Seine Tochter bringt ihm täglich etwas zu essen. Er weigert sich, seinen Turm zu verlassen. Unter ihm, weit unter ihm, da wo der Fels vom Wasser beleckt wird, ist jene Höhlung im Stein, der Zugang zur Unterwelt, da hinein wird sein Schatten verschwinden, bald schon. Er hat auch dies vielleicht schon vergessen …

Die Wände in Anastasias Haus hingen voller Bilder, Zeichnungen, Muschelsortimente. In Regalen und auf freien Flächen lagen keramische, metallische Objekte, die sie aus dem Schutt umliegender Hausruinen geborgen hatte. Besonders gefielen uns die hübschen bunten Holztäfelchen, die sie bemalt hatte. Meerestiere, Fischerboote und der Leuchtturm, der dem Lokal ihrer Freunde in Karavostasi den Namen gegeben hatte, waren darauf in kräftigen Farben abgebildet. Ein wenig erinnerten sie mich in ihrer Farbigkeit und naiven Fröhlichkeit an Wandmalereien antiker römischer Häuser.

Gythio vorgelagert ist die kleine Insel, die heute Marathonisi heißt. Sie wurde durch einen Damm mit dem Festland verbunden. Hier, auf dem antiken Kranai, sollen Paris und Helena während ihrer Flucht von Sparta nach Troja die erste Nacht verbracht haben. Die Insel ist winzig, es gibt einen Restaurant-Pavillon, eine hübsche, kuppelgekrönte Kapelle und ein Pinienwäldchen. Etwa in der Mitte der Insel steht ein massives Gebäude mit Turm, in dem sich ein Museum befindet. Es ist der frühere Wohnturm der Familie Gregorakis, die zum Geheimbund der Philiki Etaireia gehörte und sich aktiv am griechischen Befreiungskampf von der osmanischen Fremdherrschaft beteiligte. Der zinnenbewehrte, massige Turm sitzt in der Mitte des rechteckigen Gebäudes. Wir mussten den Klotz erst umrunden, um den Eingang zu finden. Ein Wachmann beobachtete misstrauisch, wie wir um das Gebäude schlenderten und schließlich an einer Pforte rüttelten. Wir hätten das Museum gern besichtigt, aber es blieb uns verschlossen.

An der äußeren Spitze der Insel erhebt sich ein Leuchtturm, der den Jachten und Fischerbooten bei Dunkelheit den Weg in den Hafen von Gythio weist. Im Sommer war es sicher angenehm, im Schatten der Kiefern zu sitzen, auf den Hafen zu schauen, ein- und ausfahrenden Jachten mit dem Blick zu folgen, ohne sich rühren zu müssen. In einem Tagtraum könnte man sich hier gewiss vorstellen, wie die antiken Spartaner in der Bucht einst ihre Trieren zusammengezimmert hatten. Kranai gewährte uns einen Überblick über die langgestreckte Hafenmole und über die Stadt, die sich an den Berghang schmiegt, an ihm emporwächst. Verwaschene milde Farbigkeit der Gebäude, gelb, blau und ockerfarben. Weiter oben am steilen Hang mehr und mehr Grün – Zypressen, Oleander, Lorbeer. Gythio ist bei – allem Gegensätzlichen – wie Triest eine Stadt, die gleichermaßen dem Meer wie den Bergen zugewandt ist.

Ein Spaziergang aus der Stadt hinaus in Richtung Sparta führte uns am nächsten Tag zum Friedhof von Gythio. Von einer leicht erhöhten Stelle des Weges aus konnten wir die gesamte Fläche überblicken. Ein schneeweißes marmornes Meer, aus dem kleine tempelartige Gebäude mit Säulen und Spitzdächern ragten wie Schlachtschiffe aus einer Armada von Fischerbooten. Dazwischen standen nur wenige einsame Zypressen und einige Oleanderbüsche. Es ist schwer zu erklären, wie und warum mich dieser Anblick mit Freude und heiterer Gelassenheit erfüllte. Aber dieser Friedhof schien mir eine kleine, in sich geschlossene und vollkommene Welt zu sein, ein Juwel, das unverhofft am Wegesrand aufblitzte, und es fiel mir schwer, den Blick zu lösen von diesem harmonischen Ensemble und weiterzugehen. Der ansteigende Weg, auf dem wir gingen, führte uns auf den Bergrücken hinter der Stadt. Von seinem Plateau überblickten wir die gesamte Bucht und das Meer dahinter. Auf der Anhöhe befand sich auch ein kleines Kloster, das von einer einzigen Nonne bewohnt wurde. Sie zeigte uns wortlos lächelnd den verborgenen Pfad, der durch ihren Klostergarten und von dort hinunter nach Gythio führte. Im oberen Teil des Treppenviertels kamen wir wieder zurück in die Stadt. Viele Häuser hier standen leer und manche waren bereits völlig verfallen. Wir ließen uns Zeit, stiegen nur langsam hinunter, denn unser Abschied stand jetzt bevor. Von Gythio aus konnten wir die Taygetos-Gipfel sehen und von hier aus wollten wir ins Gebirge aufbrechen.

Nächstes Jahr kommt ihr wieder, rief uns Anastasia nach, als wir bereits mit geschulterten Rucksäcken auf der Straße standen. Nächstes Jahr in Gythio, wiederholen wir, beinahe ein wenig feierlich. Nie waren wir gastfreundlicher empfangen worden als in ihrem Haus. Und doch war ich lange schon ungeduldig, wieder voranzukommen, aus der Stadt hinaus, das Meer im Rücken, hin zu der Bergkette am Horizont zu marschieren, das Taygetosgebirge zu durchqueren, um danach erneut am Meer anzukommen, zurückzukehren nach Kardamili nach Wochen und ganz so, als ob es Jahre gewesen wären.


Unser Gastschreiber Jörg Jacob berichtet von einer Griechenlandreise, die ihn mit einem Freund von Athen über Sparta und Mystras bis zum südlichen Ende des Peloponnes geführt hat. Eindrücke und Gedanken der Wanderer verbinden sich mit Orten, die aus der griechischen Mythologie überliefert sind. Unterteilt in sieben Kapitel veröffentlichen wir diesen Text im Jahresverlauf auf unserem MYTHO-Blog.

Kapitel 1 – “Hotel Byzantio”

Kapitel 2 – “Exo Mani”

Kapitel 3 – “Exo Mani 2”

Kapitel 4 – “Messa Mani”

Kapitel 5 – „Messa Mani 2“


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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