Zählen und Erzählen
Unsere erste Rechenmaschine ist die Hand. Mit Fingern, das heißt digital, haben wir immer gerechnet. Seit wir aufrecht gehen, haben wir Zeit und Raum zum Bezeichnen und damit zum Zählen. Bis heute gibt es Kulturen, die mit Fingern, Händen und Zehen rechnen. Im Mittelalter etwa bedeutete der geschlossene Kreis zwischen Daumen und Zeigefinger 100. Die Scheiben oder Kugeln am Abakus können als ausgelagerte Fingerknöchel gedeutet werden.
Der Mensch ist ein messendes Wesen, er zählt oft und viel, um sich Orientierung zu verschaffen, etwas zu überprüfen oder zu verkaufen und einzukaufen. Er macht Kerben oder knotet Zahlen, schreibt an und berechnet die Erscheinungen des Mondes (lat. mens, der Monat). Im Deutschen sind Zählen und Erzählen ganz nah beieinander. Zählen heißt ursprünglich, eine Kerbe machen, eine Delle, ein Tal einschneiden, eine Markierung also im Raum. (Daraus wird über den Umweg des böhmischen Namens Joachimsthal eines Tages sogar der Taler und daraus wiederum der Dollar.) Erzählen wiederum folgt dem Präfix er-, was auf eine größere Bewegung in einem Raum verweist (erkunden, erforschen, erraten), nicht einfach auf einen Schnitt. Auch hier kommt die Hand ins Spiel, die das Erzählen begleitet durch Gestik, ja, Gefühle erweckt bei den Hörern, weil sie anrührt oder auch die Welt ertastet, die Erinnerungen beschwört. Das englische Verb to tell gibt noch deutlicher die Identität von erzählen (to tell a story) und zählen (to tell the time) preis.
Die Hand zählt, wenn sie in einem mechanischen, wiederholbaren Akt Markierungen nacheinander setzt; sie erzählt, wenn sie sich organisch bewegt, Bilder zaubert oder Gefühle malt. Dann ist sie nicht digital, d.h. sie zeigt nicht einfach mit Fingern oder zählt ab, sondern benutzt ihr ganzes Bewegungsspektrum. Zwei Funktionen der Hand, aus denen man den Gegensatz zwischen den beiden Kulturen, den Geistes- und Naturwissenschaften deuten kann, oder noch mehr: den Gegensatz zwischen analogen Bewegungen und digitalen Repräsentationen. Wenn ich zeige zum Zählen, hebe ich einen Teil hervor, der für das Ganze steht. Zum Beispiel zeige ich auf den Kopf des Bullen, den caput (lat.). Die Anzahl der Köpfe, die für den ganzen Bullen stehen, bilden mein Kapital. Ich verhalte mich also metonymisch, wenn ich den Teil das Ganze vertreten lasse. Wenn ich aber den Bullen mit meinen Händen in der Luft nachmale, seine Größe, Stärke und Form, dann bewege ich mich analog. Ich vergleiche, ich gehe nach Ähnlichkeit vor, wie jemand der metaphorisch redet.
Derzeit erleben wir den Siegeszug des Digitalen. Noch während ich dies schreibe, bediene ich mich der Technologie, die von diesen rechnenden Fingern hervorgebracht wurde; selbst wenn ich die Gestaltungskraft der Hände preise, die da schnitzen, kneten, simulieren, tanzen oder meine Nase kratzen.
Die Hand hat weitere Funktionen. Sie zeigt nach vorne, sie führt an, sie droht, sie warnt, sie fürchtet sich, sie ergibt sich. Wir sind mitten in Geschichten angekommen, in politischen wie gesellschaftlichen, familiären wie biographischen. Indem sie nach vorne zeigt, deutet sie auf die Zukunft. Um uns dorthin mitzunehmen, sei es als Gefolgsleute, sei es als gebannte Zuhörer, muss sie in den Erzählmodus fallen, uns etwas ausmalen, Schönes oder Bedrohliches, alles was uns bewegt. Dabei ist ihre eigene Geschichte, als die der zählenden und erzählenden Hand immer präsent.
Als das Alphabet erfunden wurde, war ein erster Schritt getan, das lautliche Zeichen durch ein visuelles zu ersetzen. Aus dem stimmlichen Ton wurde ein Buchstabe. Eine Abkehr von der Ähnlichkeit, die zuvor durch bildliche Darstellungen (Alpha war ein Stier, Beta ein Haus) noch gesucht wurde. Die ersten Herrscher über die Buchstaben waren Magier und Priester, Eingeweihte. Das engl. spell gibt auch hier Auskunft: als Verb heißt es buchstabieren, als Substantiv Zauberspruch. Die Kenntnis der neuen Technik verlieh Macht und schloss aus. Abstraktion ist Macht.
Der Prozess heißt Abstraktion: immer weniger steht für immer mehr. Dem vorsokratischen Pythagoras wurde diese Erkenntnis zugeschrieben: Alles ist Zahl. Das heißt, wenn ich die Welt wissenschaftlich erzählen will, muss ich das Werk der Zahlen kennen. Noch hatte jede Zahl ein symbolisches Kraftfeld: ungerade Zahlen waren gut, gerade Zahlen waren schlecht, die 6 und die 28 waren die ersten Vollkommenen Zahlen, die 3 stand für die Dreifaltigkeit, die 5 für die Wunden Jesu. Dann stürzte die Null ins System (übrigens noch vor den Indern von den Maya benutzt), aus lat. nulla figura, also „kein Zeichen.“ Das Nichts hatte nur noch einen Widerpart, die Eins. Leibniz studierte das chinesische Orakelbuch I Ging und stellte sich ein System vor, das alle Zahlen nur noch durch 1 und 0 repräsentiert, das binäre System. Abstraktion über Abstraktion, die Sinneswelt auf der Flucht, eine kopernikanische Wende in der Zahlenwelt. Unvorstellbar, wie für die meisten von uns der wahre Sonnenaufgang, der eben keiner ist. Jede Zukunftserzählung, zumal mit dem Aufkommen der Science Fiction, dem Einfluss der abstrahierenden und spezialisierenden Wissenschaften, musste mit sich diesem Sinnesentzug, dieser Misstrauenserklärung an unser leiblich-sinnliches Dasein und unsere Wahrnehmungsform auseinandersetzen.
Immer schon gab es Allianzen zwischen Buchstaben und Zahlen, so in der Kabbala oder im Koran, wenn Verse umgerechnet werden in Zahlen und Buchstaben Zahlenwerte haben. Das Erzählen und Zählen nähern sich dann an und erzeugen neue Wirklichkeiten. Der neuzeitliche Prozess aber besteht letztlich in der Ersetzung der Zeichenwelt durch Zahlen. Moleküle werden durch Zahlen und Formeln beschrieben, ebenso physikalische Gesetze oder sprachliche Vorgänge. Ich denke, ein großer Teil unserer Zukunftsentwürfe von der Antike bis heute steht unter dem Zeichen der Auseinandersetzung zwischen Zählen und Erzählen, zwischen digital und analog, zwischen Metonymie und Metapher, Repräsentation und Ähnlichkeit. Die Hand, die die Erinnerungen belebt, ist auch die Hand, die in die Zukunft zeigt, in ein Nirgendwo, das wir nur imaginieren können. Wir tun dies mit Hilfe der zählenden Finger
Zukunft: Utopie / Dystopie
Wann haben Menschen gelernt, über die Zukunft zu reden, und warum? Zukunft dürfte schon für die Jäger und Sammler eine Kategorie gewesen sein, denn sie mussten sich an die Zyklen der Natur halten. Und diese verlangen, dass man sich an das erinnert, was kommen wird – die Jagdsaison, der Herbst, der Winter. Zukunft ist also zunächst eine Erinnerung an die Vergangenheit. Das kann so lange gelingen, wie die Zyklen Regeln einhalten. Werden diese aber durch Naturkatastrophen durchbrochen, müssen Denkformen erfunden werden, die über das Bekannte hinausgehen. Es reicht nicht mehr die Ähnlichkeit, es muss gerechnet werden.
Doch das vorgeblich Unbekannte wird immer wieder durch Rückbezug auf Bekanntes vorgestellt. Die frühen Dichter wie die religiösen Anführer redeten von Paradiesen und Goldenen Zeitaltern, die sie in einer tiefen Vergangenheit lokalisierten. Und jeder Einzelne kann solchen Gedanken folgen, denn auch wir lebten in einem Paradies, das sich Mutterleib nannte. Dies ist wie die der großen Menschheitserinnerungen ebenfalls eine ‚verlorene Zeit’. Der französische Autor Marcel Proust spürte ihr nach, als er den Geschmack eines Gebäcks entdeckte, das ihn wie eine Zeitmaschine zurücktrug in die unermesslichen Welten seiner eigenen Kindheit.
Alles utopische Denken, das sich mit dem Nirgendwo beschäftigt, geht also auf solch Vergangenes zurück. U-topos bedeutet griechisch bekanntlich der Nicht-Ort, aber er ist vor allem eine Nicht-Zeit, ein Nicht-Mehr – ein Abschied von der Metapher, die uns Ähnliches unterschieben will.
Platon erschuf sich sein Atlantis als ideale Republik, es lag weit zurück in sagenhafter Zeit und sollte Phantasten und Theosophen im 19. Jahrhundert wieder zur Suche anregen. In der Neuzeit griff Thomas Morus solche Mythen wieder auf und veröffentlichte vor genau 500 Jahren seinen Manifest-Roman Utopia. Thomas Morus’ Werk fällt in die Renaissance, eine Zeit der Neubestimmung aller kulturellen Koordinaten. Man besann sich zurück auf die Antike, man schaute voraus und engagierte sich in Projekten für die Zukunft – die ideale Stadt, der ideale Staat, der ideale Mensch. Aus dem Nicht-Mehr der Vergangenheit wurde ein Extrakt für das Noch-Nicht gewonnen. Das Entstehen eines historischen Sinnes erzeugte zugleich dessen Fortschreibung in die Zukunft.
Programme wurden erstellt auf dem Reißbrett. Hier war das Rechnen und Geometrisieren gefordert. Ganze Ländereien mussten für die imaginäre Ausführung herhalten. Auffällig ist dabei, dass es sich immer um Inseln, also isolierte Räume und Zeiten, handelt, auch im übertragenen Sinn. Es kann die Insel eines Morus sein, die zunächst Halbinsel ist, aber dann von einem König vom Festland abgetrennt wird. Es kann der Mond sein, auf dem utopisch gelebt wird, etwa bei Cyrano de Bergerac (Der Mondstaat). Es kann auch eine mittelalterliche Parallelwelt wie bei William Morris (Nachrichten von Nirgendwo) oder bei Mark Twains Connecticut Yankee am Hofe König Arturs sein, der durch einen Schlag auf den Kopf in die alte Zeit zurückkatapultiert wird und dort für einen Regime Change sorgt, der das gesamte Mittelalter in die Luft sprengen sollte. Parallele Welten auch in der gespaltenen Zukunft eines H.G. Wells. In seinem Klassiker Die Zeitmaschine (1895) stoßen wir mit dem Zeitreisenden im Jahre 802 701 auf ein England, das in eine Unter- und eine Oberflächenwelt geteilt ist. Oben scheint es utopisch-schön zuzugehen, unten lauern die Bösen im Dunkeln, die Morlocks. Wells, der explizit die Zukunft entdeckte (Die Entdeckung der Zukunft, 1901), kann nicht umgangen werden, wenn man über moderne Dystopien und Utopien spricht. Er hat die Saat für beide gelegt. Auf der einen Seite hat er sich eine eugenisch perfekte Welt ausgedacht, auf der anderen war er erschrocken über die Zukunft, die auf uns zukommt. Seine Marsmenschen in Der Krieg der Welten sind ja evolutionäre Fortentwicklungen des Menschen, unsere Zukunft sozusagen. Und diese Zukunft greift die Gegenwart an, um sie auszusaugen. In Wells finden sich alle Motive, die dann bei Huxley und Orwell zu den bekannten Dystopien führen. Wobei Huxleys Schöne Neue Welt ja zugleich sehr schön-utopisch angelegt ist. Auch Huxley schwankte in seiner Beurteilung dieser chemisch gelenkten Utopie. Vielleicht wollen wir das ja so?
Wichtig ist in all diesen Werken, dass experimentiert werden kann, und das geht nur in laborartig isolierten Umwelten, in denen man die Analogie zur Realität aufheben kann. Der Einfluss der herrschenden Gegenwart muss minimiert sein. Aber Insel ist nicht gleich schöne Welt. Auffällig ist, dass die meisten Experimente in dieser Richtung seit dem 19. Jahrhundert schief gehen und Dystopien hervorbringen. Nicht zuletzt Charles Darwin hat hier nolens volens Vorlagen geschaffen. Die Beobachtung der Evolution gibt keinen Aufschluss über den Sinn des Ganzen und nicht einmal die Richtung lässt sich voraussagen. So kamen Ende des 19. Jahrhunderts auch Vorstellungen der Degeneration auf, die sich sogleich auf die Gesellschaft anwenden ließen. Der Journalist und Kulturkritiker Max Nordau landete in dieser Zeit mit seinem Buch Entartung einen europäischen Bestseller.
Ob es die Übernahme der Herrschaft durch Roboter und Maschinen ist oder die Katastrophen, die aus dem genetischen Eingriff in die Natur entstehen, sind – Prophezeiungen für die Zukunft werden immer finsterer. Der Einbruch des Mechanischen, der Herrschaft der Zahl und der Statistik erzeugt fortwährend Ungeheuer. Vieles ist zunächst schön gedacht, doch wenn man sie umsetzt in die Wirklichkeit einer erzählten Welt, die ja mögliche Verläufe simulieren will, erlebt man bald, wie schnell die angestrebte Utopie umkippt und alles vergiftet. Die Eugenik ist ein Beispiel für die Dominanz der Statistik über das Individuelle. Kollektive sind dem Einzelnen zahlenmäßig überlegen. Züchtungen folgen einem Kalkül.
H.G. Wells‘ Doktor Moreau (Die Insel des Dr. Moreau, 1896) hatte einst den hehren Wunsch, aus Tieren Menschen zu machen. Er bezog eine Insel im Pazifik und machte sich an die Arbeit. Mit Hilfe von Chirurgie, Hypnose und Chemie kam er ein Stückchen weit voran, doch eines Tages revoltierte die Natur der Jaguar-Frauen und Menschen-Affen. William Golding setzte eine Horde von Jungen nach einem Unfall auf einer Insel aus – es hätte ein schönes Jungen-Abenteuerland werden können, doch bald holt die Wirklichkeit die Knaben ein; sie werden böse wie die Erwachsenen, deren Welt sie eigentlich entkommen waren (Herr der Fliegen). Interessant ist, dass die wirkungsmächtigsten Utopien/Dystopien aus der angloamerikanischen Welt kommen, man denke nur an Namen von Aldous Huxley und George Orwell bis Margaret Atwood. (Warum das so ist, müsste einmal ergründet werden, es gilt ja auch für Fantasy und Kinderbuch und viele Klassiker der Weltliteratur.)
Dennoch erleben wir auch heute noch Ansätze zu utopischen Bildwelten. Unsterblichkeit ist ein großes Thema geworden (auch dies mit Gruß aus tiefster Vergangenheit!) und man sucht sie durch Einfrieren, Genetik oder entsprechende Software zu erreichen. Digital lässt sich ohnehin einiges an Unsterblichkeit erreichen, wenn wir an Ray Kurzweils Phantasien denken. Doch es wird immer nur zu kurz gedacht, zu sehr im Korsett von Zahlen und Software.
Das Dilemma der Unsterblichkeit hat der Anti-Utopiker Jonathan Swift schon bedacht in Gullivers Reisen. Dort trifft der Schiffsdoktor Gulliver auf den Stamm der Unsterblichen – und ist entsetzt. Andere setzen auf ökologische oder feministische Utopien, die aber auch faschistoide, zumindest kollektivistische Züge annehmen können (Ernest Callenbachs Ökotopia, 1975, Charlotte Perkins Gilmans Herland, 1890). Züchtung und Eugenik, Anpassung und Kontrolle tauchen immer wieder in solchen positiv gemeinten Utopien auf.
Digitale Dystopie
Wieder andere sehen die Zukunft in einer kompletten digitalisierten Welt, etwa der Australier Greg Egan in Diaspora von 1997. Darin gibt es nur noch künstliche Intelligenzen und die Welt könnte somit gerechter und besser sein, vor allem rationaler. Auch dieser Traum dürfte sich sehr bald als Alptraum erweisen, denn der Mensch entkommt nicht seinen evolutionären Bedingungen, ohne sich selbst aufzugeben. Möglicherweise ist unser altes Reptiliengehirn besonders tätig, wenn wir an die Zukunft denken. Das Unbekannte bedeutet in erster Linie Gefahr und wir schalten auf Sicherheit und negative Gefühle. Wir stellen, auch literarisch, die Stacheln des Misstrauens auf. Von Daniel F. Galouyes Simulacron-3, das von Fassbinder als Welt am Draht verfilmt wurde, bis zum Film Matrix (1999) der Geschwister Wachowski wird das Eintauchen in digitale Welten als Entfremdung, Verlust von Selbstbestimmung und Fernsteuerung erlebt. Paranoia, wohin man schaut – Das Schweigen der Lämmer eingeschlossen. Die Entfesselung der Zahl im digitalen Weltreich ruft alte Ängste zurück, vor allem den des leiblichen Verlustes. Was passiert mit unserem Körper und unseren Sinnen, wenn alles nur noch eine Folge von Zahlen ist? Auch dies hat schon in den 1920er Jahren die Science Fiction vorausgesehen. Evgenij Zamjatins Wir (1920) kennt nur noch Zahlen statt Namen für die Akteure – und war ein wichtiges Vorbild für Orwells Dystopie 1984. Es sind ja nicht mehr die symbolisch-qualitativen Zahlen, die, wie oben erwähnt, spirituelle und politische Orientierung schaffen, sondern beliebige Folgen, so sinnlos und unberechenbar wie die Stellen nach dem Komma bei der Zahl π. Nicht ohne Grund tauchen in Matrix gnostische Motive auf – der Untergott, die Entleiblichung und Codierung, der Dualismus von Gut und Böse, die Täuschung. Allesamt beziehen sie sich auf Ängste, die aus der tiefsten Vorgeschichte unserer Gattung kommen, und sich in der technisch-digitalen Verkleidung neu aufstellen. Denn wo viele Wünsche wahr werden, werden alle sie begleitenden Schatten gleichfalls wieder mächtig. Hier gibt es kein Entrinnen. Es ist wohl auch die Herrschaft der zählenden Finger, die von der erzählenden Hand immer wieder in Frage gestellt werden muss: Wenn ihr euch, ihr Zahlengötter und Zahlenanbeter, als unsere Erzeuger darstellt, so müssen wir euch entgegnen: ohne unsere Erzählung wäret ihr nichts. Ist hier möglicherweise auch im Spiel, dass die virtuellen Welten, die auf Digitalisierung zurückgehen, von Menschen erfunden und verstärkt werden, die man als Nerds bezeichnet und die uns somit ihre beschränkte, hochspezialisierte Welt aufdrängen wollen? Wir brauchen sie selbstverständlich, wir kaufen ihnen vieles ab, aber etwas regt sich in unserem erzählenden Teil, dass nicht damit einverstanden ist. Wir fühlen uns eingemauert von hohen Wänden, und da ist etwas in uns, das Mauern nicht mag, wie Robert Frost es einmal in einem Gedicht gesagt hat: „Something there is that doesn‘t love a wall…”
Das Digitale will immer durch das Analoge, das Abstrakte durch das Berührend-Konkrete ergänzt werden. Eine Welt, die von Statistik und Zahl, von anonymen Zeichen und Formeln gesteuert wird, wollen und können wir uns nicht vorstellen. Sie scheint einem autistischen Gehirn entsprungen zu sein, das kontrafaktisch und sinnenfeindlich konstruiert ist. Dann nehmen wir Rache und wir finden sie in bösen Geschichten.
Für Utopien gibt es ja den schönen Ausdruck „Himmel auf Erden“. Doch dieser heruntergeholte Himmel hat auf Erden gar keinen Platz. Er ist zu groß und zu schön für uns unvollkommene Wesen. Wir können ihn nur künstlich erzeugen wie eine Matrix, in der alle zu ihrem Glücklichsein gezwungen werden. Es geht also sogleich um Zwang. Utopie ist eigentlich kein Ort, eben Kein-Ort, sondern ein äußerst flüchtiges Wesen, das nur deshalb lebt, weil es ständig auf der Flucht ist vor der Realität. Sobald es von der Realität eingeholt ist, verwelkt es und vergiftet dabei seine Umgebung. Manche Utopien werden nur ein paar Sekunden alt, andere hält man ein paar Stunden aus, manchmal geht es auch einige Jahre gut. Utopien bleiben nur dann Utopien, wenn sie nicht dauern. Nur Dystopien dauern.
Kein Mensch ist immer und überall glücklich, sonst wäre er allenfalls ein Gott. Es widerspricht dem Glück, dass es permanent ist. Glück ist nur fühlbar im Kontrast: kein Licht ohne Schatten, kein Dunkel ohne das Helle. Polarität ist unser wirklicher Dauerzustand, bei den einen mehr, bei den anderen weniger. Und dennoch, es muss weiter fabuliert werden an dem was kommt und kommen soll, was erwünscht und gefürchtet wird. Das tun wir alle von Tag zu Tag, das tut die Menschheit in ihren utopisch angelegten Büchern. Selbst die Vergangenheit nimmt in der fälschenden Erinnerung utopische Züge an. Sprache und Phantasie bleiben unsere Werkzeuge, die Zukunft zu ergründen und trotz allem ein besseres Leben zu erfinden oder es zumindest zu reflektieren.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.