„Uns ist in alten Mären Wunders viel gesagt
von Helden, lobeshehren, von Taten, kühn gewagt,
von frohen Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen
von kühner Recken Streiten mögt Ihr nun Wunder hören sagen.“
(Das Nibelungenlied)
Das „Nibelungenlied“ ist die bedeutendste hochmittelalterliche Ausformung der Nibelungensage um Siegfried, den Drachentöter, die starke Brünhild, den verschlagenen Hagen von Tronje und die rachsüchtige Kriemhild, die in ihrem Vergeltungsdrang letztendlich alle Beteiligten ins Verderben führt. Ein symbolträchtiges Werk, welches längst zum deutschen Kulturkanon gehört. Im Nibelungenmuseum Worms wird dieser jahrhundertealte Mythos mit Hilfe digitaler Medien anschaulich zu neuem Leben erweckt. So erfahren die Besucher im „Sehturm“ Wissenswertes über die Entwicklungsgeschichte der Sage, während sie im „Hörturm“ über die sprach- und literaturwissenschaftlichen Hintergründe informiert werden. Das beeindruckende Panorama lädt ein zu einer Zeitreise durch das Land der Nibelungen, während das unterirdisch gelegene „Mythenlabor“ Raum bietet, sich in die Welt der Sagen zu begeben.
Genau dieses Mythenlabor war der Ort, an dem sich am vorletzten Novemberwochenende 2019 Mitglieder und Freunde des Symbolforscherkreises Symbolon, Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung, zum mittlerweile jährlich stattfindenden Symbolforscherkreis einfanden, der eine Vielzahl inhaltsreicher Themen bereithielt.
Symbolon widmet sich interdisziplinär der Erforschung von Symbolen in Kunst, Wissenschaft und Kultur; eine wichtige Rolle spielt hierbei u.a. die vergleichende Mythologie. Vor allem die Beschäftigung mit letzterer inklusive all der damit verbundenen Themenbereiche bildet eine vielversprechende Basis für eine künftige Synergie, denn für den Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie – der darauf bereits in seinem Namen hinweist – stellt der interdisziplinäre Mythenvergleich einen der Hauptschwerpunkte dar.
Bereits zu Beginn dieses Jahres entstand ein reger Austausch zwischen den beiden Vereinen. Elmar Schenkel, Vorsitzender unseres Arbeitskreises, reiste beispielsweise im Frühjahr zur 58. Jahrestagung von Symbolon unter dem Titel „Phantastische Welten und imaginäre Länder“ ins oberbayrische Gilching.
Als Vertreterin der Leipziger Mythologen hatte ich nun die Freude, am Symbolforscherkreis in Worms teilnehmen zu dürfen, wo mir durch die Kollegen von Symbolon ein herzlicher Empfang bereitet wurde. Der Leiter des Nibelungenmuseums Worms, Olaf Mückain, begrüßte die Teilnehmer der Tagung persönlich, reihte sich in die Zuhörerschaft ein und ergänzte die angeregten Diskussionen durch seine fachkundigen Beiträge.
Es gab Spannendes über Okkulte Kunst und die Transformation des Mythos in der Moderne zu hören (Martin Weyers), über „Vergessene Symbole – rätselhaftes Verhalten“ mit der Deutung von Zeichen und Figuren, die vor allem in der Kirchenbaugeschichte Rätsel aufgaben (Ulrich Fritsche), aber auch über den Symbolgehalt des Bußganges Heinrichs IV. nach Canossa (Oliver Münsch), die Symbolzahlen in vorgeschichtlichen Kulturen (Werner Heinze) oder die Verknüpfung neuer Musikrichtungen mit Heimat-Symbolik (Andreas Mang).
Ich möchte hier auf zwei Vorträge näher eingehen, deren Thematiken mich besonders beschäftigt haben.
Die mythologischen Gestalten von Orpheus und Eurydike – genauer gesagt, ihre Handlungsmotivation im entscheidenden Moment der Geschichte – wurden von Musikwissenschaftler Hermann Jung in seinem Vortrag „Orpheus dreht sich um – menschliche Verfehlung oder Liebesbeweis?“ untersucht. Die mythologischen Gestalten von Orpheus und Eurydike – genauer gesagt, ihre Handlungsmotivationen im entscheidenden Moment ihrer beider Geschichte – sind in vielfältiger Weise in die dramatische Dichtung und deren Vertonung eingegangen.
Der trauernde Sänger und Dichter Orpheus bittet die Götter der Unterwelt, seine verstorbene Gattin Eurydike aus derselben wieder ins Reich der Lebenden zurückholen zu dürfen. Seinem Wunsch wird entsprochen, jedoch nur unter der Bedingung, dass er vorangehen möge und die Geliebte nicht anschauen dürfe. Orpheus hält dem nicht stand – als er hinter sich Eurydikes Schritte nicht vernehmen kann, dreht er sich nach ihr um – und verliert sie dadurch zum zweiten Male. Claudio Monteverdi und Christoph Willibald Gluck in ihren Opern „Orfeo“ (Uraufführung 1607) bzw. „Orfeo ed Euridice“ (Uraufführung 1762) und Igor Stravinsky in seiner 1948 uraufgeführten Ballettkomposition „Orpheus“ verarbeiteten diese schicksalhafte Szene auf leicht unterschiedliche Weise, was uns durch Musikwissenschaftler Jung an verschiedenen Klangbeispielen anschaulich präsentiert wurde.
In den beiden barocken Opern wird Orpheus jeweils durch seine Gefühle für seine Gattin übermannt – bei Monteverdi lässt ihn ein unerwartetes Geräusch sich erschrocken zu seiner Gattin umwenden, bei Gluck ist es Eurydike, die sich beschwert, dass ihr Gatte sie nicht mehr liebe, worauf dieser sich ihr zärtlich zuwendet. Stravinsky lässt seinen tanzenden Orpheus zunächst mit verbundenen Augen stolpern und dadurch Eurydikes Hand verlieren, worauf sich dieser erregt die Augenbinde abreißt und seine Gattin erblickt. Jedes Mal wird so das Unheil ausgelöst; einzig Gluck lässt daraufhin Amor eingreifen und dem Geschehen zu einem glücklichen Ausgang verhelfen. Ganz gleich, welche Beweggründe Orpheus dazu veranlassen, seine Gattin anzublicken – mich ergreift diese Szene in jeder ihrer mannigfaltigen Darstellungen sehr.
Auch Henning Weyerstraß‘ Ausführungen über die Forschungsergebnisse zu C. G. Jungs „Das Rote Buch“, zu welchen er selbst maßgeblich beitrug, haben mich in hohem Maße beeindruckt. Über etliche Jahre hielt Jung seine Visionen, Phantasien und Träume in einer Art Tagebuch fest. Er tat dies in kunstvoller Weise, gestaltete es in illuminierter mittelalterlicher Handschrift und versah es mit von ihm selbst gemalten Bildern. Da der Urheber verfügt hatte, es nicht zu veröffentlichen, bekam es zunächst niemand zu sehen, es wurde jedoch fast fünfzig Jahre nach Jungs Tod der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Werk gilt als außergewöhnliches und wegweisendes Vermächtnis des Schweizer Tiefenpsychologen. Ich wusste zugegebenermaßen noch nicht viel über diese bemerkenswerte Schöpfung Jungs – und betrachtete gebannt die mittels Beamer projizierten Ausschnitte, deren Bilder mich später bis in meine Träume hinein begleiteten. Für mich bestätigt sich damit nicht zuletzt die tiefenpsychologische Wirkung dieses Kunstwerkes.
Ich werde an diesem Tag, der mir in sehr angenehmer Erinnerung bleiben wird, nicht zum letzten Mal Teilnehmerin dieser bereichernden und gehaltvollen Veranstaltung gewesen sein. Beide Vereine schauen gemeinsamen wissenschaftlichen Aktivitäten gespannt entgegen und freuen sich auf eine gehaltvolle Zusammenarbeit.
Ein Beitrag von Isabel Bendt
Literaturhinweis:
Deutsche Heldensagen. Die Nibelungen, Dietrich von Bern, Gudrun. Erzählt von Carl Peter Rauhof. Nicol Verlagsgesellschaft mbH, 1996.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Danke, Isabel, für den gehaltvollen Bericht. Als Literaturhinweis könnte man noch die Germanischen Sagen des Ehrenpräsidenten unseres Arbeitskreises Vergl. Mythologie hinzufügen, Reiner Tetzner, erschienen im Reclam Verlag