Zeit und Maß in Relation – Teil 2

Im ersten Abschnitt gingen wir von Nachweisen der Angaben von Zeit von schriftlosen Kulturen aus und ließen uns durch die materiellen Hinterlassenschaften verschiedener Zeiten tragen. Das zweite, wesentlich kürzere Kapitel führt uns zu philosophischen und theologischen Fragen.

1. Schriftkulturen und die Frage: Was ist Zeit?

Es ist sinnvoll, für Antworten auf diese Frage in der griechischen Philosophie Umschau zu halten. Unter den Vorsokratikern hat v.a. Zenon von Elea (ca. 490 ‑ 430 v. Chr.) mit seiner berühmten Paradoxie des Zeitpfeiles [1] für Verwirrung gesorgt:

Wenn alles, das sich in gleichförmiger Weise verhält, entweder in beständiger Ruhe oder beständiger Bewegung, alles sich Bewegende aber stets im Jetzt ist, so ist der fliegende Pfeil ohne Bewegung.

Das Seiende ohne Bewegung und unveränderlich – rein statisch gedacht. Ein kurzer Augenblick des Geschehens bestimmt die Gedanken; bei Augustinus lesen wir später, es sei die Gegenwart (die keine Ausdehnung habe). In genau diesem Augenblick leben wir. – Zenon, ein Schüler des Parmenides, philosophiert in der Zeit der frühen Pythagoreer (Pythagoras: ca. 570 / 560 ‑ 480 v. Chr.), die der Meinung sind, daß nicht die Dinge an sich, sondern die sie bestimmenden mathematischen Gesetze zeitlos und ewig seien.

Für Platon (427 ‑ 348/347 v. Chr.) sind die seienden Dinge lediglich Abbilder der zeitlosen Urbilder, der ewigen Ideen der Dinge. Im bekannten Ursprungsmythos im Timaios heißt es [2]:

Als der gestaltende Vater sah, daß der Kosmos als Abbild der ewigen Götter von Leben und Bewegung erfüllt war, freute er sich und beschloß, das Abbild dem Urbild noch ähnlicher zu gestalten … Und so bildete er, indem er zugleich dem Himmel seine innere Ordnung gab, von dem in sich ruhenden Aion ein sich der Zahl gemäß bewegendes Abbild, die Zeit.

Zeit wird demnach durch die Zahl der Kreisbewegungen der Sphären am Himmel bestimmt. Sie entsteht erst mit dem Kosmos.

Dagegen wendet sich Aristoteles (384 ‑ 322 v. Chr.), der jedem Seienden die allgemeine Form und die spezifische Materie zuerkennt. Veränderungen der Materie sind zielgerichtete Prozesse (z.B. das Wachsen eines Baumes); sie sind wirklich, sie sind ein Kontinuum der Bewegung. Die Zeit hingegen habe kein eigenes Dasein:

Die Zeit ist aber nicht Bewegung, sondern das Abzählbare an ihr.

Aristoteles entwickelt damit eine Logik der Modalitäten der Zeit: wirklich ist, was jetzt realisiert (= wahr) ist;  möglich ist, was zu irgendeiner Zeit wahr ist;  notwendig ist, was zu jeder Zeit wahr ist. Dazu die berühmte aristotelische Analyse des Satzes: Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden. Schon jetzt ist wahr, daß morgen eine Seeschlacht stattfinden wird oder daß morgen eine Seeschlacht nicht stattfinden wird. Welche der beiden Aussagen richtig sein wird, wissen wir heute noch nicht. In jedem Fall aber ist diejenige Aussage, die morgen wahr sein wird, bereits heute wahr.

Im wesentlichen hat Augustinus mit seinen Überlegungen zum Thema Zeit die christliche Tradition geprägt. Augustins Schöpfergott hat die Zeit mit der Welt erschaffen[3]: „… cum sis omnium saeculorum auctor et conditor … id ipsum enim tempus tu feceras … non enim erat ‘tunc’, ubi non erat tempus“. Das heißt, die Zeit ist nicht ewig. Bei Augustin tritt aber, wie wir sehen werden, die Frage nach dem Wesen der Zeit in den Vordergrund. Zur Einstimmung:

Wie ist die Zeit? Was ist uns ein vertrauteres und geläufigeres Wort als die Zeit? Immer wissen wir beim Reden, was wir meinen, und verstehen es auch, wenn wir es von einem anderen hören. Was ist also die Zeit? Solange mich niemand danach fragt, ist es mir, als wüßte ich es; fragt man mich aber und soll ich es erklären, dann weiß ich es nicht mehr.

Damit gehören Zeit und Weltseele zusammen, nicht etwa Zeit und individuelles Zeitgefühl. Somit gibt es für die Zeit einen Anfang und eine Richtung (im Gegensatz zu zyklischen Vorstellungen anderer ‑ etwa östlicher ‑ Religionen).

Aurelius AUGUSTINUS , der große Kirchenvater, Bischof der nordafrikanischen Stadt Hippo und Philosoph lebte zwischen 354 und 430. In seinem berühmtesten Werk, den „Bekenntnissen“, stellt er im elften Buch die Frage, was Gott vor der Schöpfung getan habe. Notwendig kommt Augustinus zu dem Schluß, es könne kein ‘damals’ gegeben haben, weil Gott vor der Schöpfung die Zeit noch nicht geschaffen hatte. Das führt weiter zur wichtigsten Frage: Was ist Zeit?

Denn was ist Zeit? Wer könnte das leicht und kurz er­klären? Wer es denkend erfassen, um es dann in Wor­ten auszudrücken? Und doch – können wir ein Wort nennen, das uns vertrauter und bekannter wäre als die Zeit? Wir wissen genau, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, verstehen’s auch, wenn wir einen an­dern davon reden hören. Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht. Doch sage ich getrost: Das weiß ich, wenn nichts verginge, gäbe es keine vergangene Zeit, und wenn nichts käme, keine zukünftige, und wenn nichts wäre, keine gegenwärtige Zeit. Aber wie steht es nun mit jenen beiden Zeiten, der vergangenen und zukünftigen? Wie kann man sa­gen, daß sie sind, da doch die vergangene schon nicht mehr und die zukünftige noch nicht ist? Die gegenwär­tige aber, wenn sie immer gegenwärtig wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, son­dern Ewigkeit. Wenn also die gegenwärtige Zeit nur dadurch Zeit wird, daß sie in Vergangenheit übergeht, wie können wir dann sagen, sie sei, da doch der Grund ihres Seins der ist, daß sie nicht sein wird? Muß man also nicht in Wahrheit sagen, daß Zeit nur darum sei, weil sie zum Nichtsein strebt?

Ein paar Abschnitte weiter stellt Augustin die Frage: Wie kann man vorübergehende Zeit messen?

Ich sagte vorhin: Wir messen die Zeiten, wenn sie vorüberziehen, so daß wir sagen können, dieser Zeitabschnitt sei doppelt so lang oder ebenso lang wie jener oder was wir sonst über Zeitteile messend feststellen können. Wenn nun jemand gegen meine Behaup­tung, daß wir die Zeiten im Vorüberziehen messen, einwenden sollte: Woher weißt du das?, so möchte ich ihm antworten: Ich weiß doch, daß wir sie messen, aber wir können nicht messen, was nicht ist, und Ver­gangenes und Zukünftiges ist nun einmal nicht. Aber wie messen wir die gegenwärtige Zeit, wenn sie keine Ausdehnung hat? Sie wird also gemessen, wenn sie vorübergeht, nicht jedoch, wenn sie vorübergegangen ist, denn dann gibt’s nichts mehr, was man messen könnte. Aber woher und wo hindurch und wohin geht sie vorüber, wenn sie gemessen wird? Woher, wenn nicht aus der Zukunft, wo hindurch, wenn nicht durch die Gegenwart, wohin, wenn nicht in die Vergangenheit? Also von jenem her, was noch nicht ist, hindurch durch das, was keine Ausdehnung hat, hin zu dem, was schon nicht mehr ist. Und doch messen wir eine irgend­wie ausgedehnte Zeit. Denn wenn wir zeitliche Aus­sagen machen und vom Einfachen, Doppelten, Drei­fachen, Gleichen oder von sonstigen Zeitverhältnissen sprechen, meinen wir ausgedehnte Zeitabschnitte. In welchem Zeitraum messen wir also die vorüberziehende Zeit? Etwa in der Zukunft, von wo sie vorüberzieht? Aber was noch nicht ist, können wir nicht messen. Oder in der Gegenwart, durch welche sie hindurchzieht? Doch wo keine Ausdehnung ist, können wir nicht mes­sen. Oder in der Vergangenheit, wohin sie abzieht? Aber was nicht mehr ist, können wir auch nicht messen.

Dann der Seufzer:

So messe ich, Herr, mein Gott, und weiß nicht, was ich messe. … Woran messe ich denn die Zeit selber? Messen wir etwa eine längere Zeit an einer kürzeren, wie die Länge eines Balkens mit einer Elle? In der Tat, wir messen augenscheinlich die Dauer einer langen Silbe an einer kurzen und sagen, sie sei doppelt so lang. … Aber auch so gewinnen wir kein sicheres Maß der Zeit. Denn es kann geschehen, daß ein kürzerer Vers, wenn er langsam vorgetragen wird, mehr Zeit beansprucht als ein längerer, den man rasch aufsagt.

Diese Verknüpfung der Zeit mit dem Wort sollte nicht zu sehr verwundern, denn nach dem Anfang des Johannes-Evangeliums beginnt die Welt mit dem Wort.

Die wichtigen Fragen faßt Augustin wenig später zusammen:

Ich beschwöre dich, mein Gott, was messe ich, wenn ich unbestimmt sage: Diese Zeit ist länger als jene, oder auch bestimmt: Sie ist doppelt so lang, ver­glichen mit jener? Ich messe die Zeit, das weiß ich. Aber ich messe nicht die zukünftige, denn die ist noch nicht, auch nicht die gegenwärtige, denn sie hat keine Ausdehnung, auch nicht die vergangene, denn sie ist schon nicht mehr. Was also messe ich? Etwa die vorübergehenden, nicht die vorübergegangenen Zeiten? Ja, so sagte ich schon.

Schließlich läuft Augustins Diskurs darauf hinaus, daß die Zeit als Ausdehnung des Geistes begriffen wird[4]: „In te, anime meus, tempora metior“. Es sei die „affectio“, der Eindruck, den die Dinge beim Vorüberziehen erzeugten, der gemessen werde: „affectionem … ipsam metior“. Daher seien entweder diese Eindrücke die Zeiten, oder man messe die Zeiten nicht: „ergo aut ipsa sunt tempora, aut non tempora metior“.

Kann man die Zeit nun messen oder nicht? Die Antwort ist eindeutig: Augustinus hat recht. Wir messen nicht die Zeit. Auch unsere Uhren messen sie nicht. Wir registrieren mit Hilfe solche Gerätschaften höchstens eine Folge bestimmter Abläufe, etwa der Bewegungen der Unruhe. Wir ordnen ein Nacheinander, und diese Ordnung kann uns gegebenenfalls – wie wir später bei Gretels Lichtuhr sehen werden – ganz schön aus den Fugen geraten. Nacheinander können Sandkörner durch einen Engpaß rieseln oder Wassertropfen in ein Becken laufen. Genau damit operierte man im antiken Babylon beim Zusammenführen von

2. Zeit und Maß in der Zeitmessung

In der Verbindung von Zeit und Längenmaß galt die erste Frage der Länge. Konnte es möglich werden, die beiden Größen so miteinander zu verknüpfen, daß bei exakt festgelegter Schwingungsdauer eines Pendels das Längenmaß für dieses Pendel jederzeit wieder generiert werden konnte? Konnte es vielleicht gelingen, auf diese Weise eine Art „Naturkonstante“ zu gewinnen?

Diese Frage wurde in neuerer Zeit vom holländischen Wissenschaftler Christian Huygens aufgeworfen, der 1673 in „Horologium oscillatorium“ Überlegungen zum Pendel anstellte und dabei herausfand, daß ein Pendel auch bei größerer Auslenkung mit konstanter Schwingungsdauer ausschlägt, sofern das Gewicht eine Zykloide beschreibt [5] (also eine Kurve, die ein Punkt auf dem Umfang eines horizontal abrollenden Kreises durchläuft). Auf diese Weise wollte Huygens mit der Länge von einem Drittel des Pendels den pes horarius einführen. Das Vorhaben konnte aus zweierlei Gründen nicht durchgeführt werden. Zum einen standen die politischen Entwicklungen – der Krieg zwischen Ludwig XIV. und den Niederlanden – dem Vorhaben im Weg. Zum anderen zeigte sich, daß Huygens’ bereits 1664 geäußerter Vorschlag, ein Sekundenpendel zu dritteln, um den pes horarius zu generieren, an den von Ort zu Ort unterschiedlichen Gravitationskräften scheiterte. Denn wenige Jahre später fand Jean Richer heraus, daß Pendel gleicher Länge in Paris und Cayenne (Südamerika) unterschiedliche Zeiten bedeuteten. In Cayenne mußte die Länge des Pendels um 1¼ französische Linien gekürzt werden [6], um – etwa auf der Vergleichsbasis eines Sterntages – die gleiche Anzahl von Schwingungen und damit die gleiche Zeit anzuzeigen. – Die Absicht also, ein jederzeit wieder zu gewinnendes Längenmaß anhand der Zeit zu definieren, scheiterte, und spätestens in diesem Moment mußte deutlich werden (auch wenn man es sich nicht mit unseren Worten ins Stammbuch schrieb), daß die Zeit keine absolute Größe ist.

Die Kalibrierung eines Längenmaßes anhand einer definierten Zeit, eine Verbindung von Zeit und Länge also, die viel weiter zurückliegt und von der noch weniger bekannt ist als von den Versuchen des Holländers Huygens, gehört in das antike Babylon [7] des dritten Jahrtausends v. Chr. Wie viel später bei Huygens geht es auch hier um das Pendel, das exakt jene Länge hat, daß es eine Sekunde schwingt – das Sekundenpendel. Man kann einen entsprechenden Versuch mit geringen Mitteln (da uns ja geeignete Uhren als Zeitmesser zur Verfügung stehen, wir diesen Teil also nicht erst schaffen müssen) selber aufbauen.

Dafür gelten folgende physikalische Voraussetzungen [8].

  1. Innerhalb eines nicht zu großen Schwingungsbogens schwingt das Pendel stets im gleichen Takt; es passiert also zu stets gleichbleibenden Zeitabständen den unteren Totpunkt unabhängig von der Auslenkung
  2. Die Schwingungszeit des Pendels ist proportional der Quadratwurzel aus der Pendellänge. D.h. mit anderen Worten: Aus einem Pendel, dessen Schwingungsdauer genau eine Sekunde mittlerer Zeit beträgt, kann ich wiederholt eine stets gleiche Maßlänge ablesen.
  3. Die Länge des Pendels ändert sich in Abhängigkeit von der Größe der Schwerkraft, somit auch von dem Breitengrad, auf dem die Einrichtung der Messung geschaffen wird[9]. Nach Lehmann[10] beträgt die Länge des Sekundenpendels – bezogen auf orientalische Örtlichkeiten – beispielsweise

auf dem 45. Breitengrad   = 993,5 mm,

auf dem 40. Breitengrad   = 993,1 mm,

auf dem 30. Breitangrad   = 992,5 mm.

Damit wird noch einmal deutlich, daß die unveränderte Pendeleinrichtung an einen anderen Ort nicht notwendig dieselbe Zeit anzeigt, wenn sich die Fallbeschleunigung ändert. Wie zuvor beim Versuch, den pes horarius festzulegen, finden wir auch hier die gravitative Zeitdehnung, die bedeutet, daß die Zeit keine absolute Größe ist – bekanntlich eine der Forderungen der Allgemeinen Relativitätstheorie.

Wie kann man den Vorgang für einen bestimmten Ort eichen? Lehmann entwirft folgendes Szenario. Im Zusammenspiel zweier verschiedener physikalischer Größen – nämlich Zeit und Länge – muß deren eine von außen vorbestimmt werden, um die andere danach einzurichten. In diesem Fall muß die Bestimmung der Zeit von außen her geschehen, um danach das Normal der Länge einzurichten. Zu diesem Zweck legten die Babylonier als Meßgerätschaft zwei Behältnisse für Wasser zugrunde. Zur Zeit der Aequinoktien hat man damit den Durchmesser der Sonne bestimmt und mit diesem Wissen die Zeit eingeteilt resp. definiert. Dazu ging man wie folgt vor.

Mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne zur Zeit der Aequinoktien leitete man zwei gleichstarke Wasserströme in zwei getrennte Wasserbecken. Sobald die Sonne vollendet aufgegangen war – sobald also der Durchmesser der Sonne sichtbar war -, hat man einen der beiden Wasserströme abgestellt. Der andere lief weiter bis zum Aufgang der Sonne am folgenden Tag, also praktisch 24 Stunden lang. Man hat damit schließlich zwei unterschiedliche Wassermengen aufgefangen, die sich notwendig so zueinander verhalten wie der Durchmesser der Sonne zur gesamten Bahn des Tages von 360°. Aus den Verhältnissen kann man errechnen, daß, wenn die Sonne in 24 Stunden 360° zurücklegt, sie mit dem Aufgang, also dem Erscheinen ihres Durchmessers, ½° zurücklegt oder 1/30 Stunde oder 2 Minuten. In diesen zwei Minuten muß also das Sekundenpendel genau 120 mal ausschwingen. Damit läßt sich für den gegebenen Ort die Länge des Pendels kalibrieren, vorausgesetzt, die Stunden sind Aequinoktialstunden,  also alle gleich lang.

Man kann natürlich – gerade zur Zeit der Aequinoktien – auch hergehen und die Schwingungen einen ganzen Tag lang zählen, also 24 Stunden lang. Das wären dann 24 * 60 * 60 = 86.400 Schwingungen …

Damit erhielten die Babylonier eine Pendellänge von 992,5 mm, die als Maßeinheit für die praktische Benützung zu lang war.

Die so gewonnene Länge von 992,5 mm – dieses altbabylonische Maß – mußte unterteilt werden. Offensichtlich faßten die Babylonier die Pendellänge als zwei lange Ellen zu je 30 digiti auf. 1 Elle30 mißt danach rechnerisch 496,25 mm. In der Tat ist sie von der jüngeren Metrologie mit dem Bestwert von 496,2 mm[11] festgestellt. Der zugehörige Fuß mißt

             496,2 mm / 30 * 16 = 264,6 mm.

Dieser Fuß ist als Gudea-Fuß (Code D) bekannt. Gudea von Lagasch gehört in das späte 3. Jahrtausend v. Chr.; bekannt sind Statuen des Gudea von Lagasch – eine davon mit einem Maßstab (!) – im Louvre. Dieses soeben berechnete Maß ist der nach dem Sekundenpendel von Babylon kalibrierte Fuß (Gudea-Fuß real). Dieser reale Gudea-Fuß durchlebte die Antike, er wird im Mittelalter verwendet und schließlich im 19. Jh. mit einer Länge von 264,55 mm durch den Mathematiker Visconti als Neapolitanischer Palmo festgesetzt [12]. Was ganz nebenher die unglaubliche Präzision aufzeigt, mit der die antiken Maße durch die Jahrhunderte hindurch überliefert wurden. – Das durch das Sekundenpendel kalibrierte Fußmaß galt in Mesopotamien auf der Höhe des 30. Breitengrades und ein wenig nördlich davon.

Unbeschadet von Augustinus sind Zeitmaß und Längenmaß eindeutig korreliert. Die akribischen Messungen und Beobachtungen des antiken Babylon führten zu einer Einteilung des Tages in 12 (Doppel-)Stunden zu je 30 Minuten. Damit entspricht eine altbabylonische Minute vier Minuten unserer Zeit. Man hat darin ein Abbild der Jahresteilung sehen wollen zu 12 Monaten mit rund 30 Tagen. Ich glaube, angesichts der soeben geschilderten Genauigkeit altbabylonischen Rechnens und Messens eine andere Deutung vorschlagen zu können. Denn die altbabylonische Minute – also vier Minuten unserer Zeit – entspricht recht genau der Differenz zwischen dem Sonnen- und dem Sterntag [13].

Die Erde bewegt sich in wenig mehr als 360 Tagen – ungefähr in 365¼ Tagen – in einem Vollkreis um die Sonne. Der Vollkreis hat 360 Grad. Damit bei zwei aufeinanderfolgenden Durchgängen beispielsweise durch die Zeit des Mittags die Erde wieder in gleicher Weise zur Sonne steht, muß sie rechnerisch um knapp 1° weiterrücken, also um 1° mehr drehen als um 360°.

Die Zweidimensionalität der Zeichnung darf nicht täuschen.

Zur Erläuterung: Wir denken uns einen Punkt, an dem genau zur Mittagszeit die Strahlen der Sonne auf der Erde auftreffen. Dieser Punkt liege an der in der Skizze markierten Stelle. In der Sichtlinie Erde – Sonne (verdeutlicht durch die untere gestrichelte Linie) denken wir uns einen Stern.

Nach Ablauf eines mittleren Sonnentages des tropischen Jahres nimmt die Erde bezüglich der Sonne die in der Skizze oben verdeutlichte Position ein. Denn die Erde muß sich um etwa 1° weiterdrehen, um wieder dieselbe Position gegenüber der Sonne einnehmen zu können.

Der Stern hingegen befindet sich an derselben Stelle am Firmament wie am Vortage.

Die Erde braucht für diesen zusätzlichen Weg etwa vier Minuten. da sie für eine Drehung von 360° insgesamt 24 Stunden benötigt.

Rechnung: 24 Stunden zu 60 Minuten ergeben 1440 Minuten; 360 * 4 Minuten = 1440 Minuten.

Daraus folgt, daß der Sonnentag etwa vier Minuten länger ist als der Sterntag. Genau: Der Sterntag ist um

3min56sec,55 kürzer als der entsprechende mittlere Sonnentag, weil

„die mittlere Sonne relativ zum Frühlingspunkt täglich um 0,99 Winkelgrade von Westen nach Osten im Äquator weiterrückt. Es ist

1 Sterntag                         = 0,99727 mittlere Sonnentage,

1 mittlerer Sonnentag       = 1,00274 Sterntage.“ [14]

Allgemein: 1/365 Umdrehung ist knapp 1 Grad und entspricht knapp 4 Minuten.

Erstaunlich genug: D. Opitz [15] gibt eine Zeiteinteilung für Mesopotamien an mit 12 (Doppel)Stunden zu je 30 Minuten, deren jede einzelne damit nach unseren Begriffen vier Minuten lang ist! Diese Einteilung in Intervalle von vier Minuten (entsprechend der Differenz von Stern- und Sonnentag) findet sich auch in weit späteren Zeiten wieder, so etwa auf der 1372 datierten Sonnenuhr am sog. Brautminarett der Omayyaden-Moschee in Damaskus [16].

3. Die Relativität der Zeit – nicht des Maßes

Im soeben abgeschlossenen Kapitel war die Rede von der gravitativen Zeitdehnung. In der Tat ist die Zeit nicht mehr als Newtons absolute Zeit, sondern als Eigenzeit eines jeweiligen bewegten Bezugssystems zu denken. Uhren, die tiefer im Bergwerk stehen, laufen langsamer. Diese Relativität der Zeit – unter den Naturwissenschaftlern fraglos bekannt – wird nicht jedem Leser geläufig sein.

Um die Sache zu verdeutlichen, greifen auch die Physiker gelegentlich auf Bilder zurück. Einstein selber stellte sich einen bewegten Aufzug vor, dessen Innenbeobachter sagen werde, ein vom Mittelpunkt der Kabine ausgehendes Licht erreiche alle Wände zu gleicher Zeit; ein Außenbeobachter hingegen müsse feststellen, daß eine der Wände (der Boden) dem Licht gewissermaßen davoneile, während die entgegengesetzte Wand (die Decke) dem Licht quasi entgegenkomme und somit also das Licht nicht alle Wände gleichzeitig erreichen könnte[17].  Ein anderes Beispiel ist das berühmte Zwillingsparadoxon von Hänsel und Gretel. Beide besitzen eine Lichtuhr. Eine Lichtuhr sei eine Uhr aus zwei planparallelen Spiegeln, zwischen denen ein Lichtstrahl als „Taktgeber“ hin- und herrast. Kaum ist der Lichtstrahl unten, wird er reflektiert und macht somit einmal „tick“. Vom anderen Spiegel zurückgeworfen, ergibt sich das „tack“. Skizze:

Die Anschaulichkeit bringt Fehler mit sich, denn der Lichtstrahl kennt z.B. keine Parallelverschiebung während der Vorgänge mit „tick“ und „tack“. Der Zwischenraum in der Skizze soll lediglich eine optische Hilfe sein.

 

Beide Uhren Lichtuhren der Zwillinge seien exakt taktgleich eingestellt. Nehmen wir einmal an, daß z.B. Hänsel auf der Erde bleibt, während Gretel sich nach einem Schnellstart (den wir für die weiteren Betrachtungen vernachlässigen können) mit annähernder Lichtgeschwindigkeit im Weltraum bewegt. Beide haben ihre synchron eingestellten Uhren im Blickfeld. Mit Hänsels Uhr passiert – so zunächst der Anschein – nichts Besonderes. Wohl aber mit Gretels Lichtuhr. Sie bewegt sich; der Lichtstrahl zwischen den Spiegeln weiterhin auch. Wenn aber vom unteren Spiegel der Lichtstrahl reflektiert wird, beim „tick“ also, trifft der Strahl wohl in Gretels Augen und nach ihrem Dafürhalten den oberen Spiegel direkt. Tatsächlich ist dieser obere Spiegel aber – da sich ja Gretel insgesamt sehr schnell fortbewegt – bereits ein Stück weitergerückt. Zur Ausführung des „tick“ muß der Lichtstrahl weiter reisen; er braucht, um den oberen Spiegel zu erreichen, mehr Zeit. Dasselbe gilt für den umgekehrten Weg mit dem „tack“. Kleine Skizze dazu:

Es ist offensichtlich, daß der Weg des Lichtstrahls jetzt länger ist. Da aber die Naturgesetze für alle (bewegten)  Beobachter unabhängig von ihrer jeweiligen Geschwindigkeit gleich sein müssen, da somit auch die Lichtgeschwindigkeit gleich sein muß für alle, heißt das: Gretels Uhr geht langsamer. Mit anderen Worten: Die Zeit erweist sich als auf den Beobachter bezogen. Die Annahme, mechanische Uhren würden sich anders verhalten, würden der Relativitätstheorie widersprechen. Wir müssen sie ausschließen.

Nur noch eine Frage. Was passiert mit Gretel, wenn sie so unterwegs ist? Ihr geht es gut, eigentlich viel besser als Hänsel. Denn ihre Zeit wird gedehnt, und zwar umso mehr, je schneller sie fliegt. Reist sie mit annähernd Lichtgeschwindigkeit, vergeht ihre Zeit nur halb so schnell wie Hänsels. Diese Zeitdilatation erlaubt es ihr, nach 80 Jahren der Erdenzeit (lebt Hänsel dann noch?) relativ frisch aus ihrem Flieger zu steigen – sie ist schließlich nur 40 Jahre älter geworden.

Die Zeit ist relativ – was zu beweisen war. Bezogen auf das altbabylonische Sekundenpendel und seinen denkbaren Transport an einen anderen Ort – wie vor über 100 Jahren von Lehmann aufgezeigt – dürfen wir ebenfalls der Relativität der Zeit das Wort reden. Dafür gibt es einen ausgezeichneten Hinweis: die außerordentlich hohe Konstanz der Maßlängen seit der Antike. Sie spricht dafür, daß das Maß nicht verändert wurde. Von daher nehme ich an, daß prinzipiell in der Antike hätte erkannt werden können, was die Barockzeit unerwartet notieren mußte: Die Zeit ist keine absolute Größe.

Ein Beitrag von Dr. Werner Heinz


Der Text erschien in: Ordo et Mensura VI, hrsg. Von Rolf C. A. Rottländer. Internationaler interdisziplinärer Kongreß für Historische Metrologie vom 28. Bis 31. Oktober 1999 in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt Braunschweig. St. Katharinen 2000, S. 127 –  154 (= Sachüberlieferung und Geschichte; 31).


Werner Heinz und arbeitet als freiberuflicher Archäologe und Historiker in Riedlingen (Süddeutschland). Seine Studien der Archäologie und der Kunstgeschichte, erweitert um Theologie und Philosophie, führten ihn zu einer langjährigen Untersuchung des römischen Heilbades von Badenweiler. Werner Heinz ist Autor von mehr als 180 Publikationen, darunter zehn monografische Titel. Er ist der zweite Vorsitzende der Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung e.V. und arbeitet im Beirat der internationalen Mittelalter-Zeitschrift Mediaevistik mit.


Anmerkungen:

[1] K. Mainzer, Zeit: Von der Urzeit zur Computerzeit (München 1996²) 20ff. – F. Cramer, Der Zeitbaum: Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie (Frankfurt 1993) 18f. – Die Liste der Sekundärliteratur ließe sich erweitern.

[2] Zitat nach: A. Diemer, s.v. Ontologie, in: A. Diemer – I. Frenzel (Hgg.), Philosophie (Frankfurt 1958, 1968) 232. – Vgl. auch die ansprechende Darstellung bei: H. Schavernoch, Die Harmonie der Sphären: Die Geschichte der Idee des Welteneinklangs und der Seeleneinstimmung (Freiburg / München 1981) 66ff.

[3] Confessiones 11, 13. Die deutschen Zitate aus den „Bekenntnissen“ habe ich entnommen aus: W. Thimme, Augustin. Bekenntnisse (Stuttgart 1967) Buch 11. Nach der zweisprachigen Ausgabe von J. Bernhart (Augustinus. Bekenntnisse [Frankfurt 1987]) hier die lateinischen Zitate.

[4] Confessiones 11, 27.

[5] R. Glasemann, Die Uhr als Maschine – zur Technikgeschichte der Räderuhr, in: I. A. Jenzen (Hg.), Uhrzeiten: Die Geschichte der Uhr und ihres Gebrauches (Kleine Schriften des Historischen Museums Bd. 42, Frankfurt 1989) 218ff., bes. 227. – Grafische Darstellung dazu: J. Schwinger, Einsteins Erbe: Die Einheit von Raum und Zeit (Heidelberg 1988²) 38.

[6] A. Brachner, Von Ellen und Füßen zur Atomuhr: Geschichte der Meßtechnik (München 1996) 33.

[7] C. F. Lehmann, Altbabylonisches Maass und Gewicht und deren Wanderung, in: Verhandl. der Berliner Ges. für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 21, 1989, 245ff.

[8] Auch wenn diese Abschnitte bereits in dem Aufsatz für die Wiss. Zeitschrift des Braunschweiger Landesmuseums dargelegt sind, werde ich die wesentlichen Elemente hier noch einmal aufgreifen, da es sonst dem Leser schwer fallen dürfte, der Logik des Geschehens – wie sie Lehmann a.O. entwickelt hat – zu folgen.

[9] Es ist eher selten, daß die Fachliteratur unserer Tage überhaupt von einem Sekundenpendel spricht. Zu den Zusammenhängen z.B.: G. Krüger, Uhren und Zeitmessung (Bern und Stuttgart 1976) 49 mit Hinweis darauf, „daß die Länge des Sekundenpendels eine Funktion der geographischen Breite ist“. Der Unterschied zwischen den Schwingungen zweier gleicher Pendel betrage zwischen Äquator (langsamer) und Pol mehr als 3,5 Minuten pro Tag. – Knapp, aber deutlich auch: R. Koch (Hg.), Uhren und Zeitmessung (Leipzig 1989²) 191.

[10] Lehmann (op. cit.) ist davon überzeugt, daß die Babylonier nachgewiesernermaßen Zeit und Raum in ihren Messungen in Beziehung setzten (a.O. 323) „und ihre räumlichen Maasse mit Hülfe von Zeitbeobachtung bestimmt haben“ (a.O. 321). Auch wenn er dafür keine direkten schriftlichen Quellen anführen kann, sind für ihn doch die Zusammenhänge der Maße untereinander so unverrückbar, daß nach seiner Überzeugung anhand des Sekundenpendels ein Längenmaß geschaffen worden sei; diese Kenntnis sei den Babyloniern „wohl zuzutrauen“ (a.O. 324).

[11] Rottländer (Anm. 21) 66.

[12] E. Pfeiffer, Die alten Längen- und Flächenmaße. Ihr Ursprung, geometrische Darstellung und arithmetische Werte (Sachüberlieferung und Geschichte Bd. 2, St. Katharinen 1986) 122f.

[13] Vgl. u.a. zum Thema: Schwinger a.O. 38f.

[14] Enzyklopädie der Naturwissenschaften und Technik (1981) Bd. 5 S. 5207. – Auch: Bassermann-Jordan (Anm. 16) 25.

[15] s.v. Kalender. B. Vorderasien (Mesopotamien), in: M. Ebert (Hg.), Reallexikon der Vorgeschichte Bd. 6  (Berlin 1926) 193ff.

[16] Rohr (Anm. 16) 176.

[17] A. Einstein – L. Infeld, Die Evolution der Physik (Wien – Hamburg 1950) 196f.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Zeit und Maß in Relation – Teil 2“

  1. Der Begriff Zeit war schon immer ein riesiges Rätsel, nach meiner Schätzung bis heute ungeklärt. Die Philosophen der Antike unterschieden bereits zwischen vielen Varianten der Zeit. “Der richtige Zeitpunkt” war auch eine Frage bzw. “der günstige Augenblick” wurde erörtert – und dies auch noch heute. Personifiziert wird der günstige Augenblick von Kairos ->

    https://www.mythologie-antike.com/t597-kairos-mythologie-gott-vom-gunstigen-augenblick-richtiger-zeitpunkt

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .