Zeit und Maß in Relation – Teil 1

Wenn es denn wahr ist, hat Napoleon neben vielem anderen auch etwas sehr wichtiges gesagt: Es gibt Diebe, die nicht bestraft werden und dem Menschen doch das Kostbarste stehlen: die Zeit.

Freilich hat man für Napoleon auch mehr Gästebetten auf der Welt registriert als sein Leben Nächte hatte. Ich hoffe, etwas Zeit in Anspruch nehmen zu können für einen Ausflug zum Thema „Zeit“ mit allen seinen zeitgebundenen, vielmehr aber noch zeitlosen Inhalten. Dies im Rahmen einer Tagung unter dem Dach der altehrwürdigen Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, deren Atomuhr immerhin den „Zeittakt“ im Herzen Europas vorgibt! Wer sich in diesem Zusammenhang Zeit nimmt, um über die Zeit nachzudenken, durchbricht zumindest für einen Augenblick jene Schleife, in die wir uns in Mitteleuropa gemeinhin selbst stellen. Denn wir jagen der Zeit hinterher – einer Fülle von Hilfsmitteln, die es uns ermöglichen, Zeit zu sparen, zum Trotz. Es ist bekannt, daß beispielsweise die Menschen in Zentralafrika bei völlig anderen Lebensumständen – eben gerade ohne die unsererseits genutzten technischen Hilfsmittel zur Zeitersparnis – weit mehr Zeit für ihre Umwelt, für ihre Mitmenschen haben als wir.

Damit ist bereits ein wichtiges Anliegen dieser Arbeit eingestimmt. Es ist die Frage, was wir mit dem Begriff der Zeit, mit ihrer ganzen Komplexität verbinden, und was die Denker oder vielleicht auch die Priester früherer Kulturen überlegten und architektonisch oder auch metrologisch umsetzten. Von daher auch das Thema dieser Zeilen [1]: Zeit und Maß in Relation. Wenn wir von Jahren, von Monaten, von Tagen reden als Erscheinungen, die wir letztlich irgendwie von der Natur ablesen können, wenn wir solche Zeit-Maße erweitern auf die uns nun ebenfalls geläufigen Begriffe der Stunden, Minuten und Sekunden, stellt sich die Frage, ob gerade die kleinen Einheiten, die kurzen Zeit-Maße auch irgendwie auf natürliche Begebenheiten zurückzuführen seien und ob der Mensch in früheren Zeiten – sagen wir doch: vor Jahrtausenden –  etwas damit habe anfangen können.

Mit dieser Frage werden wesentliche Probleme vielerlei antiker Kalendarien apostrophiert. Darauf werden wir in einem ersten Hauptpunkt zu sprechen kommen. Die schriftlosen wie dann auch die geschichtlichen Kulturen hinterließen die Ergebnisse ihrer Beobachtungen und Forschungen zur Einteilung des Jahresablaufes in architektonischen und weiteren Spuren. Es wird kein ganz leichter, aber ein vergnüglicher Spaziergang, sich diesen Welten in ihren recht unterschiedlichen Anforderungen zu stellen.

Dann verbleiben wir – um zu dem zweiten Hauptpunkt zu kommen – noch für einen Augenblick in der Antike. Die vielerorts gestellte Frage, was denn Zeit eigentlich sei und wie man sie messen könne, hat vermutlich niemand so intensiv abgehandelt wie der Kirchenvater Augustinus. Seine Diskurse über die Messung der Zeit oder vielmehr die Unmöglichkeit, tatsächlich Zeit zu messen – es wird sich zeigen, daß wir statt dessen realiter beispielsweise eine Folge von Bewegungsabläufen als Zeitmessung begreifen – führen zum dritten Hauptpunkt, der uns noch weiter im Ablauf der Geschichte zurückbringt. Eine exakte Korrelation zwischen einem Zeitabschnitt und einem Bewegungsablauf stellte das antike Babylon her. Wie diese Verbindung aussah, ist in der heutigen Forschung so gut wie unbekannt. Wir werden bei der näheren Betrachtung feststellen, daß die Babylonier den Weg zur Zeitmessung (nehmen wir den Begriff jetzt so, wie wir ihn normalerweise bei uns heute verwenden) über die Verknüpfung mit einem Längenmaß nahmen. Diese Längeneinheit war in in bald kaum glaublicher Konstanz und Präzision bis in das vergangene Jahrhundert im Gebrauch.

Verlassen wir nun mit der soeben angesprochenen Gerätschaft zur exakten Messung der Zeit den Ort des Geschehens, also Babylon, um ein paar hundert Kilometer weiter nördlich die – nennen wir es einfach einmal so – „Braunschweiger Mission des Zeitgebers“ (die die PTB als Gastgeberin dieses Kongresses innehat) zu erfüllen, werden wir auf Ungenauigkeiten stoßen: die Zeit stimmt nicht mehr. Das führt zum vierten und letzten großen Abschnitt, der – soweit ich sehe – überhaupt noch nie thematisiert wurde: Die Tatsache, daß die Zeit keine absolute Größe ist, in gewissem Sinn also die Relativität der Zeit, war prinzipiell der Antike erschlossen!

Den Bogen so weit zu spannen bedeutet, sich den Ergebnissen verschiedener Disziplinen anzuvertrauen. Auf der einen Seite stehen die Astronomen und Physiker, deren Beiträge etwa zu den Einflüssen von Sonne und Mond überhaupt erst die Bedeutung unterschiedlicher Kalendarien begreiflich machen; auf der anderen Seite die Archäologen und die Kunsthistoriker und die Historiker und die Philosophen und die Religionswissenschaftler, auf deren Ergebnisse wiederum die Vertreter der noch jungen Disziplin der Metrologie zurückgreifen können. Der Reigen ließe sich erweitern. Diese so ungewöhnliche Vielfalt bringt es mit sich, daß sicherlich ein jeder auf Bekanntes stößt; aber es wird vermutlich auch für jeden ein wenig Überraschendes dabei sein.

1. Kalendarien und der Übergang von der Jäger- zur Ackerbauerkultur und die Folgen

Wer als Jäger die Wälder und Auen durchstreift, ist weit weniger vom Wechsel langer warmer und kurzer kalter Tage betroffen als derjenige Zeitgenosse, der von den Früchten des Feldes lebt. Und wer die nicht nur aufliest, sondern planmäßig anbaut – vielleicht weil die Umstände dazu zwingen -, ist unmittelbar an den Ablauf des Jahres gebunden. Anders gesagt: Der Mensch muß das Jahr als einen sich wiederholbaren Zyklus erfahren und beschreiben können. Nur dann mag es gelingen, im geeigneten Augenblick zu säen oder zu ernten. Dabei sind die astronomischen Daten offensichtlich von größerer Bedeutung als das aktuelle Wetter, wie beispielsweise Beobachtungen im Hindukusch zeigen [2]. Mit anderen Worten: Mit der Einteilung des Jahres bilden sich Kalendarien heraus.

Die können sterngebunden sein. So haben die Ägypter der pharaonischen Zeit die leicht variable Nilschwelle [3] mit dem Aufgang des Sirius, des Hundssternes, verknüpft und auf diese Weise zugleich den Zeitpunkt für die Sommersonnenwende fixiert. Die Überschwemmung des Nil leitete die dritte ägyptische Jahreszeit ein; ihr folgten die beiden anderen Zeiten, nämlich Aussaat und Ernte. Auch später spielten die Sterne für die Ackerbauern eine entscheidende Rolle, wie wir aus einem Zitat des griechischen Dichters Hesiod, der etwa gegen 700 v. Chr. selber zunächst den kargen Boden Böotiens bearbeitete, erfahren [4]:

Wenn das Gestirn der Plejaden, der Atlasgeborenen, aufsteigt, dann fang an mit dem Mähen, und pflüge, wenn sie versinken.

Eine solche kalendarische Gliederung – eine Strukturierung der zeitlichen Abfolge im Laufe eines Jahres – bot den Ackerbauern weit mehr Sicherheit als der Zufall der jeweiligen Wetterbeobachtung. Ägypten weist den Weg solcher Kalender tief in die Vergangenheit, im Gegensatz zu anderen Gebieten allerdings in die schriftgebundene, also geschichtliche Antike. Doch auch die vorgeschichtlichen Kulturen kannten Kalender und arbeiteten damit. Rolf Müller [5] hat wohl erstmals eine Gesamtdarstellung zwischen vorgeschichtlichen Bauten und astronomischen Daten vorgelegt; wesentliche Ergebnisse hat später Heinz Kaminski [6] übernommen, um auf entsprechende Bauten christlicher Zeitrechnung hinzuweisen. Ich selber möchte an dieser Stelle in bewußter Beschränkung nicht etwa von Stonehenge reden, wiewohl diese Steinsetzung ja inzwischen als Ort der Berechnung von Finsternissen erwiesen wurde [7], sondern von einem älteren und einem jüngeren Bau, die beide in ihrer Funktion als Anzeiger des Sonnenstandes im Jahresablauf wenig oder gar nicht bekannt sind. Nicht nur Sterne erlauben die Gliederung des Jahresablaufes, auch die Sonne.

Der erste dieser Bauten ist der vorgeschichtliche Sonnentempel der Mnajdra. Er liegt im Süden der Insel Malta, etwas unterhalb der bekannteren Tempelanlage von Hagar Qim. Während nun Hagar Qim aus einem zunächst schwer überschaubaren Geflecht von Räumen besteht, finden sich wenige Schritte abwärts – verbunden mit dem Namen der Mnajdra – drei unterschiedlich alte Tempel. Deren westlicher weist mit seinem zentralen Tor genau nach Osten. Dieser Westtempel der Mnajdra entstand in den besten Zeiten der maltesischen Megalith-Kultur. Sie wird von einigen Forschern als Zebug-, von anderen als Gigantija-Phase [8] bezeichnet. M. Buttigieg-Jaklin [9] spricht von der „Mittelphase 1“ und dem zeitlichen Rahmen zwischen etwa 4.100 und 3.600 v. Chr. Diese Daten hat dann auch der Geodät Paul Micallef in seine Untersuchungen einbezogen [10]. Für ihn war es selbstverständlich, die Ausrichtung nach Osten einer genauen Prüfung zu unterziehen. Dafür stellte er die Präzession, also das Taumeln der Erdachse, in Rechnung. Will man nun annehmen, daß tatsächlich die zentrale Achse des Tempels zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche zur aufgehenden Sonne zeigt, ergibt sich folgendes Bild:

Die Ostrichtung, wie in dieser Skizze bezeichnet, trifft sich nach den Berechnungen genau mit der zur Hälfte aufgegangenen Sonne. Die Lage des Tempels bedeutet nun, daß unter Berücksichtigung der Präzession drei Daten für seine Entstehung in Frage kommen können, drei Daten also, bei denen die Mittelachse des Tempels und die Strahlen der aufgehenden Sonne übereinstimmen. Neben der unwahrscheinlichen Entstehung im Jahre 10.205 v. Chr. und der noch weniger zutreffenden Datierung 20.000 n. Chr. (dafür müßten wir noch ein wenig warten) ergibt sich als Datum der Entstehung das Jahr 3.710 v. Chr. Das stimmt mit den archäologischen Daten aufs beste überein.

Dem möglichen Einwand, die Visur auf die zur Hälfte aufgegangene Sonne ermögliche erst diese Datierung, kann man leicht begegnen. Denn die Skizze zeigt zwei weitere Linien von Bedeutung. Bekanntlich verschiebt sich der Punkt des Sonnenaufgangs bei länger werdenden Tagen nach Norden und umgekehrt zu unserem Winter hin nach Süden. Bei den Aufgängen zur längsten resp. zur kürzesten Tageszeit – also an den Sonnenwenden – ergeben sich nun ebenfalls Visuren, die hier mit dem Fachausdrücken des Sommer- resp. Wintersolstitium bezeichnet sind. Diese Linien lassen sich naturgesetzlich in jedem Fall finden. Die Tatsache, daß sie hier in diesem Tempel der maltesischen Megalithkultur durch innen und außen liegende markante Steine gewissermaßen „geführt“ werden, räumt alle Zweifel aus dem Weg. Dieser Tempel wurde intentionell auf die aufgehende Sonne ausgerichtet. Er lieferte damit viermal im Jahr exakte Daten über den Jahresablauf, nämlich zu den beiden Aequinoktien und den beiden Solstitien. Diese Eckdaten teilen übrigens auch für uns das Jahr noch ein. Auch wenn die archäologische Forschung diesen Tempel als frühen Kalenderbau noch nicht zur Kenntnis genommen hat, steht seine Funktion außer Frage. Und für ein kleines Eiland wie Malta reicht dem neolithischen Menschen und Ackerbauern ein solcher Zeitgeber.

Es wäre eine kleine Mühe, die Liste solcher intentionell ausgerichteten vorgeschichtlichen Bauten zu erweitern. Ich nenne nur die Ellipse von Meisternthal [11] in Bayern (5. Jt. v. Chr.) mit der auffälligen astronomischen Orientierung der Torachsen oder das irische Ganggrab von Newgrange [12] (wohl gegen 3.000 v. Chr.). Vorgeschichtliche Kalendarien hat man jüngst sogar in Buckelverzierungen nachgewiesen [13]. In späteren Zeiten gesellt sich eine beträchtliche Vielfalt von Bauten dazu, die nach bestimmten Himmelsrichtungen orientiert sind und damit ebenfalls als Anzeiger der Jahreszeiten dienen können; so etwa der Turm der Winde in Athen. Dieser achteckige Bau [14] aus späthellenistischer Zeit trägt oben acht Darstellungen der Windgötter. Darunter erschienen früher die Zeiger der Sonnenuhren. Die Wasseruhr im Anbau verdeutlicht die Rolle des Gebäudes als Zeitgeber.

Aus dem Bereich der Architektur möchte ich auf ein weiteres Gebäude hinweisen, dessen Funktion als Sonnenuhr [15] bisher auch nie wirklich gewürdigt wurden. Es ist das berühmte Pantheon in Rom. Die Rede ist vom hadrianischen Bau des 2. Jh. n. Chr. Den ursprünglichen Tempel, den der Freund und Schwiegersohn von Kaiser Augustus, nämlich Agrippa, hatte errichten lassen, kennen wir kaum. Dieses hadrianische Wunderwerk der Baukunst wird von einer 43 Meter messenden Kuppel überspannt. Wichtig sind die Kassetten – umlaufend 28 Stück – und die Öffnung im Zenit der Kuppel. Denn dieses Opaion erst läßt das Innere des Pantheon zu einer Sonnenuhr werden. Wegen der recht genauen nordsüdlichen Orientierung treffen die durch die Lichtöffnung einfallenden Strahlen der Sonne gerade zur Mittagszeit die Kassetten über der Tür. Dazu eine kleine Skizze:

 Mehr oder weniger ist die Kuppelschale eine Sonnenuhr. Man kann sich gut vorstellen, daß die Strahlen im Sommer weiter unten, im Winter weiter oben in der Kalotte auftreffen. Zur örtlichen Mittagszeit erreichen sie die Kassettenreihe direkt über der Tür. Das sieht dann so aus: je höher die Kassette liegt, desto kälter ist es draußen.

Ein kleiner Ausblick, bevor wir – noch innerhalb dieses ersten Abschnitts über die Notwendigkeit von Kalendarien für die Ackerbauer und die Nachwirkungen – einen Blick auf die Kalendarien selber werfen. Denn mit dem Pantheon wie auch den anderen Architekturen, von denen die Rede war, teilt der Beobachter das so genannte tropische Jahr auf. Das genau tat die Antike auch mit ihren zahlreichen Sonnenuhren [16], bei denen lediglich die Anordnung anders lag als beim Pantheon: Die Viertelschale unten zeigte der Sonne entgegen, und ein Stab markierte die Tages- und Jahreszeit. In ähnlicher Weise, freilich bezogen auf die Ebene, entstanden in unserer zeitlichen Nähe verschiedene Meridiane – Mittagslinien also, die deswegen so heißen, weil die Sonne durch eine kleine Öffnung im Dach genau zur örtlichen Mittagszeit die Meridianlinie trifft. Es gibt sie unter anderem im Dom von Palermo und in dem großen Bibliotheksraum des Archäologischen Nationalmuseums in Neapel, hier mit den Tierkreiszeichen verbunden. Sehr wenig bekannt ist der wunderschön ausgelegte Meridian in der Kirche San Petronio in Bologna.

Definiert wird ein Meridian im astronomischen Sinne als Großkreis an der Himmelskugel, der durch das Zenit und den Südpunkt eines Beobachtungsortes sowie durch die Himmelspole geht [17]. Der Bologneser Meridian erfüllt seine Aufgabe als Mittagslinie und noch eine zweite: er ist zugleich ein Proportionalitätsfaktor zum Erdumfang, da definiert als 600.000ster Teil des Erdumfangs.

Zur Vorgeschichte dieses Meridians [18]. Im Jahre 1575 hat der Dominikaner P. Ignazio Danti den Meridian (oder: einen Meridian) in San Petronio konstruiert. Danti war Berater von Papst Gregor XIII. (einem Bolo­gnesen), der als Kalenderreformer bekannt geworden ist. – Die Astronomie hat in Bologna einen hohen Stellenwert gehabt: Hier studierte Kopernikus gegen 1500. Der Baufortschritt (bis zum vorläufig endgültigen Abschluß der Arbeiten i.J. 1659) bedingte eine neue Konstruktion. Deren Urheber war Giovanni Domenico Cassini (1625 – 1712; bereits mit 25 Jahren, also i.J. 1650, wurde er auf den Lehrstuhl für Astronomie in Bologna berufen), der (lt. Inschrift) 1656 den gegenwärtigen Meridian konstruierte.

Charakteristik dieser Mittagslinie. Der Bologneser Meridian ist ein Metallband in Nord-Süd-Richtung. Er ist eingefaßt von unterschiedlichen Metallen (Messing und Kupfer), um eine Ausdehnung bei Erwärmung zu vermeiden. Lage: in der linken Seite der Kirche; Ausgangspunkt vor der 4. Kapelle von vorn; Endpunkt vor der Fassadenwand. – Über dem Ausgangspunkt findet sich jene Öffnung, durch die die Sonne einfallen kann. Sie liegt naturgemäß senkrecht über dem Anfang des Meridians. Die Öffnung im Dach ist nicht verglast, um Verschmutzung zu vermeiden; der Durchmesser beträgt [19] 27,1 mm.

Der Meridian ist an beiden Seiten von Zahlen gesäumt. An der Ostseite eine fortlaufende Zählung bis 250: Hier werden die Einheiten in diesem Metallband gezählt. Eine Einheit ist dabei von einem gesonderten Metallblatt als Fußmaß oder Modulus links von der 4. Kapelle dargestellt mit einer Länge von ca. 270,8 mm, wie aus mehreren Messungen ermittelt. Die Inschrift bei diesem Maß lautet: Centesima pars altitudinis fornicis millies subdivisus (= der hundertste Teil der Höhe der Wölbung, tausendmal unterteilt).

An der Westseite des Meridian finden sich andere Zahlen, die umgerechnet werden können zur Ermittlung der Zeit des Sonnenuntergangs.

Mit anderen Worten: Der Meridian gibt mehrere Daten an, so 1. die wahre Ortszeit beim Höchststand der Sonne (unterliegt naturgemäß kleinen Schwankungen um 12 Uhr herum), und 2. die Jahreszeiten (und davon abhängig natürlich auch die Aufgangszeiten resp. den Untergang der Sonne) zwischen dem Anfang (dem Sommersolstitium) und dem Ende (dem Wintersolstitium) des Meridians. – Die ablesbaren Daten stimmen heute nicht mehr absolut; denn es macht sich bereits die Präzession bemerkbar.

Die Maße  sind wie folgt[20]:

· Höhe der Öffnung im Dach (über dem Beginn) bei 27,10 m über Fußboden;

· gesamte Länge des Meridian = 67,72 m = „250 piedi“.

· Durchmesser der Öffnung im Dach: 27,1 mm.

· Ellipse am Ende beim „SOLSTITIUM HYBERNUM“ mit 2a = 1,83 m(eigene Messung: 1,829 m).

Die Inschrift am Ende des Meridians, in einer Tafel an der inneren Fassade notiert, lautet:

             MERIDIANAE HUIUS LINEAE

             TOTA LONGITUDO

             INTRA VERTICALEM

             ET CENTRALEM SOLIS RADIUM

             IN HIBERNO SOLSTITIO

             EST SEXCENTIMILLESIMA PARS

             CIRCUITUS

             UNIVERSATE TERRAE

Am Wandpfeiler zwischen den linken Kapellen 3 und 4 (von vorn) ein Schrein mit 2 Uhren zum Meridian; Datierung 1758. Die Uhren zeigen die Erd- und die Sonnenzeit an, weichen damit nur wenig voneinander ab. Sie gehören zu den frühesten Werken mit verstellbarem Pendel.

Die Berechnungen der gewonnenen Daten. Erster Teil: Zum Erdumfang.

Wenn der Meridian den 600.000sten Teil des Erdumfangs repräsentiert, wie groß ist dann der Erdumfang?

67,72 m * 600.000 = 40.632.000 m = 40.632 km.

Dieser sichtlich zu hohe Wert, der bei Chiarini nirgends erörtert wird, ist falsch. Nur wer das Büchlein gründlich liest, stößt auf eine Passage (S. 29), in der Cassini i.J. 1695 inschriftlich festhält, daß als Bezugsgröße zum Erdumfang der Meridian bis zur Mitte des Wintersolstitiums zu messen sei. Dort findet sich eine Ellipse. Warum dieses? Der einfallende Sonnenstrahl wird durch die Projektion ver­zerrt; deshalb muß man von der Ellipse – genauer gesagt: von der großen Achse 2a – den Mittelpunkt suchen und bis dahin messen – so auch die Angaben bei Cassini. Die Ellpise mißt knapp 1,83 m; ich fand bei eigener Vermessung am 16. 05. 1997 genau 182,9 cm. Davon die Hälfte ergibt 91,45 cm. Rechnung:

             67,72 m – 0,9145 m           = 66,8055 m.

             66,8055 m * 600.000        = 40.083.300 m = 40.083,3 km.

Dieser Wert kommt den bekannten Gegebenheiten wesentlich näher als der erst­genannte.

Zweiter Teil der Berechnungen: Zum Fußmaß.

Die Beischriften weisen aus, daß der Meridian 250 Teile – piedi – auf sich vereinige. Die Zahlen dazu lassen sich ablesen. Rechnung:

             67.720 mm / 250 = 270,88 mm.

Diese Länge deckt sich hervorragend mit der gesondert angebrachten Tafel aus Messing am Beginn des Meridians. Aufmaß des piede: knapp 271 mm. 270,88 mm ~ 271 mm. Diese Länge taucht verschiedentlich auf:

· 27,1 mm           = Durchmesser der Lichtöffnung in der Decke

· 27,1 m              = lichte Höhe bis zum Loch im Dach

· 67,72 m            = 2½ * lichte Höhe

· 1,83 m              = 6,75 * 270,88 mm (2a der Ellipse; vgl. auch unten!)

Ein Fußmaß von 270,88 mm resp. 271 mm ist nicht bekannt. Nehmen wir dennoch an, es sei ein Fuß16, gilt folgende Rechnung:

270,88 mm / 16 = 16,93 mm.

Und: 16,92 mm = digitus18 Code [21] E 1 (also vom Fuß16 der Großen Ptolemäischen Elle28; 1 Fuß = 304,6 mm). Damit könnte die Länge von 270,88 mm als ein neugebildetes Fußmaß verstanden werden.

Es gibt aber einen anderen Weg der Herleitung. Es sei 271 mm ein Fuß von 16 digiti. Die daraus gebildete Pygon20 berechnet sich wie folgt:

271 mm / 16 * 20 = 338,75 mm ~ 338,8 mm.

338,8 mm ist exakt der Fuß18 der „Neuen“ Elle28 (Code J 1). Das heißt, das bisher nicht bekannte Fußmaß des Meridians entspricht 4/5 des Fußes J 1. Für die Richtigkeit dieses Gedankens möchte ich zweierlei nennen:

1. 67.720 mm / 200 = 338,6 mm (der Meridian ist also 200 Fuß lang).

2. Die Chiarini beschreiben (S. 13) die Einheiten des Meridians als 8/10 (also 4/5) eines existierenden Fußmaßes: secondo 8 decimi del piede scientifico francese di metà 1600 e cioè m. 0,271.

Es stellt sich die Frage, warum ein in Frankreich gebräuchliches (übrigens ein wichtiger Hinweis!) Maß in einer klar definierten Weise umgeändert wird. Dafür dürfte es wohl v.a. einen Grund geben: den der Anpassung an die gege­benen Verhältnisse. So beträgt die Höhe des Sonnenloches über dem Fußboden nach dem neu berechne­ten Modulus (oder ist es ein Fuß?) exakt 100 piedi; nach dem französischen Maß wären es allerdings auch glatte und runde 80 piedi (da „alt“ und „neu“ das Verhältnis 5 / 4 zueinander haben). Die gesamte Länge des Meridians beläuft sich nach dem neu festgesetzten Bologneser piede auf 250 Einheiten; nach dem französischen Maß sind es 200 Fuß. Ob allerdings 80 oder 100 Fuß, ob 200 oder 250 Fuß: das alles sind glatte und runde Zahlen.

Mit Sicherheit spielt im Ganzen die vorerwähnte Ellpise am Ende eine Rolle. Meine Aufmessung von 1.829 mm (Chiarini S. 13: 1,83 m) läßt sich in keiner Weise mit dem Code J 1 glatt angeben, weder im Fußmaß von 338,8 mm noch in dessen größeren noch in dessen kleineren Teilen. Rufen wir uns dagegen den errechneten digitus16 vom kleineren Bologneser piede mit 16,93 mm und den damit kompatiblen digitus18 Code E 1 mit 16,92 mm in Erinnerung (s.o.) und bilden wir dann von diesem Fuß18 den 1½fachen Wert (also 27 digiti zu 16,92 mm), erhalten wir die Elle27 zu 456,84 mm (wobei 457,0 mm die Elle24 zum Code E 1 ist). Rechnung:

1.829 mm / 456,84 mm = 4,0036.

Nur so läßt sich die Ellipse metrologisch glatt fassen, und ich denke, daß das der Grund dafür war, das französische Maß durch eine an sich ungewöhnliche Transformation auf 4/5 zu reduzieren.

Folgende Punkte kommen hier zusammen:

1. Durch Reduzierung auf 8/10 wird ein gegebenes französisches Maß den eigenen Anforderungen angepaßt.

2. Dieser piede ist das Grundmaß in der lichten Höhe zum Sonnenloch, für das Sonnenloch selber und für die gesamte Länge des Meridians.

3. Die Ellipse am Ende mißt genau 4 aus diesem piede gebildeten Ellen27. Somit läßt sich leicht die halbe große Achse ermitteln und von der gesamten Länge des Meridians subtrahieren.

4. Der verbleibende Teil des Meridians  – insgesamt 66.805,5 mm – stellt mit genügender Genauigkeit den Wert von 1/600.000sten Teil des Erdumfangs dar (s.o.).

Der Astronom als Schöpfer dieses Meridians hat also dieses Maß bewußt geschaffen, wie er auch berichtet. Er verbindet ein überdies noch geodätisches Maß mit exakter täglicher und im Jahresablauf sich wiederholender Zeitangabe. Ich rufe an dieser Stelle dazu auf, dieses Maß, dessen Ableitung uns zeitgenössisch überliefert ist und dessen Länge wir anhand dieser Tafel ablesen, ja rechnerisch sogar noch genauer fassen können, als eine eigenständige Maßeinheit anzuerkennen und zu codifizieren. Wichtig ist mir dieses Maß freilich auch, weil es die unmittelbare Korrelation von Zeit und Längenmaß aufzeigt. Das ist schließlich das Anliegen dieser Arbeit!

Blicken wir zwischendurch einmal kurz zurück! Wir haben den Weg verfolgt vom maltesischen Tempel der Megalithkultur mit seinen Sonnenaufgangslinien über das römische Pantheon und seine Mittagslinie bis hin zu dem barocken Meridian von Bologna. Alle diese im Zusammenhang mit der Zeit kaum je diskutierten Beispiele bewegen sich um das tropische Jahr, also um das uns geläufige Jahr. Das gilt normalerweise auch für die großen öffentlichen Uhren wie etwa dem Uhrturm von Venedig aus den Jahren kurz vor 1500. Weit berühmter als die kalendarischen Daten sind der Markuslöwe und die beiden „Mohren“ des Schlagwerks oben. Das Uhrwerk erzählt neben den Stunden auch den Sonnenstand und – ganz wichtig – die Mondphasen. Folgend einige ergänzende Notizen zu Mondkalender und tropischem Jahr.

Seit alters beeinflußte der Mond entscheidend das Denken der Menschen über die Zeit. Das mag praktische Gründe gehabt haben; einzelne Mondphasen sind überschaubarer als ein tropisches Jahr. Ein paar Notizen zum Mondkalender in Stichworten mit ergänzenden Hinweisen zum Sonnenkalender. Bei diesem Kalender [22] haben die Jahreszeiten keinen festen Platz im Ablauf des Jahres. Er eignet sich für Nomadenvölker. Es gab ihn bei den Chinesen, Sumerern, Babyloniern, Hebräern, Indern u.a. Dem steht der Sonnenkalender mit folgender Eigenschaft gegenüber: er legt auch die Jahreszeiten fest. In der gesamten Einteilung eines Jahres gibt es in Sonnen- und Mondkalender drei Grundeinheiten:

                   -> den Sonnentag,

                   -> das Sonnenjahr,

                   -> den Mondmonat. Der bringt folgende Eigenschaften mit sich:

Der synodische Monat = Mondumlauf von Vollmond zu Vollmond = Mondmonat, also der Zeitabschnitt zwischen zwei aufeinanderfolgenden gleichen Mondphasen.

Die ursprüngliche Rechnung zu 30 Tagen ist zu hoch. Man rechnete den Mondmonat dann zu 29,5 Tagen (also wechselnd dreißig und 29 Tage). Gemeint sind mittlere Sonnentage. 1 Jahr des Mondkalenders enthält somit 354 resp. 355 Tage; somit ist 1 Mondjahr 10 ‑ 12 Tage kürzer als das Sonnenjahr.

Der synodische Monat hat nach heutigen Angaben 29,53059 mittlere Sonnentage = 29 Tage, 44 Minuten und 2,9 Sekunden. Demgegenüber gibt es (auf dem Hintergrund des Fixsternhimmels) den sog. siderischen Mondumlauf: Der Mond legt in 24 Stunden etwa 131/3° von insgesamt 360° zurück. Dieser siderische Mondumlauf braucht somit 27,21 Tage, ist also kürzer als der synodische Mondumlauf.

Das tropische Jahr (unser Jahr): Es ist der Zeitraum zw. 2 aufeinander folgenden Durchgängen des Sonnenmittelpunktes durch den Punkt der Frühlings‑Tagundnachtgleiche. Das tropische Jahr hat 365,2422 Tage (= 365 Tage 5 Std. 48 min + 46,1 sec).

Der Sonnenkalender gilt gegenwärtig in fast allen Staaten.

Wenig später als die berühmte Uhr von Venedig entstand die berühmte astronomische Uhr im Dom zu Münster. Unter dem Umlaufboden im Giebel der Uhr steht folgender Text [23]:

Auf dieser beweglichen Uhr kannst du dieses und vieles andere unterscheiden: die Zeit und den Stand der Sonne, die mittlere Bewegung aller Planeten und den Opfergang der drei Könige; unten aber den Kalender mit den beweglichen Festen.

Es ist eine Uhr mit einer Anzeige von 24 Stunden, linksläufigem Zeiger und u.a. mit dem Mond: eine zur Hälfte schwarz bemalte, silberne Kugel, die sich in einer schwarzen Halbschale bewegt, so daß man deutlich die verschiedenen Mondphasen ablesen kann. – Unter dem Zifferblatt befindet sich die Ostertafel. Dazu sogleich nähere Angaben.

Zuvor aber noch ein Blick auf die antiken Kalendarien; insbesondere der altrömische Mondkalender beeinflußt mit seinen Namen wie Oktober (der achte Monat), aber auch Juli (nach Julius Caesar) und August (nach Kaiser Augustus) unmittelbar unsere Zeit Nicht minder wichtig, wenngleich nicht ganz so geläufig, der altgriechische Kalender: Man rechnete teils mit dem Sonnen‑, teils mit dem Mondjahr. Das Mondjahr ist um 11 Tage kürzer als das Sonnenjahr. D.h., alle 33 Jahre fehlt ein ganzes Jahr. Deswegen fügten die Griechen Schaltjahre mit 13 Monaten ein. – Der wichtigste Kalender stammte von dem Astronomen Meton, der die Sommersonnenwende am 28. Juni 432 v.Chr. beobachtete. Meton hatte berechnet, daß 19 Sonnenjahre = 235 Mondmonate sind, daß also nach 19 Jahren die verschiedenen Mondphasen wieder auf die gleichen Tage des Sonnenjahres fallen [24]. Damit ergab sich der altgriechische Lunisolarkalender, der ausreichend mit den Jahreszeiten übereinstimmt.

Mit dem Lunisolarkalender und dem metonischen Zyklus der 19 Sonnenjahre hängt nun auch die Berechnung des Zeitpunktes des Osterfestes zusammen, dessen Daten ja ebenfalls auf astronomischen Uhren erscheinen [25]. Ich möchte die wesentlichen Gedanken an dieser Stelle nur kurz wiedergeben, da die Grundgedanken bekannt sein werden. Festgelegt wurde der Ostertermin im Ablauf des Jahres auf dem ersten ökumenischen Konzil von Nicäa (bei Nikomedien) im Jahre 325 [26], auf dem es theologisch brisante Streitpunkte gab wie den arianischen Streit über das Verhältnis des Sohnes zu Gott.

Beherrscht wurde es von Kaiser Konstantin, der u.a. das berühmte Toleranzedikt i.J. 313 unterzeichnet hatte. Mit dieser Mailänder Konstitution wurde das Christentum anerkannter Kult. Während Konstantin in diesen Jahren noch nicht selber zum Christentum konvertierte, förderte er doch diese junge Religion nach Kräften. So entstanden zahlreiche Kirchen unter seiner Herrschaft, u.a. die erste Peterskirche in Rom. Auf diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, daß man sich auf diesem Konzil von Nicäa auch um die Frage bekümmerte, wann denn nun Ostern zu feiern sei.

Der Ostertermin wurde so definiert: Ostern falle auf den ersten Sonntag nach dem auf die Frühjahrs ‑ Tag‑und‑Nacht‑Gleiche folgenden Vollmond. Schematisch dargestellt:

              -> 21. März

                                         -> nächster Vollmond

                                                                                  -> 1. Sonntag danach

Mit dieser Festlegung werden der Sonnen- und der Mondkalender miteinander verbunden: der Sonnenkalender mit dem Bezug auf das tropische Jahr (Tag- und Nachtgleiche am 21. März) und der Mondkalender mit dem Abwarten des Vollmondes. Innerhalb des tropischen Jahres wandert aber der synodische Mond. Das bringt Bewegung in die Festlegung des Zeitpunktes. Durch diese Verschiebbarkeit des Ostertermins gibt es Ostergrenzen; der Ostersonntag kann frühestens am 22. März und muß spätestens am 25. April [27] gefeiert werden. Damit werden auch alle von Ostern abhängigen Feste bewegt.

Eine Tafel in Ravenna im Dom-Museum [28], die vor Ort eher zurückhaltend betrachtet wird, gibt wertvolle Hinweise zur Berechnung des Osterfestes. Sie  stammt aus dem 6. Jh. Es ist eine astronomische Tafel mit 19 Sektoren, die also genau dem metonischen Zyklus mit dem Aufeinandertreffen von Sonne und Mond in den Perioden der 19 Jahre entspricht. Sie ermöglicht die Berechnung der Ostertermine für den Zeitraum der Jahre 532 – 626. Solche Berechnungstafeln sind auch – wie oben dargelegt – bei astronomischen Uhren üblich.

Zu eben jener Zeit, als diese Tafel entstanden sein dürfte,  setzte sich eine weitere, bis auf den heutigen Tag nachwirkende Neuerung durch. Es war der Vorschlag, den der Abt Dionysius Exiguus im Jahre 525 vorlegte. Dieser Mönch sollte im päpstlichen Auftrag die Osterzyklen neu berechnen. Dabei schlug er vor, die Zählung nach der für die Christen tyrannischen diokletianischen Ära fallen zu lassen zugunsten einer Angabe, die sich auf das Ureigenste des Christentums beziehe – die Menschwerdung Christi. Dieser an sich nicht neue Gedanke erwies sich jetzt als durchsetzungsfähig. Zu diesem Vorgang notierte Dionysius Exiguus [29]:

Da der erste Zyklus des heiligen Cyrill im Jahre 153 nach Diokletian beginnt und im Jahre 247 endet, … wollten wir unseren Zyklus nicht mit der Erinnerung an diesen Gottlosen und Christenverfolger verbinden, sondern haben es vorgezogen, zu Beginn die Zeit nach Jahren seit der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu notieren, damit der Anfang unserer Hoffnung uns vertrauter werde und die Ursache der Wiederherstellung der Menschheit, nämlich das Leiden unseres Erlösers, klarer hervortrete.

Mittlerweile ist nun längst bekannt, daß eben diese Zählung ihre Tücken gleich selber einbaute. Denn der „Zeitsprung“ geriet zu kurz. Gegenüber den durch astronomische Forschung gewonnenen Daten fehlen in der dionysischen Berechnung etwa sieben Jahre. Diese Fehlerdifferenz ergibt sich, wenn der Stern von Bethlehem mit dem Halleyschen Kometen gleichgesetzt wird, dessen Erscheinung eben nicht in das von Dionysius angesetzte Jahr fallen konnte. – Mit anderen Worten: Die berühmte Jahrtausendwende fand früher statt als sie gefeiert wurde!

Ostern  ist das alte Hauptfest im kirchlichen Jahresablauf. Wir pflegen es eher mit allgemein wenig verstandenen Symbolen anzugehen, wobei die durchaus interessante Verbindung zwischen Hase und Ei [30] weitestgehend unbekannt ist. Sie ist aber nur am Rande mit der Frage der Kalendarien verknüpft. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang die zunächst sehr starke [31], dann gelockerte und schließlich aufgegebene Bindung des Tauftermins an das Osterfest.

Ein Beitrag von Dr. Werner Heinz


Werner Heinz und arbeitet als freiberuflicher Archäologe und Historiker in Riedlingen (Süddeutschland). Seine Studien der Archäologie und der Kunstgeschichte, erweitert um Theologie und Philosophie, führten ihn zu einer langjährigen Untersuchung des römischen Heilbades von Badenweiler. Werner Heinz ist Autor von mehr als 180 Publikationen, darunter zehn monografische Titel. Er ist der zweite Vorsitzende der Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung e.V. und arbeitet im Beirat der internationalen Mittelalter-Zeitschrift Mediaevistik mit.

Ein Beitrag von Dr. Werner Heinz


Der Text erschien in: Ordo et Mensura VI, hrsg. Von Rolf C. A. Rottländer. Internationaler interdisziplinärer Kongreß für Historische Metrologie vom 28. Bis 31. Oktober 1999 in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt Braunschweig. St. Katharinen 2000, S. 127 –  154 (= Sachüberlieferung und Geschichte; 31).


Werner Heinz und arbeitet als freiberuflicher Archäologe und Historiker in Riedlingen (Süddeutschland). Seine Studien der Archäologie und der Kunstgeschichte, erweitert um Theologie und Philosophie, führten ihn zu einer langjährigen Untersuchung des römischen Heilbades von Badenweiler. Werner Heinz ist Autor von mehr als 180 Publikationen, darunter zehn monografische Titel. Er ist der zweite Vorsitzende der Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung e.V. und arbeitet im Beirat der internationalen Mittelalter-Zeitschrift Mediaevistik mit.


Anmerkungen:

[1] Die wesentlichen Überlegungen dieses Aufsatzes entstanden aus den Vorarbeiten für einen Vortrag im Landesmuseum Braunschweig im Januar 1999 heraus. Während der Vortrag – das Manuskript dazu befindet sich zur Zeit im Druck in der Wissenschaftlichen Zeitschrift des Braunschweiger Landesmuseums – wesentlich auf die Themen Zeit und Sekundenpendel und Kalendarien zielte, geht es in dieser Arbeit weit intensiver um die Verknüpfung von Maß und Zeit. Verbindende Passagen ergeben sich für beide Aufsätze gleichermaßen. – Den Vortragscharakter habe ich, soweit es ging, beibehalten.

[2] Nach: W. Schlosser – J. Cierny, Sterne und Steine: Eine praktische Astronomie der Vorzeit (Darmstadt 1996) 53.

[3] Jüngst dazu: E. von Wallenstern, Nilometer und Sedfest – zur Kohärenz von Jubiläumsfest und Nilstandsmessung, in: H. Witthöft (Hg.), Acta Metrologicae Historicae V (Sachüberlieferung und Geschichte Bd. 28. St. Katharinen 1999) 255ff. mit weiterer Literatur.

[4] A.O. 52.

[5] Der Himmel über dem Menschen der Steinzeit: Astronomie und Mathematik in den Bauten der Megalithkulturen (Berlin – Heidelberg – New York 1970).

[6] Sternenstraßen der Vorzeit: Von Stonehenge nach Atlantis (München 1995). Keltischer Kalender a.O. 145.

[7] Z. B. Müller a.O. 50ff. – Demgegenüber weisen Schlosser – Cierny a.O. 86 die Deutung als Kalenderbauwerk ausdrücklich zurück, obwohl sie die Ausrichtung zur Sommersonnenwende hin („ist ohne Zweifel Realität“) einräumen.

[8] Zu den Termini z.B.: J. von Freeden, Malta und die Baukunst seiner Megalith-Tempel (Darmstadt 1993) 287.

[9] Malta: Mit Gozo, Comino und Cominetto (München 1993²) 220ff. Zur Umsetzung der relativen Datierungen in absolute Zahlen: a.O. 8.

[10] Der prähistorische Tempel der Mnajdra: Ein Kalender aus Stein (Malta 1991). Nach seinen Untersuchungen entstand die hier eingefügte Zeichnung.

[11] H. Becker – L. Kreiner, Prospektion und Sondagegrabung der mittelneolithischen „Ellipse“ bei Meisternthal, in: Das archäologische Jahr in Bayern 1993 (1994) 34ff.

[12] Z.B.: J. McMann, Rätsel der Steinzeit: Zauberzeichen und Symbole in den Felsritzungen Alteuropas (Augsburg 1990) 23ff. – Schlosser – Cierny a.O. 86ff.

[13] J. May – R. Zumpe, Kalendarien in der jüngeren Bronzezeit im nördlichen Mitteleuropa. Ein Beitrag zur Interpretation buckelverzierter Amphoren und Schilde, in: B. Hänsel (Hg.), Mensch und Umwelt in der Bronzezeit Europas (Abschlußtagung der Kampagne des Europarates: Die Bronzezeit: das erste goldene Zeitalter Europas, an der Freien Universität Berlin, 17. – 19. März 1997, Kiel 1998) 571ff. – Ich danke W. Schmid, München, für den freundlichen Hinweis auf diese Arbeit!

[14] W. Heinz – R. C. A. Rottländer – W. Neumaier, Untersuchungen am Turm der Winde in Athen, in: Jahresh. des Österr. Archäolog. Instituts 59, 1989, 55ff.

[15] F. Masi, Il Pantheon come strumento astronomico (Rom 1996). – Völlig unabhängig von der hier vorgelegten Deutung, aber mit vergleichbarem Ergebnis jüngst: G. Sperling, Das Pantheon in Rom: Abbild und Mass des Kosmos (Neuried 1999) 201ff.

[16] Nur einige Literaturhinweise: E. v. Bassermann-Jordan, Uhren (5. von H. v. Bertele überarbeitete Auflage; Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde Bd. 7, Braunschweig 1969) 97ff. – R. J. R. Rohr, Die Sonnenuhr: Geschichte, Theorie, Funktion (München 1982). – G. König, Die Uhr: Geschichte – Technik – Stil (Berlin – Leipzig 1991) 20ff.

[17] K.-D. Herbst, Die Entwicklung des Meridiankreises 1700 – 1850: Genesis eines astronomischen Hauptinstrumentes unter Berücksichtigung des Wechselverhältnisses zwischen Astronomie, Astro-Technik und Technik (Bassum – Stuttgart 1996) 252.

[18] Grundlegend das kleine Büchlein von A. und A. Chiarini, La Meridiana  della Basilica di S. Petronio in Bologna (Come si legge – Chi ne fu l’autore – Altre meridiane – Orologi – Calendari) (Bologna 19925). – Auch in ausführlichen kunsthistorischen Führern wie etwa dem von G. Kauffmann (Emilia-Romagna – Marken – Umbrien [Reclams Kunstführer Italien Bd. 4, Stuttgart 1977] 113ff. zu San Petronio) findet sich der Meridian meist nur kurz erwähnt (a.O. S. 118).

[19] Chiarini a.O. 13.

[20] Chiarini a.O. 11 Abb. 8.

[21] R. C. A. Rottländer, Eine neu aufgefundene antike Maßeinheit auf dem metrologischen Relief von Salamis, in: Jahresh. des Österr. Archäolog. Instituts 61, 1991, 63ff., bes. Tabelle S. 66.

[22] Die entsprechenden Notizen hierzu finden sich in den gängigen Handbüchern, so z.B. in Rohr (Anm. 16) 43ff. Zu detaillierteren Nachweisen vgl. Heinz (Anm. 1).

[23] Hier zitiert nach dem kleinen, kenntnisreich geschriebenen Führer: G. Jászai, Der Sankt Paulus Dom zu Münster (Münster 1985²) o.P.

[24] Auch das fand Eingang in die mittelalterlichen Kalendarien wie z.B. an der ältesten noch funktionierenden astronomischen Uhr der Welt im Rostocker Dom: M. Schukowski, Die Astronomische Uhr in St. Marien zu Rostock (Königstein 1992) 41. – Allgemein z.B. auch: J. T. Fraser, Die Zeit: Auf den Spuren eines vertrauten und doch fremden Phänomens (München 1993³) 102.

[25] Z.B. neben Rostock (s. vorige Anmerkung) auch Straßburg: G. Oestmann, Die astronomische Uhr des Straßburger Münsters: Funktion und Bedeutung eines Kosmos-Modells des 16. Jahrhunderts (Stuttgart 1993) 123.

[26] Recht informative Darstellung bei: C. Andresen, Geschichte des Christentums I: Von den Anfängen bis zur Hochscholastik (Stuttgart 1975) 51f; 30f.; 9f. mit dem wichtigen Hinweis auf eine sprachliche Verbindung, die in der Griechisch sprechenden Koine die Übernahme des althebräischen Passah-Festes vereinfachte: das hebräische pæsah („verschonen“) wird mit dem griechischen pascein („leiden“) verknüpft.

[27] R. Wendorff, Tag und Woche, Monat und Jahr: Eine Kulturgeschichte des Kalenders (Opladen 1993) 64.

[28] Eine der seltenen Abbildungen bei: G. Bustacchini, Ravenna: Seine Mosaiken, seine Denkmäler, seine Umgebung (Ravenna 1984) 79 Abb. 108. – Funktional ähnlich die sehr viel spätere „Drehtafel“ zur Bestimmung des Osterfestes – ebenfalls mit 19 Sektoren – bei Wendorff a.O. 63 Abb. 7.

[29] H. Maier, Die christliche Zeitrechnung (Freiburg 1991; 1997) 72f.; danach das Zitat hier.

[30] Sie dürfte im mittelägyptischen Hasengau zu suchen sein an jenem Ort Hermopolis Magna (heute: Eschmunein), in dem eine der Schöpfungsgeschichten des alten Ägypten beheimatet war: die des Ureis vom Großen Schnatterer. E. Brunner-Traut, Ägypten (Stuttgart 19824) 554.

[31] Vgl. etwa: R. Berger, Kleines liturgisches Wörterbuch (Freiburg 1969) 433.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Zeit und Maß in Relation – Teil 1“

  1. Man könnte ergänzen, daß der islamische Kalender völlig losgelöst ist vom Vegetationszyklus. Daraus ist abzuleiten, daß die Erfinder dieser Zeitrechnung dem Stadtbürgertum bzw. dem Nomadentum entstammten, nicht dem Bauerntum. Das stimmt mit dem historischen Befund überein.

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