Es fällt schwer, sich Gedanken über das Zeitliche zu machen, wenn man in ihm befangen ist – mit all seinen Fanggeräten: Computer, Smartphone, ICE, Kurs- und Kochbüchern, die nur schlechtes Gewissen erzeugen. Es gibt auch derzeit die Mode, mit Buchtiteln Druck auf Lebenszeit auszuüben, die einem aufschwätzen wollen, was man alles noch erleben soll, bevor man nichts mehr erleben kann: 1000 Orte, die Sie gesehen haben müssen, bevor Sie sterben, 1000 Bücher, die Sie gelesen haben müssen. Dagegen hätte ich gern das Buch der 1000 Bücher, die Sie nicht gelesen haben müssen, bevor Sie sterben, oder Was muss ich tun, um wieder Analphabet zu werden?
Ich wurde bei verschiedenen Gelegenheiten aufgefordert, etwas über Zeit zu sagen, und natürlich ging es mir nicht anders als dem berühmten Augustinus, als er sein berühmtestes Zitat in die Welt setzte, das nun von Zeitpropheten und Zeitpredigern immer wiederholt wird, und deshalb auch von mir: „Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es einem erklären will, der danach fragt, weiß ich es nicht.“ (Augustinus Bekenntnisse, Buch XI)
Ich kann also keine Antwort geben auf das „Was“, wohl aber darauf, wie wir mit der Zeit umgehen. Daraus erschließt sich ja, was wir mit ihr meinen, was sie uns bedeutet. Es will mir sogar scheinen, als ob man durch die verschiedenen Arten, in der Zeit zu sein und zu handeln, die Konflikte dieser Welt im Großen wie im Kleinen erklären kann. Man könnte beginnen mit den vier Temperamenten. Dem Melancholiker (alle auch als Frauen mitzudenken) ist das Vergängliche immer präsent, er sieht aus dem zweiten Futur: So wird es gewesen sein. Der Sanguiniker dagegen übersieht die Zeitlichkeit und überlebt sie gewissermaßen: wir haben Spaß, nach uns die Sintflut. Der Choleriker ist verfangen in der Zeit, er sieht die Folgen seiner Reaktionen nicht, er versteigt sich, schäumt, kocht über wie ein Milchtopf und muss sich danach mit den Konsequenzen auseinandersetzen: keine Kontrolle über die Zeit und sich. Der Phlegmatiker sieht zwar die Zeit, lässt sich aber nicht beeindrucken. Ob er tot oder lebendig ist, welchen Unterschied macht das noch?
Die Sieben Todsünden ließen sich auch zeitlich einordnen: Wer zum Beispiel gierig ist, kann sich auch zeitlich nicht zügeln. Es fehlt die Geduld. Neurologen haben herausgefunden (ach, wie schön diese wissenschaftlichen Verbeugungen immer passen), dass die Menschen Sätze zeitlich unterschiedlich verarbeiten und dass diese Unterschiede zu Problemen zwischen ihnen führen. Nicht nur die Chemie, auch die Uhren müssen übereinstimmen. Ich habe zum Beispiel Schwierigkeiten mit Leuten, die sich während ihres Redens nicht von eingeworfenen Kommentaren beeinflussen lassen, die nicht zu Verzweigungen bereit sind, weil sie ihre Ohren beim Reden verschließen. Es passt einfach nicht in ihre zeitlichen Flüsse, solche Nebenflüsse zuzulassen, Umwege, Abschweifungen, die aber für den Hörer wichtig sind.
Wenn es also schwerfällt, sich über die eigene Zeitlichkeit Gedanken zu machen, so gibt es nur eine Möglichkeit: Man muss sich verfremden. Zur Selbstverfremdung führen manche Wege – es mag der Rausch sein oder die Krankheit, der Tod von nahen Menschen, der Verlust einer Beziehung, eine Reise in eine Welt, die einen einem selbst entreißt, Sex, große Liebe. Erst dann, aus der Perspektive eines anderen Geschöpfs, sieht man die eigenen Zeitlinien oder die der Gesellschaft deutlicher, ja, man erkennt das Zeitspektrum, in dem man lebt. Erst als Fledermaus erkenne ich die sinnlichen Begrenzungen des Menschen, der ich einmal war. Allerdings muss ich immer noch dieser Mensch sein, sonst entgeht mir auch als Fledermaus etwas. Sie steht so verständnislos dem Menschen gegenüber wie dieser ihr.
Wir bewohnen ja nur ein enges Wahrnehmungsgehäuse im Universum, obwohl man uns zugute halten muss, dass wir immer wieder versucht haben, es zu verlassen oder zu erweitern. Vor einiger Zeit erhielt ich eine Einladung, eine Zeitlang in einem alten Turm an einem siebenbürgischen Pfarrhaus zu wohnen. Die alten Siebenbürger Sachsen hatten den Ort verlassen, es ragte nur noch ein wenig von dieser Vergangenheit in die Gegenwart. Gegenwart, las ich neulich, ist das, was von der Vergangenheit übrigbleibt. Man könnte auch sagen, das, was von der Zukunft in die Vergangenheit reicht. Um den Turm flog die Eule, im Dach rumpelte nachts der Siebenschläfer. Die Rumänen ringsum hatten noch Erinnerungen an die Deutschen, die dort einst wohnten, ja, diese kamen oft im Sommer zurück, um sich an ihre Jugend zu erinnern. Es fanden hier also Verschiebungen in der Zeit statt, die man in dieser Deutlichkeit im Alltag nicht wahrnimmt. Eine alte Folie, schattenhafte Bewegungen zurück und wieder vor, Erinnerungen anderer und die eigenen Erinnerungen im Kontakt oder nebeneinander unverbunden: Man konnte förmlich die Zeitströme spüren.
Die Zusammensetzung des Dorfes war zudem Resultat vieler ethnischer Wanderbewegungen und politischer Gestaltung und Willkür. Der Wehrturm, in dem ich wohnte, diente dem Schutz gegen die Türken und andere Feinde, die den wohlhabenden Sachsen an den Speck wollten. Im Pfarrhaus stand eine alte Bibliothek aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Pfarrer hatte sie bei seiner Auswanderung nach Deutschland zurückgelassen, sein Sohn hatte sie aufgefrischt, nachdem er das Pfarrhaus saniert hatte. Gäste hatten Bücher hinterlassen, sodass sich auf den Regalen zeitliche Schichten gebildet hatten. Der Sohn, mein Gastgeber, verkörperte zudem selbst eine andere Zeit. Sprachlich bewegte er sich im Idiom des k.u.k. Reiches, das 1918 untergegangen war, kulturell definierte ihn Berlin ebenso wie Rumänien. Als der Hausherr hörte, dass ich mir Gedanken über die Zeitlichkeit machte, legte er mir ein wunderbares Goethezitat hin. Es ist sozusagen der Inbegriff der Ungleichzeitigkeit, die ich in diesem siebenbürgischen Dorf erleben durfte:
Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren … Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten seyn einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt. (6. Juni 1825, Brief an Zelter)
Der Geheimrat hatte sehr früh erfasst, was auf die Menschheit zukam oder besser: was sie auf sich zog wie ein Magnet. Schnelligkeit und Reichtum sind nicht Dinge, die über die Straße spazieren und der Mensch wählt sich eins aus. Er ruft sie vielmehr herbei, er dient sich ihnen an, sie versprechen ihm das Goldene vom Himmel. Beide setzen da an, wo die Achillesferse des Menschen liegt, die ihm bei seiner Geburt mitgegeben ward: in der Sterblichkeit.
Die Alchemie verkauft zwei Rezepte gegen das Unglück: den Stein der Weisen, der die unedlen Dinge in Gold verwandelt, und das Elixier des Lebens, das die Unsterblichkeit oder zumindest ein langes, langes Leben verspricht. Beide Rezepte sind Rezepte gegen den Tod. Gold übersteht die Zeit und verwest nicht, und das Elixier trägt es im Namen. „Die Existenz dieses Elixiers konnte bisher nicht nachgewiesen werden“, schreibt Wikipedia, das selbst Züge eines Elixiers trägt, und auch die Silben Wiki sollen schnell bedeuten (auf Hawaiianisch). Ich fühle mich auch an das deutsche quicklebendig und das englische quick erinnert, das noch in dem unbeständig-lebendigen Quicksilber weiterlebt, aus dem wiederum der unselige Quacksalber entsprang. Denn es ist klar, dass die beiden Rezepte gegen die Sterblichkeit die Scharlatane ebenso wie Religionen und andere Trostsysteme und Verheißungen, Sekten und Gurus hervorgebracht haben. In der Werbung sind wir von Jugend umgeben, und noch die Alten scheinen nur grau gefärbte Jugendliche zu sein mit aufgemalten Falten. Die Botschaft lautet: mit unserem Mittel überwinden Sie die Zeit, Sie werden so jung wie diese Bilder der Jugend um Sie herum!
Jugend umgab mich nicht in diesem Siebenbürger Gemäuer. Als Pfarrhaus hatte es auch eine Botschaft. Es stand für eine vertikale Achse in einer horizontal angelegten irdischen Welt. Auf dieser Achse wanderten alte Texte auf und ab, Erinnerungen an Offenbarungen, biblische Bücher. Wer hier sprach, und sei es am Klavier, im Speiseraum oder am Computer, sprach in anderen Bezügen. Es passte mir sehr, denn ich musste meine Gedanken über die Zeit ordnen für eine Rede in einer Kirche. In einer Kirche war ich zuletzt als Lektor vor vierzig Jahren aufgetreten. Damals durfte ich vorlesen (das war in der Kathedrale von Coventry), diesmal sollte ich eigene Worte sagen (in der Leipziger Thomaskirche). Die zeitliche Achse des Siebenbürger Pfarrhauses war die passende Welt für eine solche Vorbereitung. Ich fragte mich also, welches Gesicht die Zeit in der Bibel trägt. Die Bibel nimmt natürlich alle philosophischen Schattierungen dieses Gesichts vorweg – das Sein ist ein Sein zum Tode, die Zeit des Menschen ist begrenzt, er ist ein Staubkorn vor Gott, das Universum selbst ist ein solches Staubkorn. Alles hat seine Zeit: Darüber hat der Prediger Salomon gesprochen, und zwar so, dass es über die Zeiten hinweg verstanden wurde. Wahrscheinlich gibt es dicke theologische Schriften über das Verständnis der Zeit in der Bibel. Ich will mich nur mit den ersten Sätzen aus Genesis I, Vers 3, begnügen:
Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.
Aus diesen wunderbaren Sätzen geht hervor, dass die Schöpfung durch Nennung geschieht und dass die erste Nennung das Licht ist. Das Licht aber ist im Dunkel enthalten, Gott muss es daraus lösen und beide unterscheiden. Der Unterschied, die Differenz ist nun in der Welt, und er ist zeitlicher Natur, denn das Dunkel ist der Abend und das Licht der Morgen. Das Licht ist die Zeit, die in die Welt gekommen ist. Licht ist Zeit. Erkennbar ist beides nur, weil es sich absetzt von etwas anderem. Wenn das Licht dem Dunkel entgegengesetzt ist, wem steht dann aber die Zeit gegenüber? Ist es die Nicht-Zeit, die Ewigkeit? Die Nicht-Zeit vor dem Urknall? Doch schon dieses Wörtchen vor ist irreführend; es setzt ja Zeit voraus, wo keine gedacht werden kann.
Mit der Benennung von Licht und Dunkel, mit der Unterscheidung führt Gott noch etwas ein: das Zählen. Sobald mehr als eins vorliegt, fangen wir an zu zählen. Mit dem Licht ist die Messung eingetreten. Auf einmal sehen wir Dinge und wir zählen. Das Licht bringt Ordnung, und die Zahl verkörpert sie. Aus einer räumlichen Ordnung wird eine zeitliche.
Verfolgen wir das Thema Licht=Zeit. Im 18. Jahrhundert kam die Frage auf, woraus Licht eigentlich bestehe. Newton behauptete, es sei aus Teilchen zusammengesetzt, sein Kontrahent Huygens ging von der Wellenform des Lichtes aus. Beide konnten sich auf Analogien aus dem Alltag beziehen – auf Sand der eine, auf Wasser der andere. Bei dem einen zerfällt etwas, es rieselt sozusagen, bei dem anderen zerfließt es. Beiden gemeinsam ist, dass sie im Licht etwas höchst Fragiles sehen, etwas, das in jedem Moment vergehen kann vergeht. Es ist im Übrigen erstaunlich, dass irgendwann jemand bemerkte, dass Licht eine Geschwindigkeit hat. Sand, der sich bewegt, Wasser, das ganz schnell fließt: Zu halten in der Hand ist beides nicht. Sand wiederum ist Verteilung im Raum, nicht gerichtet, allenfalls durch Schwerkraft. Man kann aber Burgen daraus bauen. Die Welle ist gerichtet, sie verkörpert Kontinuität, sie lässt sich sehen im Auf- und Abschwellen, im Fluten und Strömen. Sie hat Flusscharakter – so wie wir oft die Zeit beschreiben. Auch wenn es Sanduhren gibt, sprechen wir doch weniger von einer rieselnden Zeit, einer Zeit, die aus Atomen besteht, sondern neigen dazu, ihre fließende Natur zu betonen.
Der Gedanke der Kontinuität ist uns vertrauter. Er rekurriert ja auf alte Vorstellungen: den Ahnenkult und die Angst vor dem Tod. Die Menschen verehren die Ahnen, weil sie den Tod überwinden wollen. Sie bauen Ketten ins Jenseits und über diese Verbindungen herrschen die Toten über die Lebenden – als Vorbilder, Denkmäler, Erinnerungen, Lehrmeister oder Abschreckung. Wir möchten nicht, dass etwas abreißt, was meine Identität betrifft. Die Vorfahren sind das ausgedehnte Ich. Meine Identität selbst ist verwoben und kontinuierlich eingebettet, ich pflege die Illusion eines konstanten Ichs, so wie wir als Gruppe Illusionen der Konstanz pflegen. Es sind nützliche Fiktionen, die selbstverständlich auch schädlich werden können. Das ausgedehnte Ich erlebt sich in Wellenform, als Teil eines Flusslaufes, dem es nur selten entsteigt, um ihn zu beobachten. Auf die Literatur angewandt könnte man sagen: Die Welle steht für ein chronologisch- kausales Erzählen, für Erzählflüsse. Zeit als Welle macht sich in realistischen Romanen geltend: bei Defoe und Richardson, bei Dickens und Fontane, Balzac und Thomas Mann.
Das ungewohnte Konzept der Zeit als Gebläse, als Partikelstrom (ah, wieder der Strom, das Fließen, wir kommen nicht los!) scheint uns Sand in die Augen zu werfen. Doch in der Literatur wurde es ebenso aufgegriffen. Wenn Wissenschaften alltagsfern sind, so kann dies auch von Literaten geleistet werden. Die Zeit wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als diskontinuierlich erfahren. Die sozialen Verhältnisse sind komplex geworden, Kausalitäten werden undurchsichtig. Neue Technik wie die Telegrafie, der Film oder das Telefon werfen Raum- und Zeitordnungen durcheinander. Die Dauer der Zeit wird selbst zum Thema der Philosophie (Bergson), der Moment wird psychophysiologisch gemessen (Wundt) und dadurch zu einer separierten Einheit. Zusammenhanglosigkeit und Inkohärenz des Lebens wird zur gesellschaftlichen Erfahrung. Wir haben den schönen Ausdruck „etwas nicht auf die Reihe kriegen.“ Die Reihe – dieses Bild galt über Jahrhunderte für Ordnung überhaupt, man nannte sie auch die Goldene Kette. Seit Platon herrschte die Vorstellung einer Kette der Schöpfung, die noch für das Mittelalter von der göttlichen Sphäre bis zu den Steinen reichte und in der jedes Glied seinen festen Platz hatte. Seit dem 18. Jahrhundert, vielleicht schon seit Shakespeares Tagen, werden Löcher in dieser Kette entdeckt. In Laurence Sternes Roman Tristram Shandy wimmelt es nur so von Löchern und Lücken. Wir können sie auch Zufall nennen, manchmal sind es auch flashes, Eingebungen aus einer unbekannten Dimension. Sterne organisiert seinen Sprachzauber mit einer literarischen Form, die gerade erst erfunden worden war: dem realistischen Roman. Kaum ist das Kind geboren, wird es schon auf den Kopf gestellt. Man kann sagen, Welle und Partikel, die Dauer und die Unterbrechung (Abschweifung ist Sternes Rezept), bekriegen sich von Anfang an.
Im19./20. Jahrhundert stoßen die literarischen Konzepte des Zeitlichen erst recht aufeinander, ebenso wie sich die Diskussion um das Licht zuspitzt. Und hier zeigt sich das Besondere von Literatur: Sie ist die Innenseite der menschlichen Geschichte, sie ist die Geschichte unseres Träumens, Empfindens, Denkens, Bewusstseins und Fühlens. Das kann uns kein Historiker, keine Zeitung, kein Dokumentarfilm ersetzen, und auch nicht die Neurologen, denn sie müssen von außen beobachten und abbilden. Im 19. Jahrhundert erfährt sich die Leserschaft Europas und Amerikas als Welle, sie liebt in einer sich aufbrechenden und mobilisierenden Welt die Kontinuität. So steigt der Familienroman auf, der Roman der Nationen, der aus der Vergangenheit einen Mythos macht oder in ihr die Ursprünge der Gegenwart entdeckt. Da wird Rom von den Germanen erobert, Balzac entwirft den Faltbogen Frankreichs, Dickens legt die Kausalitäten in Biographien frei, man glaubt an Wachstum und Fortschritt, an die Macht der Evolution. Die Kette des Seins wird auf die Zeit übertragen. Doch zeigen sich zugleich Risse und Diskontinuitäten. Im selben Dickens geht es um Erinnerungslücken oder Ursprungslügen: Woher kommt das Vermögen des jungen Pip in Große Erwartungen? Stammt Mr Bounderby in Harte Zeiten wirklich aus solch ärmlichen Verhältnissen, wie er es glauben machen will? Familien hüten Lügen und Brüche, in der Welle liegen Partikel verborgen, die Zeit ist nicht linear, sondern läuft auf gekrümmten Linien. Sie sorgt für Überraschungen. Man studiert die subjektive Wahrnehmung von Zeit und findet, dass sie mit objektiven Entwürfen kollidiert.
Henri Bergson entdeckt die durée. Sein Zeitgenosse Edouard Dujardin führt den inneren Monolog ein in seinem 1887 erschienenen Roman Les lauriers sont coupés (Der Lorbeer ist ab), der auf Proust, Schnitzler, Woolf und Joyce wirken sollte. In der fließenden Dauer werden Sprünge sichtbar, assoziative Einsprengungen, chaotisches Erinnern, Akausalität. Die modernistische Dichtung – Ezra Pound, T.S. Eliot und andere – setzen diese Erfahrung um in Sprache und Bild. Gesichter einer Menschenmenge in der Metro von Paris werden zu Blüten, die kurz aufleuchten und wieder vergehen. Die Quantenphysik entdeckt den Sprung, die Diskontinuität in der Materie. Dinge verlieren ihre Berechenbarkeit. Wie Partikel schießt alles durch den Raum, der zudem sich mit der Zeit verbindet zur Raumzeit. Die Welt wird unvorhersagbar, der Zufall scheint die Regie zu übernehmen. Dichtung spielt mit Chiffren, der Roman nutzt die Vielsträngigkeit und die Umkehrbarkeit von Zeit. Joseph Conrad ist einer der ersten, der mit neuen Zeitkonzepten arbeitet. Es gibt keine Realität mehr, sondern nur noch Rekonstruktionen von Geschehnissen. Was hat Kurtz im Kongo tatsächlich gemacht und gedacht? Wieso schreibt dieser Unergründliche plötzlich an den Rand seiner humanistischen Ergüsse den Ausruf, man solle die Eingeborenen vernichten? In diesen Werken vereinen sich Welle und Teilchen, denn die Leser müssen mit Lücken und Hindernissen arbeiten, um ihre Vorstellungen von kausalen Ketten wieder herzustellen.
Zur gleichen Zeit stellen die Physiker fest, dass Licht tatsächlich beides ist – Welle und Teilchen. Es kommt nur auf den Standort des Beobachters an, auf das Medium, mit dem das Licht analysiert wird. So wird auch der der moderne Roman auf zwei Wegen aufgenommen: einmal kontinuierlich als Bewußtseinsstrom, zum anderen aber diskontinuierlich als Augenblick von Erleuchtung, sei sie auch profaner Art – als Epiphanie bei Joyce oder moment of vision bei Virginia Woolf. Auch die große Suche nach der verlorenen Zeit, die Marcel Proust unternahm, verbindet beides: eine lange Geschichte von 3000 Seiten, die als Bildungsroman der Seele, des Untergangs der Aristokratie gelesen werden kann, und doch nur denkbar ist durch die plötzliche Eingebung beim Genuss eines bescheidenen Gebäcks, das er Madeleine nennt. Es handelt sich um einen begehbaren Palast der Erinnerung, doch verändern sich die Räume des Palastes und ihre Lage, sobald ein Betrachter eintritt. Zeit, wenn man Proust fragte, wäre nicht greifbar, sie existiert nur in der Form der Suche.
In der Postmoderne hält man die großen Flüsse, die man auch Narrative nennt, für suspekt. Marxismus, Christentum oder die faschistischen Ideologien suggerieren zeitliche Flüsse, in die man nicht steigen will. Man zieht Tümpel und Bäche vor, Rinnsale oder Seen, die mit ihren Spiegelungen den Labyrinthen gleichen. Man fürchtet den Einflusscharakter von Flüssen, Ströme, die alles mit sich tragen, nicht nur Häuser, sondern ganze Gesellschaften – aber wohin? In Meere von Blut. Überhaupt wird das menschliche Gedächtnis in Zweifel gezogen, am deutlichsten noch in einer Erzählung, die die Erinnerung selbst zum Gegenstand hat. Jorge Luis Borges’ Funes el memorioso (deutsch „Das unerbittliche Gedächtnis“) zeigt einen Menschen, der sich an alles erinnern kann, jede Sekunde seines Daseins ist ihm präsent, und so muss er zwangsläufig zugrunde gehen. Er wird zu einer Simulation seiner Vergangenheit, die er eins zu eins nachlebt, so wie Borges auch Landkarten in Erwägung zog, die die Realität eins zu eins wiedergeben.
Da ich diese Gedanken in einer Kirche äußern darf, möchte ich zu diesem Ort zurückkehren. Kirchen stecken, rein äußerlich gesehen, einen kleinen Raum ab und zeigen mit ihren Türmen in den Himmel. Das Fließende spielt in ihnen eine Rolle, aber nur symbolisch – bei der Taufe oder beim Trinken des Weins. Die Zeit erscheint hier weniger als Fließende denn als Hereinscheinende. Wir nehmen das Licht durch die bunten Fenster wahr, wir sehen die Schatten an den Säulen spielen. Das Licht wabert nicht als Welle durch den Raum und wohl auch nicht in Teilchenform. Vielmehr ist es ein Gestaltetes und Gestaltendes. In der Kirche kommt die Strömung zur Ruhe, und wie um einen im Wasser stehenden Pfahl quirlt und strudelt es, das Wasser bekommt Augen und Hände. Das Fließende, die Zeit, wird Mensch. Die Kirche hält die Zeit nicht an, aber um sie herum muss die Zeit sich neu ordnen. Eine Kirche, ein Gottesdienst kann sozusagen Zeit erzeugen, und darin ähneln sie dem Kunstwerk, denn dieses hilft uns, uns der Zeitlichkeit bewusst zu werden, einen Blick in den Strudel zu tun, in dieses Verweilen von Zeit, bevor es uns wieder weiterzieht.
Solche Strudel in der Zeit zu entdecken, an denen die Zeit ihre Qualität verändert, ist heute wichtiger denn je. Ich vermute, dass die Finanzkrise auch durch eine immer schnellere Kommunikation entstanden ist, in der die Computer die Realität unter sich verhandeln, abseits der Menschen, die sie gefüttert haben. Im elektronischen Börsenhandel wird handgreiflich, was keine Hand mehr greifen, kein Gehirn mehr begreifen kann. Dadurch wird Nervosität maschinell verarbeitet, gesteigert und global kommuniziert. Kommunikation frisst Zeit. Das Medium wird genauso wichtig oder gar wichtiger als die Botschaft, wie Marshall McLuhan erkannte. Schon Thoreau machte sich um 1850 lustig über den Medienhype, der mit der Telegrafie aufkam. Nun können also Maine und Texas kommunizieren, schrieb er, doch sie haben nichts, was sie sich sagen könnten.
Wo früher Pufferzeiten lagen, herrscht heute Atemlosigkeit. Es ist wie mit dem Morden: die Fernwaffen erlauben eine schnelle Umsetzung von mörderischen Gedanken, die nur einem hitzigen Moment entspringen sein mögen. Wenn Maschinen regieren, heißt dies auch, dass Hemmungen wegfallen. Kirchen sollten daher Mitglieder werden im Verein zur Verzögerung der Zeit, denn sie stehen an Schnittpunkten von Zeitlinien: vertikal und horizontal, im Kreuz ohnehin. An Kreuzungen aber ist es notwendig, langsamer zu werden oder überhaupt Zeit wahrzunehmen. Man kann sich der vielen Bilder bewusst werden, deren sich die Menschen bedienen, um das Phänomen Zeit zu erfassen: Fluss, Licht, Partikel, Bühne, Baum, Berg, Ritual oder sogar Gottesdienst. In einer Kirche sind wir einer besonderen Form der Kommunikation ganz nah, man nennt sie auch Schöpfung. Deshalb halten sich wohl die Fledermäuse gern in Kirchen auf.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweis:
Der vorliegende Auszug stammt aus Elmar Schenkel, „Die Stille und der Wolf“, persona Verlag Mannheim 2014.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Ist die Zeit wie ein Klang?
fügt der sich zum Gesang,
baut man ihn in ein Lied,
hört man keine Zeit.
Der Lied-Dichter erbittet Zeit,
schafft Klang,
erzeugt Schwingung im Sänger.
Da Capo – zum Anfang.
Das Problem mit der Zeit ist nicht deren Definition sondern deren Wahrnehmung. Sie ist (mindestens) eine Achse der (mindestens) fünf Dimensionen der Metrik unseres sich ausdehnenden Kosmos‘. Ob unsere Wahrnehmung des „Fließens“ selbiger nun aus der Ausdehnung herrührt, irgendwie mit der CP-Verletzung und der CPT-Invarianz zu tun hat oder ein thermodynamisches Phänomen ist (wie es Stephen Hawking meinte) oder sonstwas, tja, wer weiß…
Vielen Dank für diesen schönen und anrührenden Text. Dazu ist mir eingefallen, dass auch in den Gedichten meiner Lieblingspoetin Eva Strittmatter das Phänomen Zeit als Thema oder Metapher immer präsent ist bzw. war: „Glück ist die Explosion von Zeit an der Überfülle des Lichts.“ Im Gedicht „Lichtung“, das besonders zum Winter passt, gibt es sogar „Zeittropfen“, die man „fallen sehen“ kann:-)
Herzlich, Katja Schmieder
Das Wort Zeit kann nicht in ein oder zwei Sätzen definiert werden. Zeit kann überhaupt nicht wirklich erklärt werden. Schon in der Antike hatte man große Schwierigkeiten mit der Zeit – und diese Schwierigkeiten konnten bis heute nicht beseitigt werden. Heute gibt es eine Erkrankung mit der Bezeichnung Kairophobie, hängt auch mit Zeit zusammen, leitet sich von Kairos ab. Kairos ist der Gott vom günstigen Augenblick (Augenblick -> Zeit) ->
https://www.mythologie-antike.com/t597-kairos-mythologie-gott-vom-gunstigen-augenblick-richtiger-zeitpunkt