„Wir sind die Schlangen, die Schlangen sind wir“ – Fabelwesen und Schöpfertiere in den Mythen Australiens

Australien. Für uns Europäer der Kontinent am anderen Ende der Welt, den wir u.a. mit Kängurus, Koalas, dem roten Felsgestein des Ayers Rock, dem Great Barrier Reef, der zu Silvester von Feuerwerk umrahmten Oper von Sydney, James Cook, dem Commonwealth und leider auch mit verheerenden Buschbränden in Verbindung bringen. Australien. Das ist auch das Land der Aborigines, seiner Ureinwohner, und es ist das Land der immer noch lebendigen Mythen. 60.000 Jahre (sogar von 120.000 Jahren ist in manchen Quellen aufgrund der Datierung von Felsritzungen die Rede) reicht diese lebendige Kultur mit ihren Traumpfaden zurück.

Von den Gesängen für die Ahnen und den europäischen Begegnungen mit den australischen Ureinwohnern hat der MYTHO-Blog bereits berichtet. Und auch in der Februar-Veranstaltung des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie sind wir den Spuren von Down Under gefolgt. Die Ethnologin Birgit Scheps-Bretschneider hat das Publikum im vollbesetzten Saal des Leipziger Budde-Hauses auf eine Reise mitgenommen, die den Zuhörer vom heißen Zentralaustralien ins nördlich gelegene Arnhemland und wieder zurück führte. Dabei standen vor allem Fabelwesen und Schöpfertiere der sogenannten Traumzeit im Mittelpunkt der Erzählungen, die auch interessante Neuinterpretationen europäischer Märchen (wie der von Rotkäppchen) beinhalteten.

Traumzeit ohne Träume

Der etwas irreführende Begriff „Traumzeit“ ist für das Verständnis australischer Mythen grundlegend. Doch was soll das eigentlich sein: Traumzeit oder „Dreaming“? Für Birgit Scheps-Bretschneider handelt es sich um ein philosophisches Konzept. Dieses rekurriert sowohl auf jene Zeit, als die Welt entstand, als auch darüber hinaus; die Traumzeit beinhaltet also das Leben, das war, das Leben, das ist und das Leben, das kommt. Sie ist nicht abgeschlossen, da die Schöpfung nicht abgeschlossen ist. Als die Erde noch wüst und leer war, erwachten die mythischen Wesen in der Erde und bahnten sich ihren Weg zur Oberfläche, wo in ihnen das Bewusstsein erwachte, „zu sein“. Die Wesen erkannten sich mit Namen und, nachdem sie sich zu Gruppen zusammengefunden hatten und beispielsweise den Himmel aufgerichtet hatten, konnten sie sich auch Auge in Auge sehen. Dabei stellten sie fest, dass sie alle verschieden waren (Tierwesen, Mischwesen, Menschwesen) und doch alle aus der Erde kamen. Auf ihren Wanderungen schufen sie das Land, so zum Beispiel Flüsse, Wasserstellen, Bäume, Pflanzen, Nahrungsquellen. Sie brachten Ordnung in die Welt, ehe sie in die Erde zurückkehrten, wo heute noch die Seelen der Menschen ruhen, bevor sie in den Körper geboren werden und nach dem Tod quasi wieder in die Traumzeit eingehen müssen. Mit dem, was wir Europäer dabei unter „träumen“ verstehen, hat das Ganze indes nichts zu tun. Im Grunde existiert kein adäquater Begriff, um die mythische Vorstellungswelt der australischen Ureinwohner zu beschreiben.

Eidechsen und Schlangen

Ein ganz besonders mythischer Ort ist der Ayers Rock, auch bekannt als Uluru. Wie eine Insel ragt er inmitten der zentralaustralischen Wüste auf. Für die Ureinwohner gilt der Berg als heiliger Ort. Einst lebten hier die Schlangen- und Eidechsenmenschen. Nachdem der eine Clan dem anderen die Frauen geraubt hatte, kam es zu einer Schlacht, die unentschieden endete (was generell in den Geschichten sehr häufig vorkommt). Das Land wurde geteilt und noch heute bezeugen Löcher im Felsen von den Treffern der Speere. Diese mythische Geschichte wird einmal im Jahr quasi reinkarniert und damit unter den Aborigine Clans lebendig gehalten. Bemalungen des Körpers spielen bei den Zeremonien eine große Rolle. Aber auch Orte werden mit Bildern und Farben verewigt und vor allem immer wieder übermalt. Jede Übermalung steht dabei für eine neue Lebendigkeit.

Eine andere Geschichte über die Schlangen führt zum Piltati, einer felsigen Wasserstelle im südaustralischem Wüstengebiet. Dort lebten einst zwei Schlangenbrüder und zwei Schlangenschwestern. Die Schwestern gingen Tag für Tag auf die Jagd und teilten im Anschluss ihre Beute mit den Brüdern, welche vor allem malten und sangen. Eines Tages beschlossen die Schwestern, ihre Beute nicht mehr zu teilen, sondern für sich zu behalten. Da die Brüder aber der magischen Künste fähig waren, beschlossen sie, sich an den Schwestern zu rächen. Sie führten sie auf die Fährte einer besonders großen Schlangenbeute und die Schwestern, angelockt davon, gruben mit ihrem Grabstöcken Löcher in die Erde. Immer wieder sahen sie den Schwanz einer Schlange (der einer der Brüder war) aufblitzen. Doch immer, wenn sie glaubten, sie seien am Ziel, entwischte ihnen die vermeintliche Beute. Als sie sich durch das Land gegraben und dieses dabei geformt hatten, ohne, dass sich der Erfolg einstellen wollte, änderten die Schlangenschwestern die Taktik und ertappten dabei die Schlangenbrüder, welche die Frauen schließlich auffraßen. Die kleinen braunen Schlangen aber, die man heute noch um den Piltati findet, sind – der Geschichte nach – das Erbe der Schlangenbrüder, von jenen geschickt, um die unwissenden Schwestern bei Laune zu halten und ihnen Nahrung zu geben. „Wir sind die Schlangen, die Schlangen sind wir“, heißt es bei den dortigen Ureinwohnern und sie sagen es, so Birgit Scheps-Bretschneider, mit Stolz.

Die Regenbogenschlange

Eines der bekanntesten Fabelwesen der Traumzeit ist die Regenbogenschlange (u.a. auch bekannt als Yulungur oder Ungud als einige von unzähligen Namen). Sie gilt als Schöpfungswesen und soll vom Norden aus nach Süden gewandert sein und dabei das Land geformt haben. Sie lebt in den sogenannten Billabongs (ein Wasserloch oder ein Flussarm) und ist ein Mischwesen, das aus vielen Teilen besteht. Der Kopf wird von Federn geschmückt. Zum Graben besitzt sie Klauen. Zudem ist sie gepanzert. Sie kann über- und unterirdisch leben, hält sich aber bevorzugt in eben jenen Billabongs auf. Blühen in solch einem Seerosen, so heißt es, dass diese auf dem Rücken der Regenbogenschlange wachsen. Sie ist deshalb von so großer Bedeutung, weil sie als Hüterin der Ordnung von Natur und Menschen gilt. Wird die Ordnung verletzt, macht sie sich durch Brüllen bemerkbar, steigt aus dem Billabong und ragt auf bis zum Himmel. Dann schickt sie Blitze, Donner und Sturm, bis alles im Wasser „ertrinkt“. Die Regenbogenschlange rast so gewissermaßen über das Land und kann den Übeltäter, er die Ordnung verletzt hat, auch verschlingen. Geschichten über dieses mythische Wesen werden daher von den Aborigine Clans auch häufig zur Kindererziehung eingesetzt.

Verliebte Krokodile

Neben der Regenbogenschlange prägen auch andere Tier- und Mischwesen die australischen Mythen. So etwa steht die Schildkröte für Lebenskraft und Fruchtbarkeit. Eine andere Geschichte handelt von den zwei Yawk Yawk Schwestern (Likanaya und Marrayka), welche an der nördlichen Meeresküste lebten und in die sich der Haifischmann Wamba und der Krokodilmann Kinga verliebten. Von den amourösen Avancen wenig begeistert, wanderten die Frauen ins felsige Inland. Die beiden Verehrer verfolgten sie und es kam zwischen ihnen zu einer Schlacht, während der der Boden plattgedrückt, die Felsen herausgeformt und Furchen und Flussbetten entstanden. Der Haifischmann verlor und musste zur Küste zurückkehren. Das Krokodil aber folgte den Schwestern, so lange bis diese in einen Teich sprangen und sich im Wasser in Nixen verwandelten. Noch heute erhalten Mädchen im Alter von fünf oder sechs Jahren ein Yawk Yawk-Totem als Schutz, vor allem, wenn sie in den Teichen nach den Wurzeln der Wasserlilien tauchen. Ein dank der dort lebenden sehr realen Krokodile nicht ungefährliches Unterfangen. Bisher aber, so Birigt Scheps-Bretschneider, sei kein Fall bekannt, dass ein Mädchen angegriffen worden wäre. Der totemistische Schutzzauber hält bis zur Heirat an. Er ist generell als Liebeszauber sehr geschätzt. Wenn sich die Mädchen mit Wasserlilien schmücken, so geht die Geschichte weiter, sollen die immer noch verliebten Krokodile aus dem Wasser steigen, sich in junge Männer verwandeln und auf Brautschau gehen. Ein Vorgehen, das heute in Gebrauch ist, allerdings ohne Schuppen und Verwandlung.

Die Fabelwesen und Schöpfertiere der Traumzeit sind stets ambivalente Wesen, die weder völlig gut noch völlig böse sind. In den Erzählungen geht es immer um Teilen, um Ordnung und um Ausgleich. Es sind Geschichten, die nicht nur von einem Land, seinen Menschen und seiner Natur berichten, sondern auch von Schöpfung und Wandlung, Verwurzelung und Verantwortung. Geschichten, die davon handeln, dass im Grunde wir alle Teil einer unablässigen Schöpfung sind. Geschichten, die Lust auf mehr machen.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweis:

Birgit Scheps. Marayin – Die spirituelle Welt der Ureinwohner des Arnhemlands, Australien. Kleines Mythologisches Alphabet. Edition Hamouda: Leipzig, 2016.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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