Was ist Liebe? – Eine mythische und literarische Einführung

Wenn wir von Liebe sprechen, verbinden wir mit ihr das intensive Gefühl von Zuneigung, Geborgenheit, Aufgehobensein, Verbundenheit, das sich im menschlich-emotionalen Erklärungskanon nicht mehr steigern lässt. „Es ist was es ist sagt die Liebe“ in Erich Fried’s (1921-1988) bekanntem Gedicht und würde man eintausend Menschen darüber befragen, würde man wohl eintausend verschiedene Antworten erhalten. Denn Liebe ist nicht nur der romantische Höhepunkt jeder Paarbeziehung, so wie sie in Medien, Dichtung, Romanen, Liedern oder Kunst im Regelfall proklamiert wird. Liebe kann sich auch auf Gruppen beziehen, auf die Familie, Geschwister, Freunde, zu Tieren, Natur etc. Es gibt kein Limit für Liebe.

Vielleicht mag es Unsinn sein, von einer Art Gesellschaftsliebe zu sprechen. Aber wir Menschen sind soziale Wesen und darauf angewiesen, miteinander zu interagieren, ob nun in direkter oder loser Verbindung zueinander, ob im Streit oder in Auseinandersetzung. Wir unterliegen alle der Dynamik von Anziehung und Abstoßung im Großen wie im Kleinen. Und es sind eben diese Interaktionen, die unser gemeinsames Zusammenleben als Paar, Gruppe oder Gemeinschaft gewährleisten.

Kurzum: Liebe und Lieben zählen zu den Urbedürfnissen des Menschen. Sie ist, wie schon angedeutet, ein sozialer, epochenübergreifender, als zeitlos gefühlter Zustand, der kulturell und gesellschaftlich verschiedentlich erlebt werden kann bzw. einer spezifischen Reglementierung unterworfen ist. Liebe ist Empfindung. Liebe ist aber auch ethisches Prinzip. In der Terminologie des Abendlandes, die weitestgehend auf antiken philosophischen (sprich: griechischen) Prinzipien beruht, teilt man die Liebe in Eros, Philia und Agape.

Eros steht für das Sinnliche, das Erotische, die Leidenschaft, welche der Liebe innewohnt, aber auch das Begehren, die Sehnsucht nach Gefühlserwiderung und Vereinigung. Philia dagegen meint die freundschaftliche Liebe, das Empfinden von Gemeinsamkeit, das Verstehen und gegenseitige Annehmen. Agape kann sowohl die Nächstenliebe als auch die Feindesliebe meinen. In ihr vereint sich die Vorstellung einer Liebe, die nichts fordert, sondern selbstlos ist und damit über den beiden anderen Liebesbegriffen rangiert.

Dass es mit den Liebesdefinitionen nicht gar so einfach bestellt ist und diese sich nicht ausschließlich in Eros, Philia und Agape splitten lassen, dazu genügt ein Blick ins post-moderne „Liebeswirrwarr“. War es seit der Antike üblich, seine Gefühle in Liebesbriefen auszudrücken oder, wie im Mittelalter, die Angebetete mit der Minne quasi in den Nimbus eines unerreichbar scheinenden Liebesideals zu hüllen, hat das Internet im Laufe der vergangenen fünfundzwanzig Jahre wesentlich zu einer Art post-modernen Liebesrevolution beigetragen. Chats, Apps, Online-Partnervermittlungen – wir sind in der Lage nach wahrer Herzenslust zu Tindern oder zu Parshippen, so oft und so viel wir wollen. Für jedes Liebesbedürfnis findet sich ein passendes Gegenstück. Wir haben die Wahl. Ein Wisch auf dem Smartphone oder ein Klick mit der Maus genügen. Und doch steigt die Zahl der Singlehaushalte und ein Drittel der Ehen (in Deutschland), der rechtliche verbriefte Liebesbund (so ist zu hoffen) schlechthin, werden geschieden. Sind wir liebesmüde geworden? Oder hängen wir zu sehr den romantischen Liebesidealen aus Literatur, Film und Fernsehen nach?

„O love is the crooked thing,
There is nobody wise enough
To find out all that is in it,
For we would be thinking of love
Till the stars had run away,
And the shadows eaten the moon.“
– William Butler Yeats, The Young Man’s Song-

Niemand ist also weise genug, herauszufinden, was sie (die Liebe) ausmacht. Die Kunsthalle Bremen hat es dennoch gewagt. Die dort noch bis Ende Januar gezeigte Ausstellung „What is love? Von Amor bis Tinder“ schlägt mit ihrer Auswahl von Exponaten in fünf Kapiteln einen Bogen zwischen Liebesmythen, Liebestraditionen und Liebestrends. Es geht um Ur-Paar wie Adam und Eva oder Amor und Psyche. Reale Paare und die Veränderung romantischer Konzepte. Selbstliebe. Schönheit. Und Erotik. Ein sehenswerter Reigen, der freilich nicht alle Fragen und Aspekte beantworten kann. Dazu ist die Liebe einfach zu unberechenbar und im Fluss von Leben, Kulturen und Gesellschaften begriffen. Dennoch regen die gezeigten Aspekte zum Nachdenken an und sie haben auch den Arbeitskreis für Mythologie beflügelt, das Jahr 2019 zumindest thematisch zum Jahr der Liebe zu erklären. Um Liebe in Kultur und Mythos wird sich der Hauptanteil der kommenden Veranstaltungen drehen, angefangen mit einer Podiumsdiskussion, welche die mythischen Aspekte, und dabei vor allem die Liebesgottheiten Eros, Aphrodite, Freya, Kamadeva etc., in den Mittelpunkt rücken wird. Denn wie bereits angesprochen, sind die Vorstellungen der Liebe (oder auch „Die Kunst des Liebens“, wie Erich Fromm es beschreibt) so alt wie die Menschheit selbst.

„Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbitten, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf…“ (1. Korinther 13, 4-8)

Doch wo Liebe ist, ist auch Schatten. Und so sollen auch ihre dunklen Seiten wie Eifersucht, Hass, Verrat, Narzissmus oder Käuflichkeit bei der Betrachtung eine Rolle spielen. „Die Schöne und das Biest“ haben wir – orientiert am Dualismus, dem der Mensch unterliegt – dafür als Untertitel gewählt. Und eben diesen wollen wir wortwörtlich nehmen und unsere Leser mit einer Geschichte auf das Kommende einstimmen, die wie keine andere sowohl Licht- als auch Schattenbehaftet ein Hohelied auf die Liebe singt.

Liebe überwindet alles…

Man findet sie in so manchem Märchen und so mancher Sage – die Liebe. Von einer modernen Perspektive aus gesehen ist diese märchenhafte Liebe meist etwas fragwürdig, besonders, wenn man die Urfassungen der, über die Zeit hin, abgemilderten Versionen kennt – Stiefmutter tötet Stieftochter, Schwestern brechen miteinander, Strafe, Eifersucht, Missgunst – und Fragen nach Zustimmung und freiem Wille kommen auf. Die wahre Liebe ist das Idol und in Märchen kommt die ganz eigene Vorstellung, Abbild ihrer Zeit, zum Vorschein. Liebe ist selten nur schön im Märchen, denn oft ist es ein langer, steiniger Weg, der gegangen werden muss, bis man sie erreicht. Dabei gibt es wiederkehrende Motive, doch manchmal auch die ein oder andere Geschichte, die heraussticht.

Alles beginnt mit einer Rose und findet ein glückliches Ende, wie Märchen es zu tun pflegen. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die, um das Leben ihres Vaters zu retten, sich in die Hände einer Scheußlichkeit begibt. Auf dem Schloss und dem Ungeheuer liegt ein Fluch, welcher nur durch wahre Liebe gebrochen werden kann. Geschieht dies nicht, so muss es sterben.

Die Rede ist von La Belle et la Bête, hierzulande auch bekannt als Die Schöne und das Biest. Wer kennt nicht den Disney Klassiker mit der wunderschönen Musik, den liebenswerten Charakteren der Dienerschaft im Schloss, die schöne und eigenwillige Belle, die dem cholerischen Biest die Stirn bietet? Das Happy End lässt hier auf sich warten, denn das Biest ist der komplette Gegensatz zur gutherzigen, freundlichen Belle. Ein verwöhnter, eingebildeter Prinz ausgestattet mit der Kraft eines Untiers, der keinerlei Mitgefühl aufbringt. Belles Vater will er im Kerker verschmachten lassen und auch sie selbst findet sich in einem solchen wieder, nachdem sie seinen Platz eingenommen hat.

Auch ein weiterer Charakter, der im Laufe des Films vom Unsympath zum Scheusal mutiert, verkörpert die Negativität, die Schattenseiten der Liebe: Gaston, der strohdumme, egoistische Schönling aus Belle’s Dorf, der ein Auge auf sie geworfen hat. An diesem Mann ist kein gutes Haar. Unfähig echte Liebe zu empfinden, entspringen seine eingebildeten Gefühle für Belle nur seiner Selbstgefälligkeit – er verdient sie und wird sie bekommen, weil er der „Beste“ ist. Für die Version der Animationsstudios, die an ein junges Publikum gerichtet ist, wurde der originale Märchenstoff umgearbeitet, um noch stärker die Kontraste, das Gute und das Böse, hervorzuheben. Die Botschaft ist klar, die Feindbilder deutlich: Liebe kann alles heilen, kann Menschen verwandeln, aber sie muss reifen und kann nicht erzwungen werden. Und man begreift, dass es viele Facetten und dunkle Winkel in der Liebe gibt, die genauso Teil von ihr sind, wie die aufrichtigsten Gefühle.

La Belle et la Bête ist in seinem Ursprung ein französisches Volksmärchen, welches unter anderem italienische Quellen besitzt. Seine erste Veröffentlichung verdankt man der französischen Schriftstellerin Gabrielle-Suzanne de Villeneuve, die den Märchenstoff des italienischen Märchensammlers Giovanni Francesco Strapola aufgriff und überarbeitete. In seiner Sammlung Ergötzliche Nächte (“Le piacevoli notti”), welche 1550-53 veröffentlicht wurde, erzählt das Märchen vom König Schwein: Der Sohn eines Königs wird in der Gestalt eines Schweins geboren und verhält sich auch dementsprechend. Als es daran geht ihn zu verheiraten, wird sein Äußeres zum auschlaggebenden Problem. Nach zwei glücklose Versuchen findet er schließlich eine Frau, die sein eigentümliches Aussehen und Gebaren akzeptiert – ja, zu lieben lernt – erst dann kann er die Schweinshaut abwerfen und in seiner menschlichen Gestalt erscheinen. Dieses Geheimnis darf die junge Frau niemandem erzählen, was sie dann schließlich doch tut. Das Motiv des Tabubruchs, welcher auch in der griechischen Sage von Amor und Psyche vorkommt, ist in diesem Fall weniger verheerend und alles geht gut aus.

In der Version von De Villeneuve, welche 1740 veröffentlicht wurde, nimmt die Geschichte auf folgende Weise ihren Lauf:

„In einem sehr weit von hier entfernten Lande erblickt man eine große Stadt, in welcher der blühende Handel den üppigen Wohlstand erhält. Sie zählte einst zu ihren Bürgern einen in seinen Unternehmungen erfolgreichen Kaufmann, welchen Fortuna, seinen Wünschen gemäß, stets mit ihren schönsten Gaben überschüttete. Freilich besaß er unermeßliche Reichtümer, aber auch viele Kinder. Seine Kinderschar bestand aus sechs Söhnen und sechs Töchtern, alle waren unverheiratet. Die Söhne waren noch jung genug, keine Eile damit zu haben. Und die Töchter, zu stolz auf die beträchtlichen Güter, mit welchen sie rechnen durften, konnten sich nicht leicht zu der Wahl entschließen, die sie zu treffen hatten.“ (5)

Weit bekannter ist jedoch die jüngere und gekürzte Version der Jeanne-Marie Leprince de Beaumont von 1756, die an De Villeneuves Arbeit so einige Änderungen vornahm. Das Märchen erschien in Deutschland 1767 unter dem Titel Die Schöne und das Thier und wurde seitdem immer wieder neu übersetzt und aufgelegt. So sind die Familienumstände der Schönen zu Beginn bereits anders.

„Es war einmal ein reicher Kaufmann, der hatte sechs Kinder, drei Söhne und drei Töchter. Weil er ein kluger Mann war, sparte er nicht an ihrer Erziehung und ließ sie in den verschiedensten Fächern ausbilden. Seine Töchter waren alle sehr schön – besonders die Jüngste wurde sehr bewundert. Von Kindheit an nannte man sie nur ‚die Schöne‘ und so behielt sie schließlich diesen Namen, sehr zum Ärger ihrer eifersüchtigen Schwestern. Die Jüngste war aber nicht nur schöner als ihre Schwestern, sie war auch von liebenswürdigem Wesen. Die beiden Älteren dagegen waren sehr hochmütig, weil sie reich waren. Sie spielten die feinen Damen und weigerten sich, die anderen Kaufmannstöchter bei sich zu empfangen; nur Leute von Adel waren gut genug, ihnen Gesellschaft zu leisten.“ (Kapitel 2)

Allgemein spart die jüngere Überarbeitung viele Nebenhandlungen und Hintergrundgeschichten von Charakteren aus, oder lässt die Charaktere ganz weg. Sie befindet sich in ihrer Struktur näher an der ureigenen Einfachheit des Märchens mit einem linearen Erzählstil. In De Beaumonts Geschichte hat der Kaufmann nur halb so viele Kinder wie in De Villeneuves und es wird sofort klargestellt, dass die jüngste Tochter nicht nur die Schönste von allen, sondern auch sehr klug und liebenswert ist; somit ist ihr Charakter in kürzester Zeit und in seinen wichtigsten Merkmalen vorgestellt und man schreitet zur weiteren Handlung.

Wie so oft im Märchen, ereilt die Protagonistin ein schweres Unglück und die wohlhabende Familie verliert ihr Vermögen, einerseits durch ein Feuer in ihrem Hause, andererseits durch verlorene Handelsschiffe auf See. Es ist ein großer Fall nach unten auf der gesellschaftlichen Leiter und die Familie muss in ein kleines Haus umziehen. Vorbei sind die Tage des Müßigganges und alle müssen mit anpacken um die Familie durchzubringen. Doch nach einigen Jahren erhebt sich ein Hoffnungsschimmer am Horizont – in der Form eines der Schiffe, die verloren geglaubt waren. Die blanke Euphorie bricht aus und der Kaufmann begibt sich zurück in die Stadt, um seinen Anspruch auf die Ware geltend zu machen. Bevor er sich jedoch auf den Weg begibt, fragt er seine Töchter, ob sie nicht einen Wunsch hätten, etwas, das er ihnen von seiner Reise mitbringen könne. Die beiden älteren, eitlen Schwestern wünschen sich schöne Kleider und Tand, während die jüngere, Belle, lediglich um eine einzelne Rose als Mitbringsel bittet. In der Stadt angekommen wird die neugewonnene Hoffnung auf eine Rückkehr in Wohlstand und die feine Gesellschaft jedoch auf Eis gelegt, denn die übriggebliebene Ladung wurde für die Begleichung aller Schulden beschlagnahmt. Weniger mit Schulden beladen, doch ohne Geld, muss sich der Kaufmann schließlich eingestehen, dass er seinen Töchtern ihre Wünsche nicht wird erfüllen können und macht sich auf den Heimweg.

Er verirrt sich und stößt im Wald schließlich auf ein ihm unbekanntes Schloss, dort will er um Unterschlupf und ein Nachtlager bitten. Jedoch findet sich niemand, den er bitten kann, denn das Schloss ist menschenleer. Lediglich ein reich gedeckter Tisch lässt auf ein anderes Lebewesen im Haus schließen und so isst und trinkt der Kaufmann nach Herzenslust, bevor er sich zur Nachtruhe begibt.

Als er am nächsten Morgen aufbrechen will, kommt er an einem blühenden Rosengarten vorbei und erinnert sich an die bescheidene Bitte seiner Belle. Er pflückt eine der Rosen, froh, dass er zumindest einer seiner Töchter ihren Wunsch erfüllen kann – und kann seinen Augen nicht trauen: vor ihm erscheint ein abscheuliches ‚Biest‘ (Bête) und versperrt den Weg.

„Du bist sehr undankbar“, warf ihm das Tier mit furchtbarer Stimme vor, „ich habe Dir das Leben gerettet, indem ich Dich in meinem Schloss aufnahm und zum Dank dafür stiehlst Du mir meine Rosen, die ich mehr als alles in der Welt liebe. Dieses Vergehen kann nur mit deinem Tod gesühnt werden. Ich gebe Dir eine Viertelstunde Zeit für Deine Gebete zu Gott.“ (Kapitel 2)

Angesichts solcher Scheußlichkeit (in der Version De Villeneuves hat das Tier ergänzend zu seiner Hässlichkeit einen Rüssel) und dem drohenden Tode, bittet der Kaufmann um Gnade, er dachte doch nicht, dass das Pflücken seiner Rose, die für seine Jüngste bestimmt sei, so ein Schaden wäre. Die Erwähnung der Kaufmannstöchter scheint das ‚Biest‘, oder auch ‚Tier‘, aufhorchen zu lassen. Es erlaubt ihm zu seiner Familie zurückzukehren und seiner Tochter die Rose zu schenken, doch nur unter dem Vorbehalt, dass er oder die Tochter an seiner statt zurückkehre.

In seiner Verzweiflung stimmt der Kaufmann zu und wird von dem Ungetüm mit einem Mantel und einem Pferd ausgestattet (in De Beaumonts Version mit einer zusätzlichen Truhe voller Gold) nachhause geschickt. Obwohl er es versucht seinen Kindern zu verheimlichen, kommen diese doch hinter das Geheimnis seiner bedrückten Stimmung. Zutiefst traurig darüber, dass ihr Wunsch für dieses Unglück verantwortlich ist, besteht Belle darauf an ihres Vaters Stelle zum Biest gebracht zu werden, worin ihr Vater schließlich einwilligt.

Er übergibt seine Tochter dem Biest und wird für immer vom Schloss verbannt. Auch die erneuten Geschenke, bestehend aus Schmuck, feinen Kleidern, Pferden und anderen Reichtümern, trösten ihn nicht, glauben doch sowohl er als auch Belle, dass das Biest sie sogleich verschlingen wird. Es kommt jedoch anders als gedacht.

Gegen jedwede Erwartung behandelt das Biest, so erschreckend es auch aussehen mag, Belle höflich und zuvorkommend. In ihrem Zimmer findet sie Bücher, ein Klavier und eine Kleiderkammer mit eleganter Garderobe. In De Villeneuves Version schalten sich ab diesem Punkt eine Fee und ein schöner Prinz in die Geschichte ein, die Belle nachts im Traum besuchen. Dabei bittet sie der Prinz immer wieder, hinter sein Geheimnis zu kommen.

„Halte dich nicht so für unglücklich, Belle, wie du zu sein scheinst. In diesen Räumen wirst du den Lohn erhalten, welchen man dir überall andere so ungerechterweise verweigert hat. Gebrauche deinen Scharfsinn, mich hinter der äußeren Erscheinung, welche mich verbirgt, zu erkennen.“ (30)

Tagsüber erkundet sie das Schloss und die Ländereien, oder vertreibt sich die Zeit mit Lesen und Musik. In De Beaumonts Geschichte findet Belle auf einem ihrer Streifzüge einen magischen Spiegel, der es ihr erlaubt, ihre Familie in ihrem alltäglichen Leben zu sehen und zu beobachten. Die einzige Pflicht, die sie zu erfüllen hat, sind die abendlichen Mahlzeiten mit dem Biest, bei denen es durch briliante Konversation und Charme nach bestem Gewissen unterhält. Langsam verliert Belle ihre Furcht vor ihm – was diesem neue Hoffnung schenkt

Denn anders als im italienischen Vorbild schwebt die ständige Bedrohung des Todes über dem Tier, sollte es nicht durch wahre Liebe von seinem Fluch erlöst werden. Belle beginnt die Gespräche und die Gesellschaft des Biests sogar zu genießen, doch die Handlung entwickelt sich anders als in Märchen üblich. Keine überstürzte Hochzeit nach einmaliger Konversation findet statt, es ist ein Werbungsprozess, ein langsames Kennenlernen, das jedoch anfangs nicht den erhofften Erfolg verspricht: Nicht romantische Liebe ist es, welche die junge Frau für das charmante, unterhaltsame, doch unansehnliche Biest empfindet, sondern jene zu einem Freund.

Bei De Villeneuve stellt das Biest ihr jeden Abend hoffnungsvoll die schicksalsschwere Frage “Seid Ihr willens, dass ich mit Euch schlafe?“ (“Elle lui demanda sans détour si elle vouloit la laisser coucher avec elle.”), doch Belle lehnt stets ab. Die Frage nach einer Liebesnacht wandelte De Beaumont in die gesellschaftlich akzeptablere Frage nach einer Heirat um. In beiden Fällen würde eine Zustimmung als Beweis für wahre Liebe gelten und seine Erlösung bedeuten.

Das Biest bedrängt Belle jedoch nicht. Im Gegenteil, die beiden sind nicht nur ein gesichtsloser Prinz und ein armes, namenloses Mädchen, das Märchen verwandelt sie in Figuren mit echter Persönlichkeit, deren Handlungen nachempfindbar sind und Gespräche Tiefgang besitzen.

„Eines Tages sagte sie: ‚Du tust mir leid, Tier. Ich wünschte, ich könnte Dich heiraten, aber ich will offen zu Dir sein und Dich nicht glauben lassen, dass dies jemals geschehen könnte. Aber ich werde Dich immer gernhaben; versuche, Dich damit zu begnügen.'“

„So muss es wohl sein“, entgegnete das Tier, „und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann weiß ich, dass man mich fürchtet, aber ich liebe Dich sehr. Immerhin bin ich schon glücklich, dass Du gern hierbleiben willst. Versprich mir, dass Du mich niemals verlassen wirst.“ (Kapitel 2)

Anders als das Biest aus dem Disney Film, handelt es sich hier um keinen streitsüchtigen, verwöhnten Prinzen, sondern ein gutes Herz, das durch ein unglückliches Treffen mit einer Fee in diese Situation gebracht wurde. Obwohl sie dies natürlich nie erfahren darf, merkt Belle sehr bald, dass irgendetwas im Schloss nicht stimmt, und besonders in De Villeneuves Geschichte beginnt sie nach dem schönen Prinzen aus ihrem Traum zu suchen – ohne Erfolg. Doch die Ahnung bleibt.

Nachdem Belle einige Monate bei dem Biest gelebt hat, überfällt sie das Heimweh. Ihr Gastgeber sieht dies mit Trauer, hat er sich doch in die junge Frau, von der er zuerst lediglich Rettung erwartete, ernsthaft verliebt. Im magischen Spiegel bei De Beaumont sieht sie, dass ihr Vater über ihren Verlust erkrankt ist und will deshalb für eine Weile nachhause zurückkehren. Das Biest gestattet es ihr unter dem Vorbehalt, dass sie nach zwei Monaten zurückkehren muss, sonst müsse es sterben. Sie verspricht es und ihre Familie ist erstaunt sie gesund, edel gekleidet und glücklich wiederzusehen. Über die Geschichten aus dem Schloss staunen alle, besonders über die eigentliche Freundlichkeit des Biests. Obwohl ihre Schwestern Belle selbst das nicht gönnen, verlebt sie eine glückliche Zeit in ihrer alten Heimat und voller Erstaunen wird ihr bewusst, wie sehr ihr Innerstes sich gewandelt hat. Bewundert und umschwärmt schafft es kein Verehrer ihr Herz zu berühren und ihr wird klar, wie viel wertvoller als Freund und Gefährte das Biest ihr doch ist. Ihre Familie versucht sie indes so lang wie möglich bei sich zu behalten und, unfähig ihnen diesen Wunsch abzuschlagen, lässt sich Belle immer wieder zum Bleiben überreden. Dann ereilt sie jedoch ein furchtbarer Traum.

„Die zwei Monate waren verstrichen, und jeden Morgen beschloß sie, ihrer Familie adieu zu sagen, ohne daß sie indes am Abend die Kraft hatte, Abschied zu nehmen. […] Inmitten ihrer Verwirrung bedurfte sie indessen eines Traumes, sich zu entschließen. […] Das Ungeheuer, welches sie in ihrem Traum sterbend zu Boden gestreckt sah, warf ihr vor, daß sie es in diesen traurigen Zustand versetzt und daß sie seine Liebe nur mit der abscheulichsten Undankbarkeit vergolten habe.“ (58)

Mithilfe eines magischen Ringes gelingt ihr die Rückkehr und wie üblich wartet sie daraufhin bis um Abend, doch das Biest erscheint nicht zum Essen. Verzweifelt durchsucht Belle das ganze Schloss und fürchtet, ihr Traum sei tatsächlich schon Wahrheit geworden. Im Garten findet sie dann schließlich das Biest, welches über ihr Fernbleiben und den Bruch des Versprechens die Hoffnung verlor und dem Tod nahe scheint.

„Das Tier öffnete die Augen und sagte zu der Schönen: ‚Du hast vergessen, was du mir versprochen hast. Aus Verzweiflung, Dich verloren zu haben, habe ich mich entschlossen, mich zu Tode zu hungern. Aber ich sterbe zufrieden, weil ich die Freude habe, Dich noch einmal zu sehen.'“

„Nein, mein liebes Tier!“, sagte die Schöne, „Du wirst nicht sterben. Du wirst leben, um mein Ehemann zu werden. In diesem Augenblick gebe ich Dir meine Hand und ich schwöre, dass ich nur Dir gehören werde. Bisher habe ich geglaubt, nur Freundschaft für Dich zu empfinden, aber der Schmerz, den ich jetzt spüre, zeigt mir, dass ich ohne Dich nicht leben kann.“ (Kapitel 2)

Kaum hat sie diese Worte ausgesprochen, da ertönt ein unglaubliches Getöse, der Fluch ist gebrochen. Bei De Villeneuve erscheint ihr das Biest erst am nächsten Tag in seiner menschlichen Form und wird ihr bewusst, dass ihr tierischer Gastgeber der schöne Prinz aus ihren Träumen war. Außerdem folgt noch eine längere Auflösung um Fluch und Hintergrundgeschichte durch die Fee, welche Belle immer wieder erschien. In der Version De Beaumonts verläuft die Aufklärung viel schneller, das Schloss erstrahlt, Feuerwerk erhellt den Himmel und wo kurz zuvor noch das Biest im Gras lag, findet sich nun ein schöner Prinz. Verwundert fragt sie diesen, wo ihr sterbender Freund, das Biest, geblieben ist.

„Du siehst es zu Deinen Füßen“, antwortete der Prinz, „eine böse Fee hat mich verwünscht, solange in dieser hässlichen Tiergestalt zu leben, bis ein schönes Mädchen bereit wäre, mich zu heiraten. Außerdem hat sie mir verboten, mein menschliches Wesen erkennen zu lassen. Und so warst Du der einzige Mensch auf der Welt, der sich von meinen guten Eigenschaften rühren ließ. Und wenn ich Dir jetzt meine Krone anbiete, wird dies doch zu wenig sein, um Dir gegenüber meine ganze Dankbarkeit zu zeigen.“ (Kapitel 2)

Das glückliche Ende ist vollkommen, die Hallen füllen sich mit den Untergebenen des Prinzen und die Hochzeit wird mit großer Pracht gefeiert. Ganz so wie im Märchen.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm und Pia Stöger

Literaturhinweise:

Erich Fromm: Die Kunst des Liebens. 17. Aufl. München 1995.

Gabrielle-Suzanne de Villeneuve. Die Schöne und das Tier. Übersetzt von Christine Hoeppner. Berlin: Kinderbuchverlag 1981.

Giovanni Francesco Strapola. König Schwein. Gefunden bei Märchenatlas.

Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. Die Schöne und das Tier. Gefunden bei Projekt Gutenberg-DE.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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