Warum Mythologie?

Warum Mythologie?

Interview mit dem Vorsitzenden des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie, Dr. Reiner Tetzner

Im Jahr 2015 feiert nicht nur die Stadt Leipzig ihre 1000-jährige Ersterwähnung, auch der Arbeitkreis für Vergleichende Mythologie e. V. hat mit seinem 20. Jahrestag allen Grund zum Feiern. Herr Dr. Tetzner, was hat SIe dazu bewogen, einen Verein mit dem Thema Mythologie zu gründen?

Ich bin von Haus aus Philosoph. Aber erst später kam mein Interesse an Mythen, besonders der Vergleich von Mythen innerhalb der Weltkulturen. Die Idee, einen Verein zu gründen, kam ursprünglich von Jörg Kutter, der auch heute noch Mitglied bei uns ist und zuvor lange im Vorstand war. Zuerst sollte es ein Verein sein, der sich mit der germanischen Tradition auseinandersetzt. Ausgangspunkt dafür war u.a. eine Lesung über germanische Göttersagen sowie mein Seminar „Einführung in die germanische Mythologie“ bei Prof. Lerchner an der Leipziger Univerität 1993. Nach Gesprächen zwischen Jörg Kutter, Georg Schuppener, Uwe Wittmeyer und mir wurde uns allerdings bald klar, dass das Thema Germanen eindeutig zu eng gefasst war, vor allem wegen der Nähe zu den rechten Strömungen. Daher entschieden wir uns, einen Verein für vergleichende Mythologie ins Leben zu rufen.

Welche mythologischen Themen sind für Sie besonders wichtig?

Themen wie Ursprung, Schöpfung, Schicksal, Weltuntergang, Unsterblichkeit ziehen sich wie ein Leitfaden durch die Mythen sämtlicher Kulturen. Dabei ist es aber auch wichtig, zu differenzieren. Unser Anliegen war und ist es, Verfälschungen und Umdeutungen von Mythen mit Aufklärung und offener Diskussion entgegenzuwirken. Vor allem bei den germanischen Mythen liegt mir das sehr am Herzen, da ic hdort meine eigenen Wurzeln begründet sehe. Darüber inaus interessieren mich griechische und indische Mythen sowie die Mythen der Maya, vorwiegend also Mythen der polytheistischen Religionen, da diese weitgreifender und zyklischer angelegt sind als die des Monotheismus. Dort gibt es Anfang und Ende, aber keinen Neubeginn wie bespielsweise nach der germanischen Ragnarök.

Sind Mythen noch aktuell? Wenn ja, was kann unsere heutige Gesellschaft von Mythen lernen?

Noch nie waren Mythen so wichtig wie heute. Und noch nie wurden Mythen so viel in Kunst, Film, Medien, Werbung und Alltag verarbeitet wie heute. Man denke da beispielsweise an die Thor- und Tolkienfilme. Daher eignen sich die Stoffe meiner Meinung nach hervorragend, um Überlebensmodelle für die Menschheit zu verwirklichen, u. a. in Utopien. Die sind für mich Mythen , um bestimmte Konzepte für die Zukunft zu entwickeln.
Früher wurden Mythen meist als unwissenschaftlich abgelehnt. Mythen sind ja in erster Linie Dichtung. Doch neuere Forschungsansätze in der Wissenschaftstheorie wie im Standardwerk „Die Wahrheit des Mythos“ von Kurt Hübner geben Anlass dazu, dass sich Mythen auch rationalistisch deuten lassen. Dabei ist Mythos nicht gleich Mythos. Es gibt viele sogenannte Pseudomythen, deren sich der Nationalsozialismus bedient hat, heute im Rechtsradikalismus und im Islamismus. Da muss man zurück zu den Quellen, den Ursprungsmythen (wie die Edda-Dichtung), um gegen Fehldeutungen und Verfälschungen aufzuklären. Einen Führerkult und Rassismusauffassungen gibt es zum Beispiel bei den Germanen nicht.

Der Arbeitskreis hat sich in den letzten 20 Jahren einer Fülle von mythologischen Stoffen angenommen. Mit welchen Themen soll es weitergehen?

Wir haben das Glück, dass das Jubiläum des Arbeitskreises zusammenfällt mit der Feier der 1000-jährigen Ersterwähnung Leipzigs. Vielleicht ist das kein Zufall. Im Rahmen der Festivitäten haben wir uns des Themas Ursprungs- und Gründungsmythen angenommen mit einem breiten Spektrum von Lesungen, Vorträgen und Diskussionsrunden. Für 2016 planen wir dann anlässlich des 500. Jahrestages der Publikation des grundlegenden Werkes „Utopia“ von Thomas Morus das Thema „Mythos und Utopie“. Als Kontrast könnte dann 2017 „Mythos und Erotik“ im Mittelpunkt stehen.
Unser Arbeitskreis erwarb sich mit seiner inhaltlichen Ausrichtung ein Alleinstellungsmerkmal nicht nur in Leipzig, sondren deutschlandweit. Als Literaturverein befassen wir uns mit den gemeinsamen Wurzeln der Weltkulturen und Weltreligionen sowie mit den Urmythen. Gegenwärtig gewinnt dieser Zusammenhang im so genannten „Kampf der Kulturen“ zunehmende Bedeutung. Da wollen wir in den kommenden Jahren ausbauen. Unter anderem sollen die Beziehungen zwischen indoeuropäischer und chinesischer Mythologie und Kultur einen großen Raum einnehmen.
Da vergleichende Mythologie an der Universität Leipzig nicht gelehrt wird, schwebt mir vor, eine Arbeitsstelle bei uns zu schaffne, um die Lücke zu füllen. Fähige Wissenschaftler dafür haben wir dafür zur Genüge.

Das Interview führte Dr. Constance Timm
QUelle: „Kleine Festschrift. 20 Jahre Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.“ (edition Vulcanus, 2015).

Warum Mythologie?

Nachdem ich in vielen kleinen Gesprächen die sehr freundliche Bekanntschaft des Arbeitskreises zur Jubiläumsfeier im Januar 2020 gemacht hatte, wurde mir die Möglichkeit geboten, auch an seinem Blog auf der Homepage mitzuarbeiten. Darüber freute ich mich sehr, worauf sich aber auch sogleich die Frage anschloss: Worüber soll ich eigentlich schreiben? Mein Interesse an Mythen und Mythologie wurde schon in der Jugend geweckt, hielt über die Jahre des Studiums und danach an und tut dies auch nach wie vor. Entsprechend ist – um eine Formulierung Cassirers aufzugreifen – „die verwirrendste Tatsache nicht der Mangel, sondern der Überfluss“ (Cassirer 1949, S. 8) des möglichen Themenmaterials und auch der möglichen Zugriffsweisen, wie sie sich in fortlaufender Lektüre und Nachdenken erschlossen haben. Nach einem Blick in meine Magisterarbeit über den Mythos bei eben zitierten Ernst Cassirer und eingedenk mancher Gespräche mit Freunden und Kollegen, entschloss ich mich endlich dazu, mich in meinem ersten Beitrag mit einer recht allgemeinen Frage auseinanderzusetzen: Warum eigentlich Mythologie?

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