Wale spielen in der Kultur von Bewohnern meeresnaher Gebiete und Inseln eine große Rolle. Den Nordwestküsten-Indianern gilt der Wal als ein Wesen mit besonderen und übernatürlichen Kräften. Die südlichen Stämme – Nuu-chah-nulth, Makah, Quinault und Quileute – waren die Einzigen, die die großen Meeressäuger jagten, bevorzugt Buckel- und Grauwale. Andere Kulturen verwerteten lediglich gestrandete Tiere. Die Bedeutung des Wals war nicht nur ökonomisch begründet: Er lieferte auf einmal eine große Menge Nahrung und war auch im sozialen und religiösen Leben verankert. Als kommerzielle Walfänger die Grauwale in den 1920er Jahren fast ausrotteten, gaben die Indianer ihre traditionelle Waljagd auf. Seit 1994 stehen Nordpazifik-Grauwale nicht mehr auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Seitdem versuchen die Nuu-chah-nulth und Makah, ihre Walfangtradition wiederzubeleben.
Donnervogel und Wal
Wie Lachs und Bison glaubt man, dass Wale sich selbst als Nahrung anbieten, um den Menschen überleben zu helfen. Deshalb werden sie besonders geehrt und geachtet. „Donnervogel und Wal“ ist eine Mythe, die bei mehreren Stämmen des pazifischen Nordwestens verbreitet ist. Die folgende Version stammt von den Quileute:
Vor langer Zeit gab es eine traurige Zeit in dem Land der Quileute. Tagein, tagaus wüteten heftige Stürme. Erst fielen Regen und Hagel und dann Graupel und Schnee herunter auf das Land. Die Hagelkörner waren so groß, dass viele Leute getötet wurden. Die überlebenden Quileute wurden von ihren Küstendörfern auf die Hochebene getrieben.
Dort hungerten die Leute und wurden dünn und schwach. Hagel prasselte auf die Farne, Wurzeln und Beeren nieder. Die Flüsse froren zu, sodass die Fischer nicht aufs Meer fahren konnten. Bald hatten die Leute all das Gras und die Wurzeln gegessen; es gab keine Nahrung mehr. Sie riefen den Großen Geist um Hilfe, aber es kam keine Hilfe. Schließlich rief der große Häuptling der Quileute seine Leute zusammen. Er war alt und weise. „Fasst Mut, mein Volk“, sagte der Häuptling, „wir werden noch einmal den Großen Geist um Hilfe bitten. Wenn keine Hilfe kommt, werden wir wissen, dass es sein Wille ist, dass wir sterben. Wenn es nicht sein Wille ist, dass wir leben, dann werden wir mutig sterben. Lasst uns mit dem Großen Geist sprechen.“
Die geschwächten und hungrigen Menschen saßen also still da, während der Häuptling mit dem Großen Geist sprach, der seit Jahrhunderten über sie wachte.
Nach seinem Gebet wandte sich der Häuptling an sein Volk: „Nun warten wir auf den Willen dessen, der weise und allmächtig ist.“
Die Menschen warteten. Kein Einziger sprach. Plötzlich hörte man ein lautes Geräusch und Blitze durchzogen die Dunkelheit. Ein Schwirren wie von riesigen schlagenden Flügeln kam aus der Richtung der untergehenden Sonne. Alle Leute wandten ihren Blick zum Himmel über dem Ozean, als eine riesige, wie ein Vogel gestaltete Kreatur auf sie zuflog.
Dieser Vogel war größer als alles, was sie je zuvor gesehen hatten. Seine Flügelspanne umfasste zwei Kriegskanus. Er hatte einen riesigen, gebogenen Schnabel und seine Augen glühten wie Feuer. In seinen großen Krallen sahen die Menschen einen lebenden gewaltig großen Wal.
Still beobachteten sie Donnervogel – so nannte jeder den Vogel – während er vorsichtig den Wal auf den Boden niederließ. Danach flog Donnervogel wieder in den Himmel und kehrte zu Donner und Blitz zurück.
Donnervogel und Wal retteten die Quileute vor dem Verhungern. Die Menschen wussten, dass der Große Geist ihr Gebet erhört hatte. Bis heute haben sie den Besuch des Donnervogels nicht vergessen und auch nicht, dass damit die langen Tage des Hungers und Todes endeten.
Die Erschaffung des Schwertwals
Eine besondere Bedeutung kommt dem Schwertwal zu, der als Herr des Meeres gilt. Er ist ein weit verbreitetes Wappentier bei den Indianern der amerikanischen Nordwestküste und eines der am häufigsten verwendeten Motive in ihrer Kunst. Wappentiere verweisen auf die mythische Herkunft einer Familie. Der Schwertwal steht für Stärke, Würde, Wohlstand und Langlebigkeit. In den indianischen Mythen leben Schwertwale in Menschengestalt in Dörfern am Meeresboden. Manchmal ziehen sie Land-Menschen zu sich in die Meerestiefe oder sie weisen ihnen den Weg nach Hause. In der Mythologie der Kwakwaka’wakw und Nuu-chah-nulth können Schwertwale die Seelen verstorbener Häuptlinge verkörpern. Die Nordwestküsten-Indianer haben Schwertwale nur selten gejagt, da ihr Fang schwierig und gefährlich war.
In der Tlingit-Kultur repräsentiert der Schwertwal eine sehr mächtige Naturkraft, die für jedes Lebewesen tödlich und bedrohlich ist – mit Ausnahme des Menschen, dessen Beschützer er ist. Die Geschichte von Natsilane erzählt, warum dies so ist:
In einer Zeit bevor es Schwertwale gab, lebte der sehr begabte Seelöwen-Jäger und Schnitzer Natsilane. Er gewann die Bewunderung seines jüngsten Schwagers, doch seine älteren Schwäger beneideten ihn und beschlossen, sich an Natsilane zu rächen. Am Tag der großen Seehund-Jagd paddelten Natsilane und seine vier Schwäger hinaus in die Meerenge. Als das Kanu sich den Felsen näherte, sprang Natsilane ans Ufer und stieß seinen Speer in den nächsten Seelöwen, bevor dieser fliehen konnte.
Unglücklicherweise aber brach die Speerspitze ab und der Seelöwe glitt ins Wasser. Schlimmer noch, Natsilane sah, wie seine Schwäger fort paddelten, obwohl der jüngste heftig versuchte, sie daran zu hindern – sie ließen ihn auf einer verlassenen Insel ohne Nahrung und Waffen im Stich.
Am nächsten Morgen wachte Natsilane durch den Klang seines Namens auf und sah einen Seelöwen. Er sah aus wie ein Mann, der ihm signalisierte, mit ihm unter Wasser in das Seelöwen-Haus zu kommen. Im großen Haus traf er den Häuptling der Seelöwen, der ihn bat, seinem verwundeten Sohn zu helfen. Natsilane sah, dass im Körper des jungen Seelöwen seine Speerspitze steckte. Mit einigen Anstrengungen konnte er sie entfernen, und der Sohn war geheilt. Der Häuptling war ihm sehr dankbar und nachdem er Natsilane übernatürliche Kräfte übergeben hatte, sorgte er für dessen sichere Heimkehr ins Dorf.
Natsilane nahm sein Schnitzwerkzeug und ging in die Wälder, um sich an seinen älteren Schwägern, die ihn betrogen hatten, zu rächen. Er erinnerte sich an das Versprechen des Seelöwen-Häuptlings und bat ihn um Hilfe, als er begann, einen großen schwarzen Fisch zu schnitzen. Es war ein Schwertwal aus Fichtenholz, wie er noch niemals zuvor gesehen worden war. Nach drei Versuchen und einigen Verbesserungen an seiner Schnitzkunst, schuf er einen Wal aus gelbem Zedernholz, der – als er ihn zu Wasser ließ – hinaus aufs Meer schwamm.
Er rief den schwarzen Fisch zu sich und befahl ihm, seine Schwäger zu finden, wenn sie von der Jagd zurückkämen, und sie bis auf den Jüngsten samt Boot zu vernichten. Der schwarze Fisch teilte das Boot entzwei und ließ es kentern. Die älteren drei Schwäger hielt er vom Ufer fern, so dass sie ertranken. Der Jüngste schaffte es sicher nach Hause, wo er vom großen schwarzen Fisch und dem Verrat seiner Brüder erzählte.
Nicht lange danach wurde nahe des Ufers ein eigenartiger Fisch mit Zähnen gesehen, der manchmal einen frisch getöteten Seehund oder Heilbutt für die Dorfbewohner zurückließ. Natsilane hatte ihm befohlen, nie wieder Menschen zu verletzen, sondern ihnen stattdessen zu helfen. Als Natsilane weiterhin den Dorfbewohnern half, erkannten diese, dass der Schwertwal ein Geschenk Natsilanes war und machten den Schwertwal zu ihrem Wappen.
Wasco, der Seewolf
Eine enge Verbindung besteht zwischen Schwertwalen und Wölfen. Wie Wölfe leben und jagen Schwertwale im Rudel und sind sehr loyal gegenüber ihren Verwandtschaftsgruppen. In der Mythologie der Nuu-chah-nulth können sich Schwertwale in Wölfe verwandeln und als solche in den Wäldern leben. Beobachtet das ein Mensch, gewinnt er dadurch übernatürliche Kräfte.
Eine bekannte Gestalt in der Haida-Mythologie ist Wasco, der Seewolf. Wascos sind Mischwesen mit dem Körper eines Wolfes und einer oder mehreren Rückenflossen eines Schwertwals. Sie können an Land und im Wasser leben. Wascos jagen und fressen Schwertwale. Eine Geschichte erzählt, wie ein junger Mann Wascos aufzieht, die später für ihn Schwertwale jagen und fangen:
Einst hörte ein Dorfbewohner an der Westküste der Königin-Charlotte-Inseln, dem heutigen Haida Gwaii, ein Jaulen. Er suchte nach der Stimme und fand zwei wilde Welpen in der Aushöhlung eines Baumes. Er nahm sie mit nach Hause und zog sie auf. Schnell wuchsen sie heran, denn sie waren keine gewöhnlichen Hunde. Bald schon waren es riesige übernatürliche Wascos. Eines Morgens vermisste der Mann sie und schaute überall nach. Um Mittag entdeckte er sie – weit weg, auf dem Meer. Sie kamen von ihrer Jagd zurück – jeder mit drei Walen: einen im Maul, den zweiten zwischen den Ohren und den letzten hielten sie mit dem Schwanz auf dem Rücken. Dann zogen sie ihre Last an das Ufer. Jeden Morgen jagten die Wascos nach Walen und erlegten mehr als nötig war, um einen ganzen Stamm statt zu machen. Ihr Herr und seine Frau räucherten das Walfleisch und legten das Walfett in Kästen aus Zedernholz, um es zu lagern. Es gab jedoch so viel davon, dass es anfing zu verderben. Daher gaben sie so viele Vorräte wie sie nur konnten an die anderen Stämme.
Die Schwiegermutter war ein Geizhals und habgierig. Sie begann einen Streit mit ihrem Schwiegersohn, dem Fänger und Besitzer der beiden Wascos. Eines Tages, als sie ihm und ihrer Tochter einen Besuch abstattete, goss dieser verdorbenes Walfett in ihre besten Mokassins und über die Muscheln, die er ihr servierte. Sie konnte keinen Bissen essen und war sehr verärgert.
Eines Morgens, nachdem die Wascos aufs Meer geschwommen waren, holte sie zum Gegenschlag aus. Am Strand erhitzte sie Steine in einem Feuer und legte sie in einen Topf voller Wasser. Sobald das Wasser kochte, schüttete sie es in den Ozean und erzeugte so einen großen Sturm, der alle zwang, zu Hause zu bleiben. Niemand konnte reisen, und den Wascos war es nicht möglich zurückzukehren. Ihr Herr suchte mit wachsender Sorge nach ihnen und kletterte den Hang hinauf, um besser nach ihnen Ausschau halten zu können. Endlich sah er die Wascos zurückkommen. Sie zogen sich erschöpft an Land, verwandelten sich in zwei große Felsen und blieben dort bis zum heutigen Tag.
Beitrag von Dr. Claudia Roch
Literaturhinweise:
Barbeau, Marius: Haida Myths Illustrated in Argillite Carvings. Ottawa 1953.
Coté, Charlotte: Spirits of Our Whaling Ancestors. Revitalizing Makah and Nuu-chah-nulth Traditions. Seattle/London 2010.
Mischlich, Astrid: Die Nootka als Walfänger. Die Beziehung von Mensch und Tier in einer Nordwestküsten-Kultur. Idstein/Ts. 1996.
Smelcer, John E. (Hrsg.): A Cycle of Myths. Native Legends from Southeast Alaska. Anchorage 1993.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
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