„Kommt raus, kommt raus, wo immer ihr seid, ihr Träumer und Tagediebe, ihr Faulpelze und Verlierer, ihr Schattensuchenden und Sonnenwaisen. Kommt raus, kommt raus, ihr Nieten und Nullen, ihr Taugenichtse und Habenichtse, ihr vom Tag Ausgestoßenen, Liebkinder der Nacht. Kommet, ihr alle, die ihr scheußlich seid und kummervoll, ihr alle, die ihr schwarze Gedanken hegt und rote Fieberträume, kommt schon, ihr Kleinstadt-Ismaels mit euren traurigen blauen Augen, ihr Mauerblümchen und Pechvögel, kommt, ihr Nörgler und Ächzer, ihr Außenseiter und Sonderlinge, ihr Eigenbrötler und Wunderlinge, kommt nur, kommt nur, ihr bleichen Romantiker und nutzlosen Trunkenbolde, ihr Wart-noch-nie und Werdet-nie sein, ihr von der Sonne Verspotteten, vom Tag Verdammten, ihr Wesen der Dunkelheit: Kommt heraus in die Nacht.“
Es gibt wohl kaum etwas in unserer gelebten Wahrnehmung, das so ambivalent ist wie die Nacht. Die Nacht ist die Zeit des Schlafs. Die Zeit der Träume. Die Zeit der Gefahren. Generell eine Zeit, in der sich unsere Sinne neu justieren müssen und die uns die Gedanken frei macht für Eindrücke jenseits des Lichts. Die Nacht hüllt uns ein mit ihrer Dunkelheit und gleichzeitig liegt in ihr etwas Fernes, Unergründliches und damit auch Melancholisches. Spürbar ist dies vor allem in den „besonderen Nächten“ wie der Silvesternacht, der Walpurgisnacht oder auch an Halloween. Aktuell steht Mittsommer (Sommersonnenwende) am 21. Juni bevor, in den nördlichen Breiten der längste Tag und die kürzeste Nacht des Jahres. In den baltischen und skandinavischen Ländern ist dies auch die Zeit der „Weißen Nächte“, was bedeutet, dass die Zeit nach Sonnenuntergang nicht in völliger Finsternis versinkt, sondern silbrig-hell oder dämmrig anmutet. Traditionell werden Johannisfeuer entzündet, oft verbunden mit Tanz und Festivitäten.
Den Nächten des Sommers (und Mittsommer im Speziellen) haftet generell etwas Magisches an. William Shakespeares „Sommernachtstraum“ mit seinen Irrungen und Wirrungen sowohl in der realen als auch in der Anderswelt der Feen, Trolle und Elfen legt davon beredt Zeugnis ab. Ob das Stück auch Pate für die Novelle „Zaubernacht“ (Original: Enchanted Night) des amerikanischen Schriftstellers und Pulitzer-Preisträgers Steven Millhauser stand, darüber darf zumindest spekuliert werden. Der Name des Autors mag vielleicht dem einen oder anderen geläufig sein, der den ebenfalls von Magie erfüllten Film „The Illusionist“ aus dem Jahr 2006 mit Edward Norton, Jessica Biel und Rufus Sewell in den Hauptrollen gesehen hat, basiert dieser doch auf einer Kurzgeschichte Millhausers mit dem Titel „Eisenheim der Illusionist“. Seine Geschichten sind durchdrungen von fantastischen, oft surrealen und mythischen Elementen; man könnte auch sagen, Millhauser beschreibt eine Welt in der Welt, die unsere Welt ist und dennoch so ungreifbar wie die Nacht mit ihrem Dunkel und ihren Schleiern, die Welt von Träumen und Gedanken abseits des Alltagsgeschehens, durchwoben von einer Sprache, die in ihrer Poetik so klar ist, dass ihr fast schon etwas Philosophisches anhaftet. Fast zwangsläufig wird man von den Texten mitgerissen, ob man will oder nicht, das perfekte Kopfkino für die eigene Vorstellungskraft. Aber zurück zur Nacht, Millhausers Nacht, der Zaubernacht.
Schatten
Eine Reihe unerhörter Begebenheiten tragen sich zu in dieser einen Nacht, die zu heiß ist für den Sommer, und in welcher der Mond zu hell scheint, um nicht mit diesem Vielleicht, Könnte, Was-wäre-wenn der Fantasie in Verbindung gebracht zu werden. Vielleicht ist es aber auch die Nacht selbst, die unerhört ist und dabei das einzig Stetige im ewigen Kreislauf von Chaos und Ordnung, der sich zwischen den Zeilen entfaltet. Nur eines scheint gewiss zu sein: Man darf seinen Sinnen nicht trauen. Nicht wirklich zumindest. Oder doch? Eine Frage, die nicht einmal Millhausers Nachtgestalten zu beantworten vermögen. Da wäre zum Beispiel Haverstraw, der Poet mittleren Alters, auf dem Dachboden im Haus seiner Mutter lebend, jede Stunde seines Daseins minutiös durchgetaktet, ständig auf der Suche nach Worten und Gedanken für sein großes Werk, ein Werk, von dem er ahnt, dass er es nie vollenden wird, und es ist dieses Wissen und diese Unrast, die ihn hinaustreibt ins Dunkel zum Haus einer Nachbarin und guten Bekannten, mit der er das Schweigen teilt und die Schatten und hin und wieder auch Worte, Worte, an denen er halb zweifelt und verzweifelt, so wie er an sich selbst verzweifelt und zweifelt und einzig das Geräusch der Grillen einen Hauch von Klarheit verheißt. ‚“Die Sache ist „, sagt Haverstraw, „man sieht sie nicht. Sie sind immer da, aber man sieht sie nie.“ – „Früher saß ich spätnachts oft mit meinem Vater auf der großen, durch Fliegengitter geschützten Veranda hinter dem Haus. Nur wir beide, Daddy und ich. Er im Anzug und mit weißem Hut. ‚Hör nur‘, pflegte er zu sagen, ‚Hörst du das? Das ist das Geräusch vom Ende aller Dinge.'“ – […] – „Vergiss es nicht“, pflegte er zu sagen. „Es wird dich lehren, wie man lebt.“‚
Träume
Zwei andere Nachtgestalten sind Janet und Danny. Janet, das Mädchen am Fenster, die ein wenig an die von Gefühlen übermannte Julia aus „Romeo und Julia“ erinnert. Doch anstatt romantische Verse vom Balkon zu sprechen, beobachtete sie die Nacht, die ihren Garten und den Rest der Welt wie in ein Gemälde taucht, mal stoisch, mal aufgewühlt, mal ängstlich. Gleichzeitig zerdenkt sie sich in einer Unzahl von Möglichkeiten. Ob diese Träumereien wahr werden, sei an dieser Stelle nicht verraten. „Nur ein Idiot würde in einer Sommernacht am Fenster knien, warten, und worauf? – […] Doch jetzt ist der Garten still – schläft – in einen Zauber gebannt. Vor den übrigen Bäumen, nicht wirklich einer von ihnen, steht der große, alte Silberahorn, groß und mit dickem Stamm. An einem Ast weit oben hängt eine Schaukel. Der hölzerne Sitz liegt zum Großteil im Schatten, doch eine Kante fängt das Mondlicht ein. Aber die Schaukel kann niemals schaukeln, und das Mädchen am Fenster kann ihren Kopf niemals drehen, denn sie beide sind in diesem Gemälde gefangen. […] Oder möglicherweise füllt sich der Garten mit Stille, eine Stille, die größer und größer wird, bis sie schließlich überfließt.“ Im Gegensatz zur anfänglichen Reglosigkeit von Janet ist Danny in Action. Zunächst ist er mit zwei Mitstreitern an einem Einbruch beteiligt, doch anstelle eines Ladens oder einer Bank verschaffen sie sich Zutritt zu einer Bücherei. Dabei merkt er, dass Worte in dieser Nacht allein nicht ausreichen, um seinen Geist und seine Ruhelosigkeit zu befriedigen, und so streift er umher, um schließlich im Garten seines Elternhauses einzuschlafen und zu träumen. Ein verrückter Traum, in dem er sich in Endymion verwandelt, den ewig schlummernden Liebhaber der Mondgöttin Selene, während am anderen Ende der Stadt eine Horde schlafwandlender Kinder von einem panähnlichen Rattenfänger von Hameln in den Wald gelockt wird. Auch das kann in besonderen Nächten geschehen, dass man auf reale und irreale Abwege gerät.
Schaufensterpuppe
Ein weiterer Handlungsstrang, und man geht bei Millhauser durch viele Handlungsstränge im Geschichtenlabyrinth, beginnt mit einer Schaufensterpuppe. Diese scheint sich plötzlich bewusst zu werden, dass sie nicht so unlebendig ist, wie es die Rolle, die ihr zugedacht ist, vorsieht. „Die Starre ihrer Haltung weckt in der Schaufensterpuppe eine geheime Begierde. Sie träumt davon, befreit zu werden, davon, ihre Deckung aufzugeben, sich genussvoll in die Bewegung fallen zu lassen. Manchmal kommt es ihr vor, als warte sie einfach nur – als warte sie auf den Moment, in dem sie ihre Beherrschung ein wenig lockern könne. […] In diesem Augenblick der undenkbaren Ohmnacht wird sich alles ändern: Sie wir ihr Ich für immer zurücklassen. Und bei diesem Gedanken, bei dem ihre Beine zu kribbeln beginnen, überkommt sie erneu eine wachsame Starre, denn das Einzige, was sie niemals tun darf, ist, sich zu verraten.“ Natürlich kommt es, wie es kommen muss, die Puppe verrät sich und das gewissermaßen durch die Augen von William Cooper, auch Coop genannt, der in dieser Nacht ein paar Gläser zu tief ins Glas geschaut hat, und irgendwann im Mondschein mit der Schaufensterpuppe Hand in Hand durch die Straßen läuft. Alles ist möglich. Und bei Tageslicht ist ohnehin alles anders. Zumindest bis zur nächsten Zaubernacht.
Millhausers Novelle ist wie ein wilder Ritt durch die Kulturgeschichte des Dunkels. Und doch sind die Geschichten immer auch Miniaturreisen durch unsere eigene Wahrnehmung. Nichts erscheint neu und doch ist alles neu. Vielleicht liegt darin das wahre Geheimnis der Nacht. Denn die Nacht hat so ihre eigenen Gesetze. Und ihre eigene Zeit. In diesem Sinne … Zeit, den Sommer zu genießen. Zeit, das Dunkel zu umarmen. Und natürlich Zeit, sich verzaubern zu lassen.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweise:
Steven Millhauser: Zaubernacht. Novelle. Aus dem Englischen von Sabrina Gmeiner. Septime Verlag Wien, 2016.
Steven Millhauser: Enchanted Night. A Novella. First Vintage Contempories Edition. New York, 2000.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Velen Dank für diese Anregung. Habe das Buch inzwischen auch mit großem entzücken gelesen! Eine Offenbarung!
Interessant ist, dass Sie – so mein Eindruck – fast etwas davor zurückscheuen, das Phantastische, Mythologische im Realen (?), das in dieser Zaubernacht lebendig wird, zu akzeptieren, zuzulassen. Und Laura wird gar nicht erwähnt, obwohl sie der Mondgöttin verfallen eine sehnsuchtsvoll kultische Handlung vollzieht (und damit fast am besten in diesen Blog passt)- bei der sie von 2 Herren „erwischt“ wird…