Der Kontinent Australien ist bekannt für seine Vielfalt an Naturräumen: ausgedehnte Wüstengebiete, tropische Regenwälder, Flussebenen und Meeresküsten, kleine und große Gebirgszüge, Steppen und ausgedehnte Grasebenen. An die verschiedenen Lebensräume und klimatischen Gegebenheiten haben sich die rund 600 Völker der Ureinwohner Australiens im Laufe vieler Jahrtausende angepasst. Sie entwickelten eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen, Sprachen und sozialer Strukturen. Dennoch gibt es in den mythischen und religiösen Vorstellungen große gemeinsame Strukturen, die den ganzen Kontinent durchziehen. Der wohl bekannteste Begriff für die umfassenden mythischen Schöpfungsvorstellungen ist das „Dreaming“, im Deutschen bekannt als „Traumzeit“. Jonathan Neidjie, Angehöriger des Volkes der Gunjwinggu und Hüter eines Teiles des Kakadu National Parks im Norden Australiens, gab 1999 folgende Definition des Begriffes:
„Die Kultur meines Volkes beruht auf unseren Mythen aus der Traumzeit – der Zeit, bevor der Mensch auf diese Welt kam. Damals durchquerten die großen Ahnen das ganze Land und schufen die Felsen, die Berge und Flüsse, die Bäume und Wasserlöcher, die wir heute sehen. Sie gaben uns unsere heiligen Gesetze und Riten, und erklärten, dass bestimmte Gebiete und Tiere für diejenigen, die von ihnen abstammen, heilig sein sollen. Wir besitzen keine geschriebene Geschichte; unsere Geschichte wird in Gesängen und jahrhundertealten Zeremonien erzählt, von ihr berichten auch unsere Malereien auf Felsen und Baumrinde, Schnitzereien und all die Dinge unseres Alltages.“
Eine weitere Gemeinsamkeit sind die „Songlines“ (Traumpfade), die mythischen Wanderwege der Ahnen, die den ganzen Kontinent durchziehen. Über die Songlines sind Angehörige verschiedener Völker mythisch verwandt, d.h. ihnen gehören die Teile einer großen Schöpfungsgeschichte, deren Begebenheiten sich in ihrem Gebiet ereigneten. Deshalb waren rituelle Kooperationen über große Gebiete Bedingung für die erfolgreiche Ausführung wichtiger Zeremonien zum Erhalt von Weltall, Erde und Mensch. Wichtige Ahnenwesen, wie die heilige Regenbogenschlange, die unter verschiedenen Namen bekannt ist, werden in ganz Australien verehrt.
Das Wirken der Schöpfungsahnen als immerwährender Prozess in Vergangenheit und Gegenwart und die dem Menschen daraus erwachsenden Verpflichtungen sind auch heute für die meisten australischen Ureinwohner wichtig und verbindlich, sie sind Garant für das Fortbestehen ihres Landes und ihrer Kultur.
Die Natur in ihrer ganzen Vielfalt an Tieren, Pflanzen, Sandstürmen, heftigen Gewittern, Trockenheiten und Überschwemmungen ist die Basis von Mythen und Fabeln, die auch den Verhaltenskodex der Menschen regeln.
Die Anmatyerre in Zentralaustralien erzählen folgende Geschichte:
In der Traumzeit waren die zwei Dingo-Männer Munbun und Kaipiri in der Wüste auf Wanderschaft. Sie wurden bald sehr durstig und suchten nach Wasser. Munbun grub viele Stunden im Sand und hob einen langen Graben aus, der später das trockene Flussbett des Finke Rivers bildete und sich weit durch das Land zog. Wasser fand er jedoch nicht. Kapiri war in die entgegengesetzte Richtung gelaufen und fand nach kurzem Graben im Sand eine kleine sprudelnde Quelle. Er rief seinen Bruder herbei, und beide rasteten und stillten ihren Durst. Zwei Jäger kamen vorbei. Die Dingo-Männer luden sie ein, an ihrer neuen Quelle zu trinken. Da es die einzige Wasserquelle in diesem Gebiet war, übergaben die Dingo-Männer sie an die Menschen. Zum Dank dafür machten die beiden Jäger ein neues Gesetz, gültig für alle Zeiten, welches nur die Jagd auf die männlichen Dingos erlaubte, aber das Jagen von Müttern und Welpen streng verbot. So war der Bestand der Dingos für ewig gesichert.
Ein hungriger Jäger brach das Gesetz: Er tötete zwei Dingowelpen und aß sie auf. Die Dingo-Mutter heulte und rief ihre Artgenossen herbei. Der Jäger fürchtete um sein Leben und kletterte auf einen riesigen Baum. Doch die Dingos gruben die Wurzeln des Baumes aus und mit gewaltigem Lärm fiel der Baum zu Boden. Der Körper des Jägers brach in viele Stücke. An der Stelle, wo der Baum gestanden hatte, befindet sich noch heute ein riesiges Loch im Boden. Auf seinem Grund liegen viele rote Steine. Es sind die Teile des Körpers des Übeltäters.
In den Wüstengebieten West- und Zentralaustraliens mit ihren extremen langen und heißen Trockenzeiten ist Wasser die Grundlage des Überlebens. Die in der Region vorhandenen Flüsse sind überwiegend ausgetrocknet, das Wasser befindet sich tief unter der Erde und ist auf direktem Wege nicht erreichbar. Manchmal regnet es jahrelang nicht. Kleine Mengen Oberflächenwasser kommen aus sogenannten Wasserlöchern, auch „soakes“ oder „bores“ genannt, Stellen, an denen artesische Kräfte wirken, die Wasser in die oberen Bodenschichten drücken.
Die Ureinwohner dieses Gebietes haben eine große Palette an Methoden, Wasser aufzuspüren und nutzbar zu machen. In den Mythen sind deshalb die Kenntnisse des Wasserfindens in der Natur und die geographischen Informationen über Wasservorkommen verankert. Auch die Schöpfungsahnen auf ihren mythischen Wanderungen durch das Land schwitzten und hatten Durst. So schufen sie in der Traumzeit die Wasserlöcher und nutzten sie vor allem zum Trinken. In den zentralaustralischen „Dreamings“ und „songlines“ (mythische Gesänge über das Land und die Wanderrouten der Ahnen) gibt es genaue Beschreibungen der Wege von Wasserloch zu Wasserloch, präzise wie eine Landkarte. Diese ist allerdings nur von den initiierten Personen lesbar. Es gehörte zum Initiationsprozess eines jeden Mannes, die Lage und den Namen jedes Wasserloches im Stammesgebiet und die dazugehörigen Mythen zu erlernen. Die Wege der mythischen Ahnen durch Zentralaustralien führten an Orten vorbei, wo es Wasserlöcher gibt oder sich durch Regen gefallenes Wasser in Lehmpfannen zu kleinen Teichen sammelt. Am längsten hält sich das Wasser nach einem Regen in Felsspalten und im Schutze des Schattens von Felsüberhängen, wo es nur sehr langsam verdunstet.
Der Regen als Wasserspender hat deshalb eine besondere Bedeutung. Obwohl der Himmel immer wieder rund ums Jahr von großen Wolkenfeldern durchquert wird, regnet es nur selten, zumeist im australischen Winter (Juni bis August) und im Frühling (September bis Anfang November), und nicht in großen Mengen. Kurze heftige Regenschauer gibt es auch. Sie prasseln aufs Land herunter, füllen die ausgetrockneten Flussbetten und lassen die Flüsse über die Ufer treten. Das Wasser schießt durch das Land, aber es verschwindet auch wieder sehr schnell im trockenen Boden und durch die Kraft der Sonne.
Es gibt die Möglichkeit, den ausbleibenden Regen durch Zeremonien herbeizurufen. Regenmachen heißt Leben schaffen, denn in den Regentropfen befinden sich die Lebenskeime für Mensch und Natur. Die Regengesänge beschreiben die schwarzen Regenwolken, den kalten Wind, der vor einem Regensturm durch die Akazienbüsche peitscht, den Klang der prasselnden Regentropfen und das Gurgeln des Wassers, das sich in den Vertiefungen der Erde oder in den Felsspalten sammelt. Sie gehören zum heiligsten Besitz der zentralaustralischen Stämme
Den Arrernte gilt ein großer Frosch als Vater des Regens. Die Frösche graben sich in der trockenen Zeit in die Erde ein. Sie sondern aus der Haut einen Wasserkokon ab, der sich als schützende Hülle um ihren Körper legt. Dann warten sie ab, bis es wieder regnet. Dringt die Feuchtigkeit in ihr Erdloch ein, fressen die Frösche den Kokon und kriechen aus ihrer Höhle heraus an die Erdoberfläche. Solange Regenwasser da ist, hört man überall ihr Quaken. Die Arrernte sagen, dass die Frösche den Regen besingen.
In einer Geschichte für Kinder erzählen die Arrernte folgendes:
Auf dem Gipfel eines Felsens lebte der riesige Frosch Tidalik. Eines Tages hatte er großen Durst. Er kam vom Felsen herunter und trank eine Wasserpfütze leer. Der Durst blieb. So trank er das Wasser eines ganzen Teiches, dann das des Flusses, aber er hatte noch immer Durst. So hüpfte er bis ans Meer und trank auch dieses aus. Prall gefüllt mit all dem Wasser der Erde kletterte er auf seinen Felsengipfel und schaute ins Land. Sein Körper war nun riesig, die Backen waren aufgeblasen vom Wasser, und er presste die Lippen zusammen, damit kein Tropfen herauskommen sollte.
Als die anderen Tiere trinken wollten, fanden sie kein Wasser mehr. Die Pfützen, die Seen, die Flüsse und das Meer waren leer. Die Tiere entdeckten Tidalik, sie sahen, wie sein Bauch wabberte mit all dem Wasser darin. Nun wussten sie, wohin das Wasser verschwunden war. Sie hielten eine Versammlung ab und rätselten, wie man an das Wasser herankäme. Das kluge Wallaby hatte eine Idee: Man müsste Tidalik zum Lachen bringen – dann würde er sein Maul öffnen und das Wasser käme wieder heraus. Die Tiere liefen zum Felsen und erzählten die lustigsten Geschichten. Aber der Frosch saß nur da, blähte seine Backen auf und presste die Lippen fest zusammen. Kein Tröpfchen Wasser kam heraus. Als die Tiere erfolglos alle Geschichten erzählt und alle lustigen Lieder gesungen hatten, wussten sie, dass sie sterben würden ohne Wasser. Doch da kam der Aal herbei. Er lebte im Norden und hatte einen sehr weiten Weg, deshalb kam er erst jetzt. Wieder gingen die Tiere zum Felsen des Frosches. Der Aal sprang in die Luft, er verdrehte seinen Körper, wackelte mit den Flossen, ließ seine Augen im Kreise drehen und wand und schlängelte sich in den verrücktesten Posen. So etwas hatte Tidalik noch nie gesehen. Er begann zu kichern, und die ersten Tropfen fielen aus seinen Mundwinkeln heraus. Der Aal strengte sich noch mehr an – und er hatte Erfolg. Tidalik lachte los, er riss sein Froschmaul weit auf und quakte und quakte, und jedes Mal kam eine große Menge an Wassertropfen aus seinem Hals heraus. Das Wasser lief über das Land, es füllte die Pfützen, die Teiche, den Fluss und am Ende auch das Meer. Alle Tiere hatten wieder genug Wasser, das Leben ging weiter. Tidalik war wieder dünn. Er saß auf seinem Felsengipfel und wartete auf den nächsten großen Durst.
Eine weitere wichtige mythische Gestalt, eng mit dem Wasser verbunden, ist die Regenbogenschlange. Sie hat viele Namen und ist vielgestaltig. Im Arnhemland im Norden Australiens heißt sie Anbol, Borlung, Unggud oder Ngalyod. In den westaustralischen Kimberleys trägt sie den Namen Kaluru. Sie gilt in ganz Australien als Schöpfer des Wassers und des Regens. Auch die Überflutungen der Küstenebenen im Norden Australiens von Dezember bis März ihr Werk. Sie ist sehr wendig und groß, sie reicht mit ihrem Körper vom Himmel bis hinunter zu den Wasserlöchern und Teichen auf der Erde, die sie mit Wasser füllt. Eines ihrer Abbilder ist der Regenbogen.
Wasser und Fruchtbarkeit bilden eine untrennbare Einheit. Die Regenbogenschlange als Schöpfer des lebensspendenden Wassers und damit des Lebens selbst, spielt eine wichtige Rolle in den Vermehrungszeremonien, die vor Beginn der Regenzeiten stattfinden, in den sakralen Malereien auf Felsen und Baumrinden und in den heiligen Mustern der Körperbemalung der Tänzer.
Auf ihren mythischen Wanderungen in der Traumzeit grub die Regenbogenschlange mit ihrem sich schlängelnden Körper die Flussbetten, die sich oftmals als tiefe Schluchten in die Felsen eingeschnitten haben. Sie begleitete die Kunabibi, die Ahnfrau der Fruchtbarkeit, die während der Monsunstürme im Norden über das Land reiste. Sie macht ihr den Weg frei, indem sie Bäume entwurzelte und die Flüsse veranlasste, ins Meer zu fließen. Schließlich bahnte die Regenbogenschlange auch einen Weg in den Schoß von Kunabibi, schuf den Geburtskanal und ermöglichte damit die Geburt der Kinder.
Als wichtigster Schöpfer des Wassers meidet die Regenbogenschlange das Feuer. Sie wird von Blut magisch angezogen. Bei Regenzeremonien wurde von den Männern Blut aus der Armvene geopfert, das herausströmende Blut symbolisierte das fließende Wasser.
Menstruierende Frauen dürfen nicht ins Wasser zum Baden oder Nahrungssammeln gehen, die Regenbogenschlange würde sie verschlingen. Der Hintergrund ist das strikte Gebot, Wasser auf keinen Fall zu verschmutzen. Auch Frauen, die gerade entbunden haben, werden angewiesen, dicht beim Feuer zu bleiben.
Die Regenbogenschlange steht in engem Kontakt mit den Alten der Clans, die auch über magische Kräfte verfügen und als Heiler tätig werden. Sie bestraft Gesetzesverletzungen und zieht den Übeltäter unter Wasser oder lässt ihn in einer Flut ertrinken. Es gibt sehr viele Mythen, in denen die Regenbogenschlange eine bedeutende Rolle spielt.
Die Geschichte der Wawilak-Schwestern ist in Bezug auf die Regenbogenschlange und die Schöpfung eine der wichtigsten:
In der Traumzeit kamen die zwei Schwestern ins Arnhemland. Die jüngere von beiden war schwanger, die ältere trug ihr kleines Kind bei sich. Sie hatten auch Speere, mit denen sie kleine Tiere zum Essen töteten. Auf ihrem Weg schufen sie auch Nahrungspflanzen und gaben ihnen einen Namen. Als bei der jüngeren Schwester die Wehen einsetzten, lagerten die Schwestern am Rande des Wasserloches Mirarrmina. Die Schwestern wussten nicht, dass das Wasserloch der Wohnort der Regenbogenschlange Yulunggur war.
Die Schwestern entzündeten ein Feuer und zerteilten ihre Jagdbeute in Stücke, die sie zum Garen in die heiße Asche legen wollten. Doch das Fleisch sprang aus dem Feuer heraus und fiel ins Wasser. Die ältere Schwester, die gerade menstruierte, ging ins Wasser hinein, um das Fleisch herauszuholen. Ihr Blut weckte Yulunggur, sie kam aus ihrem Loch hervor, sah die Schwestern und schickte wütend zischende Blitze. Sie stellte sich auf ihrem Schwanz auf und ihr Kopf berührte den Himmel. Die ältere Schwester versuchte durch Tanzen und Singen Yulunggur zu besänftigen, aber die Schlange verschluckte die jüngere Schwester mit ihrem ungeborenen Kind. Die andere Schwester floh, geriet in einen Sumpf und wurde von Blutegeln zu Tode gebracht. Regenbogenschlangen aus anderen Wasserlöchern hörten von den Wawilak-Schwestern und ihrem Schicksal. Sie verlangten von Yulunggur, alles wiedergutzumachen. Yulunggur brüllte laut, und der Monsun begann. Die Regenbogenschlange spaltete mit einem Blitz die Erde und schuf darin einen Fluss. Dann spuckte sie die jüngere Schwester und das Baby, das inzwischen geboren wurde, in ein Ameisennest. Die Ameisen bissen sie und dadurch erwachten Mutter und Kind zum Leben.
Yulunggur zog sich wieder in ihr Wasserloch zurück.
Die Wasserlöcher, auch Billabong genannt, werden als Wohnort von Wassergeistern verschiedener Art angesehen. Es gibt zahlreiche Mythen über Nixen, hier eine der Gunwinggu von Gunbalanya im West Arnhem Land:
Vor langer Zeit kamen die Yawk Yawk, junge Mädchen, aus dem Norden gewandert. Als sie zum Ort des Goanna Dreamings kamen, rasteten sie.
Wamba, der Haifisch-Mann, folgte den Mädchen zu ihrem Traumplatz. Er blieb in ihrer Nähe und passte auf sie auf, für den Fall, dass Kinga, der Krokodil-Mann, käme. Wenn ein Krokodil einen Hai sieht, bekommt es Angst und kehrt um. Es gibt viele Wasserlöcher im Gebiet von Yelelbarn. Die Nixen schauen aus den Löchern und singen. Manchmal kommen sie heraus und spielen dort, wo der Pandanus wächst oder sammeln Gänseeier. Sie locken unvorsichtige Männer ins Wasser und ziehen sie nach unten, bis sie ertrunken sind.
In der Nacht kommen die Yawk Yawk aus dem Wasser, nehmen ihren Fischschwanz ab und laufen herum, denn ihre Beine sind im Fischschwanz versteckt. Die Yawk Yawk riechen den süßen Duft der Wasserlilien vor dem Sonnenaufgang. Sie pflücken die Blüten, stecken sie in die Haare oder machen Ketten daraus. Wenn die Sonne aufgeht, gehen sie ins Wasser zurück.
Ein Mann, der die Nixen beobachtet hatte, wollte gern eine zur Frau haben. So rieb er sich die Hände mit Sand ein, um ihren schlüpfrigen Körper packen zu können. Er fing eine Nixe ein, trug sie zu seinem Lagerplatz und wärmte sie mit seinem Körper, bis der ganze Schleim auf ihrer Haut getrocknet war. Dann machte er sie zu seiner Frau. Aber die Nixe wollte nicht bei ihm bleiben, sie schlich noch in derselben Nacht davon, zurück zum Wasserloch. Der Mann folgte ihr und ertrank.
Eine mythische Geschichte für Heranwachsende erzählen die Gumaitj im Ostarnhemland über die Entstehung der Land- und Wasserlebewesen:
Einstmals gab es noch kein Wasser und keine Regenzeit. Die Menschen und die Tiere trafen sich zu einem großen Tanzfest. Sie schmückten ihre Körper und tanzten viele Tage lang. Da zogen langsam sehr große Wolken am Himmel auf. Aber nur ein kleiner Junge bemerkte sie. Er ahnte, dass aus den Wolken etwas ganz Neues kommen würde, und er machte seine Eltern auf die Wolken aufmerksam. Doch keiner achtete auf den Jungen, alle tanzten. Plötzlich kam ein heftiger Wind auf, und aus den Wolken brach ein großer Regen hervor. Alle wunderten sich über das Wasser aus dem Himmel, das sich auf der Erde schnell ansammelte und alles überflutete. Einige Leute und einige Tiere kletterten auf die Felsen und brachten sich in Sicherheit. Andere konnten sich nur retten, indem sie sich in Wassertiere verwandelten. Seitdem gibt es die Menschen, Goannas, Kängurus und andere Tiere auf dem Land, und im Wasser leben nun die Schildkröten, Fische und Dugongs.
Im Kimberley-Gebiet in Nordwest-Australien sind die Wondjina-Wesen eng mit dem Wasser und dem Regen verbunden. Die zahlreichen Wondjinas sind Geistwesen, die in den Wolken leben, sie sind die Cumulonimbus-Wolken, die die heftigen tropischen Regenstürme und auch Wirbelstürme bringen. Sie haben sowohl menschliche Gestalt als auch eine wolkenähnliche Form. Ihr Haar und der Kopfschmuck aus Federn sind Wolken, aus diesem Haar kommen auch die Blitze heraus. Die Wondjinas sind eng mit der Regenbogenschlange Unggud verbunden, gemeinsam kommen sie bei den heftigen tropischen Gewittern hervor und tanzen in der Luft. Jeder Wasserstelle sind bestimmte Wondjinas zugeordnet.
In einer Mythe der Unambal aus dem Kimberley-Gebiet wird erzählt, wie die Regenbogenschlange Unggud die ersten Wondjina auf den Grunde eines Wassers fand. Sie begleiteten Unggud auf ihrer mythischen Wanderung durch das Land; sie schufen gemeinsam die Flussläufe, türmten die Berge aufeinander und breiteten die großen flachen Ebenen aus. So wie Unggud die Wondjina im Wasser fand, finden die Menschen die „spirits“ ihrer Kinder im Wasser. Stirbt ein Mensch, dann geht sein Geist in den Himmel, ruht sich in den Wolken aus und schöpft neue Lebenskraft. Später reiten diese „Geistkinder“ auf den Rücken der Regentropfen, die die Wondjina erzeugen, zurück zur Erde. Der Regen sammelt sich in den Wasserlöchern und Flüssen. Die Geistkinder warten nun auf die Frauen. Wenn sie trinken oder baden, schlüpfen sie in die Körper ihrer künftigen Mütter hinein. Mutter oder Vater träumen dann von der Empfängnis, sie schaffen dann mit dem Geschlechtsakt den Körper für das Geistkind.
Abbilder der Wondjina befinden sich an Höhlenwänden, sie wurden von ihnen in der Traumzeit an den Felsen hinterlassen. Die initiierten Männer besuchten in regelmäßigem Turnus diese Bildstellen, opferten Blut und übermalten die Bildnisse mit neuer Farbe aus Ocker. Mit dieser kultischen Handlung sorgten sie dafür, dass die Wondjina genug Geistkinder für Menschen, Tiere und Pflanzen schaffen und dass sie vor allem am Ende der Trockenzeit den Regen bringen sollten.
Es gibt viele Mythen, die erzählen, wie durch eine Flut oder stürmische Wellen die Entstehung anderer Naturphänomene veranlasst wurde. Die folgende Geschichte stammt aus dem Ost-Arnhemland im Norden Australiens und gehört mehreren Yolngu-Gruppen, die im Gebiet der Blue Mud Bay am Meer leben:
Zwei Brüder, Yirritja-Männer, bauten sich in der Traumzeit ein Kanu aus Rinde. Sie fuhren damit auf das Meer hinaus, sehr weit nach draußen, um zu fischen. Sie fischten den ganzen Tag, und das Kanu war mit vielen verschiedenen Fischen, Krebsen, Seeigeln und Seesternen gefüllt. Als die Brüder genug gefangen hatten, wollten sie wieder zurück zur Küste fahren. Aber da kam ein heftiger Wind auf, der die Wellen hoch auftürmte. Das Kanu konnte die Wellenberge nicht überwinden und zerbrach. Die Brüder fielen ins Wasser und mussten schwimmen. Der jüngere von beiden verschwand bald unter Wasser. Der ältere Bruder versuchte ihn zu retten, doch vergeblich. Die Wellen spülten ihn ans Ufer. Dort suchte er den Strand ab und rief nach seinem Bruder, noch immer hoffend, ihn lebendig wiederzufinden. Die Suche an Land war vergeblich, so sprang der Bruder hinauf in den dunklen Himmel und suchte dort weiter. Tatsächlich fand er seinen kleinen Bruder und auch das Kanu und die Meerestiere, die sie gefangen hatten. Sie alle blieben im Himmel und leuchten nun als Sterne in der Milchstraße. Die Brüder stehen als helle Sterne eng beieinander im Sternbild Orion, das Paddel und das Kanu kann man ebenfalls als Sternbilder sehen. Die Milchstraße ist ein leuchtender Fluss und die unzähligen Sterne darin sind die Fische und Seelebewesen.
Diese kleine Auswahl an mythischen Geschichten in Verbindung mit Wasser ist nur ein Tropfen aus einem Meer von australischen Mythen und Legenden, die von der schöpferischen Kraft der Natur und ihren Hütern, den australischen Ureinwohnern, erzählen.
Ein Beitrag von Dr. Birgit Scheps-Bretschneider
Literaturhinweise:
Langloh-Parker, K.: Australian Legendary Tales. London 1978.
Mudrooroo: Die Welt der Aborigines. München 1996.
Reed, A.W.: Aboriginal Myths – Tales of the Dreamtime. Sydney & Wellington 1978.
Rose, F.: Die Ureinwohner Australiens, Gesellschaft und Kunst. Leipzig 1968.
Scheps, B.: Der Kontinent der Träume, Leipzig 2000.
Scheps, B.: Marayin – Die spirituelle Welt der Ureinwohner des Arnhemlandes, Australien, Leipzig 2016.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.