Im Sommersemester 2018 hatte ich das Glück, im Anglistikseminar von Prof. Dr. Elmar Schenkel an der Universität Leipzig einem Vortrag zu lauschen, der die anwesenden Studenten ebenso wie einen promovierten Post-Studenten wie mich nicht nur auf Spurensuche zu den Ursprüngen der Mythen, sondern des menschlichen Erzählens überhaupt führen sollte. Unter dem Titel The Origins of the World’s Mythologies stellte der Journalist, Herausgeber und vergleichende Mythologe Christoph Sorger das gleichnamige, 2012 erschienene Buch des renommierten Indologen, Linguisten und Harvard-Professors E. J. Michael Witzel vor. Eine 688 Seiten starke, bisher leider nur auf Englisch verfügbare Lektüre, die nicht nur erkärt, was ein Mythos ist und was diesen ausmacht, sondern die sich gewissermaßen der Ur-Mythologie widmet, jener Frage, die schon Goethe in seinem Faust umtrieb, wenn er eben jenen sagen lässt: „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Witzels ambitionierte und ebenso vielgelobte wie skeptisch resümierte Mythentheorie erklärt das ursprüngliche Beschreiben von Welt und Umwelt, d.h. die Entwicklung von Mythologien, aus der Evolution und Verbreitung von Homo sapiens von seiner Urheimat Afrika aus in mehreren Wanderungswellen über die ganze Welt. Seit jeher liegt es in der Natur des Menschen, Geschichten zu erzählen. Geschichten über höhere Wesen. Geschichten über die Elemente. Geschichten über Himmel und Erde. Geschichten über „trickster deities“ (Trickster-Götter), die die göttliche Ordnung durcheinanderbringen, indem sie die aufgestellten Regeln brechen, so wie etwa Prometheus, der den Menschen das Feuer bringt. Und eben jene Geschichten sind es, die den Menschen bei seiner Verbreitung über die Kontinente (Witze verwendet den schönen Begriff „Out-of-Africa-movement“) hinweg begleitet und die sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen menschlicher Gemeinschaften gefestigt haben.
Der im Wesentlichen auf den Geologen Alfred Wegner (1880-1930) zurückgehenden Theorie der 1918 erstmals präsentierten Kontinentalverschiebung zufolge, zerbrach vor mehreren hundert Millionen Jahren der Ur-Kontinent Pangäa in die beiden Superkontinente Gondwana und Laurasia. Laurasia umfasste das heutige Nordamerika, Europa und Asien, Gondwana das heutige Südamerika, Afrika, Vorderindien, Australien und Antarktika. Witzel benutzt mit einigen Freiheiten diese geologischen und paläontologischen Begriffe, um die von ihm durch jahrelange Studien der weltweiten Sprachfamilien und Mythen identifizierten Typen von Mythologien zu unterscheiden. Die Mythologien Eurasiens, Nordafrikas sowie Nord- und Südamerikas nennt er „Laurasisch“ – beide Teile Amerikas wurden schließlich von Asien aus besiedelt. Die Mythologien des sub-saharischen Afrika, Australiens und Neuguineas nennt der „Gondwanalandmythologien“. Letzteren ist gemeinsam, dass Himmel, Erde und Meer bereits existieren, ein großer Schöpfergott also fehlt, ehe die Menschen erscheinen, eine große Flut kommt und unterschiedlichste Trickstergötter als Kulturheroen auftreten. In den zyklisch angelegten und auch wesentlich „jüngeren“ laurasischen Mythen (dazu zählen die Mythen der „Nordhalbkugel“, beispielsweise die der nordamerikanischen Indianer, der Maya, der Semiten, der Skythen, aber auch der Japaner) beginnt die Schöpfung aus dem Nichts, dem Chaos, in das diverse Schöpfergötter eine eigene Ordnung etablieren. In diesen Mythen exisiteren Menschen ebenso wie Halbgötter (bspw. die Titanen), es gibt große Fluten und Trickster, allerdings endet das Leben irgendwann in einer großen Zerstörung der Welt, woraus sich gewissermaßen aus der Asche – dem neuen Chaos – ein neuer Himmel und eine neue Erde erheben.
Eine Mythologie vom Gondwana-Typ bildet gewissermaßen eine Sammlung von Erzählungen. Eine Mythologie laurasischen Typs folgt letztlich einer durchgehenden „story line“ und kann insofern mit einem Roman verglichen werden. Vor allem die Mythologien Griechenlands und des Alten Orients gelten für Witzel als Paradebeispiele der, überspitzt formuliert, laurasischen Mythen-DNA, die vielfach andere Mythen adaptiert und transformiert hat. Details, Spezifika, einzelne Bestandteile eines Mythos, so Witzels These, sind variabel und veränderbar, seine Grundstruktur indes bleibt stets dieselbe. Eine Theorie, die weiter zu erforschen bzw. zu hinterfragen sich lohnt. Und eine Lektüre, die dazu anregt, sich näher mit dem Erzählen, dem Erklären der Welt und unseren Ursprüngen zu beschäftigen.
Follow the myth. Follow the story lines!
Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweis:
E. J. Michael Witzel. The Origins of the World’s Mythologies. Oxford University Press 2012.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.