Vom Aufstieg der Raum- und Zeitmaschinen – Wie Jules Verne und H. G. Wells das Netz und die Beschleunigung erträumten – Teil 1

Die Netze des Jules Verne

Globalisierung im Sinne einer immer wachsenden Vernetzung von Vorgängen auf der Erde hat eine lange Vorgeschichte und auch ihre Geschichte ist schon einige Jahrhunderte alt. Wenn ich aber gefragt würde, wer als ihr erster Autor zu bezeichnen wäre, so würde ich einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nennen, nämlich Jules Verne. Es gibt kaum ein Gebiet auf diesem Planeten, der nicht von seinen Figuren und Phantasien berührt worden wäre – ob es der Amazonas ist oder Sibirien, Litauen oder der Südpol, Afrika, China oder die Tiefsee und das Innere der Erde selbst. Auch wenn er mit Reisen ins Weltall aufwarten konnte, so geht es doch vorrangig um unseren Planeten. Räumlich gesehen ist Jules Verne also panirdisch breit aufgestellt. Fragen wir nach den Zeiträumen, in denen seine Geschichten spielen, so engen sie sich doch zumeist auf das 19. Jahrhundert ein. Die größte Ausnahme ist der Journalist, der aus dem Jahre 2889 berichtet. Mithin müssen wir ihn wohl eher als räumlichen, denn als zeitlichen Globalisierer betrachten. Er versucht nicht, historische Romane zu schreiben, und auch seine Science Fiction greift nicht weit voraus in die Zukunft. Dennoch lassen sich Zeit und Raum bei ihm nicht trennen. Am deutlichsten wird dies in einem seiner Klassiker, Reise um die Welt in 80 Tagen. Es handelt sich zwar um eine Reise durch den geographischen Raum, aber deren eigentliches Thema ist die Zeit. Die in einem Londoner Club abgeschlossene Wette legt ein zeitliches und finanzielles Netz über das Unternehmen, die Welt in höchstens achtzig Tagen zu umfahren.[1] Während etwa in Reise zum Mittelpunkt der Erde das Ziel ist, das Innere der Erde zu erforschen, während Kapitän Nemo in seinem ozeanischen Aquarium eine politische Agenda verfolgt (oder einst verfolgte), ist hier einzig das Ziel, eine Wette zu gewinnen, nämlich einen Rekord aufzustellen. Und wenn die Zeit geschlagen wird, kommt es zu einer Hoch-Zeit. Diese trägt allerdings selbst mit zum Gewinn der Wette bei.

Wetten spielen eine große Rolle bei Verne, so in Das Testament eines Exzentrikers und Die 500 Millionen der Begum. Vernes Werke nutzen den Wettkampf als eine Urszene der Literatur.

Nachdem die Wette beschlossen ist, teilt uns der britische Exzentriker Phileas Fogg lakonisch mit: „Es gibt nichts Unvorhergesehenes. Ich werde für diese Reise um den Erdball 80 Tage benötigen, das sind 1920 h oder 115.000 min, die ich mathematisch einteilen und ökonomisch verwenden werde.“ Um 8.45 reist er von London, nicht ohne sich noch einen französischen Diener anzustellen, den artistisch begabten Passepartout. Wie Dr. Watson für den anderen Exzentriker Sherlock Holmes, übernimmt Passepartout die Aufgabe, für die Interessen des Lesers einzuspringen, denn ihm obliegen die Besichtigung der Städte und Länder sowie das Zufällige an sich, das in bösen Ausrutschern und Abenteuern enden kann. Neben der Jagd Foggs auf die Zeit wird auch er selbst zum Beuteobjekt einer anderen Jagd – der des Detektivs Fix, der ihn für einen Kriminellen hält: so jagt ein Fix den Fogg. Die mathematisch eingelöste Geschwindigkeit macht Fogg zu einem Protagonisten des schrumpfenden Raumes. Dieser wäre undenkbar ohne die Vernetzung durch Telegrafie und Verkehr. Schon früh hatte man sich mit der Frage beschäftigt, wie weit neue Netzsysteme nicht Verlagerungen des menschlichen Nervensystems in die Außenwelt darstellen könnten (Otis 11-48). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdichtete sich der Eindruck, dass die Welt zusammenwuchs, während die letzten weißen Flecken auf der Landkarte verschwanden und die „last frontier“ (Frederick Jackson Turner) im amerikanischen Westen greifbar geworden war. In Krakau schaute in den 1860ern ein Schüler auf die Karte Afrikas und stellte fest, dass es dort nur noch einen einzigen weißen Fleck gab, nämlich den Kongo. Dort wollte er eines Tages hin. Er tat dies und schrieb den Roman Herz der Finsternis (1899). Anders als bei Verne allerdings handelt es sich bei Joseph Conrad um eine Reise in die Tiefen der Zeit, doch sind auch hier Raum und Zeit aufs innigste vereint.

Reise um die Welt in 80 Tagen ist eine großartige Vorlage für Ideen der Raum-Zeit, wie sie wenig später Einstein formulieren sollte. Fogg ist ein Nerd, vermutlich ein Autist mit Asperger-Syndrom, der die Welt einem mathematischen Gitter unterworfen hat. Allerdings hat die Geometrisierung der Erde ihre Grenze, und diese ist eine emotionale Schranke. Es sind Gefühle, die einerseits Fogg aus seiner Bahn werfen, andererseits ihm aber dabei helfen, die Wette zu gewinnen. Denn erst die Vorgänge um die Meldung beim Standesamt offenbaren, dass Fogg einen Tag durch die Zeitverschiebung gewonnen hat.

Schauen wir uns Fogg ein wenig näher an, denn er verkörpert ja „die Zeit“ im doppelten Sinn. Zunächst einmal schildert ihn Verne, das gehört zu seinem Baukasten der Stereotypen, als typisch englischen Gentleman. Er ist galant, schön, ein Lord Byron mit Schnurr- und Backenbart, und rätselhaft, denn man weiß nur, dass er Mitglied des Reform Club ist. Er bekommt immer Kredit vom Bankhaus Baring und muss sehr reich sein. Eigentlich kann man ihn nur negativ kennzeichnen durch das, was er alles nicht war:

Man sah ihn nie auf der Börse, noch auf der Bank, noch auf irgend einem Comtoir der City. Nie sah man in den Bassins und Doggs zu London ein Schiff, dessen Eigner Phileas Fogg gewesen wäre. In keinem Comité der Verwaltung hatte dieser Gentleman einen Platz; nie hörte man seinen Namen in einem Advocaten-Colleg, oder im Temple, in Lincoln’s-Inn oder Gray’s-Inn. Er plaidirte niemals, weder beim Obergerichtshof noch bei der Kingsbench, beim Schatzkammergericht oder einem geistlichen Hof. Er war weder ein Industrieller, noch ein Großhändler, noch Kaufmann oder Landbauer. Er gehörte weder dem Königlichen Institut, noch dem Institut von London, noch sonst irgend einer Anstalt der Kunst, Wissenschaft oder Gewerbe an; noch endlich einer der zahlreichen Gesellschaften, wovon die Hauptstadt Englands wimmelt, von der Harmonie bis zur entomologischen Gesellschaft, welche hauptsächlich den Zweck verfolgt, die schädlichen Insecten zu vertilgen. (Verne, Kap. 1)

Er verkörpert Monotonie und Einheitlichkeit und ist geradezu ein Prinzip: Im Allgemeinen war dieser Gentleman sehr wenig mittheilsam. Er sprach so wenig wie möglich, und schien um so geheimnisvoller, als er schweigsam war. Doch lag seine Lebensweise Jedem vor Augen, aber was er that, war so mathematisch stets eins und dasselbe, daß die unbefriedigte Einbildungskraft weiter hinaus forschte. (ebd.)

Er ist so eins mit sich und der Welt, dass er gar nicht zu reisen braucht. Vielmehr lebt er in einer Sphäre, die wir heute das Internet nennen:

Hatte er Reisen gemacht? Vermutlich, denn kein Mensch war besser wie er in aller Welt auf der Karte bekannt. Auch von dem entlegensten Ort schien er genaue Kenntniß zu haben. Manchmal wußte er, doch in wenigen, kurzen und klaren Worten, die tausend Aeußerungen, welche im Club über verlorene oder verirrte Reisende circulirten, zu berichtigen, und seine Worte schienen oft wie von einem zweiten Gesicht eingegeben, denn jedes Ereignis rechtfertigte sie schließlich. Es war ein Mann, der überall hin – im Geiste wenigstens, gereist sein mußte. (ebd.)

Dass er sich wie ein verfrühter Bewohner des Netzes benimmt, zeigt auch sein Verhalten zur Außenwelt. Neben Zeitunglesen interessiert ihn nur das Whist-Spiel, dem er sich ohne jedes Interesse an Gewinn hingibt. Spiel ohne physische Bewegung, ohne Platzveränderung: das ist sein Leben, das ist der Vorläufer des Computerspielers. In seinem Haus lebt er allein, nur ein Diener hat Zutritt. So ist es kein Wunder, dass Passepartout die Wachsfiguren der Madame Tussaud für lebendiger hält als seinen Herrn. Der ist vielmehr eine fremdbestimmte Marionette. Und wer bestimmt diese? Es ist der Chronometer, die Zeit selbst:

Sah man diesen Gentleman in seinen verschiedenen Thätigkeiten, so gab er die Idee eines Geschöpfes, dessen sämmtliche Theile wohl im Gleichgewicht standen und richtig abgewogen waren, so vollkommen, wie ein Chronometer von Leroy oder Earnshaw. Und in der That war Phileas Fogg die personificirte Genauigkeit, was man deutlich an »dem Ausdruck seiner Füße und Hände« sah; denn beim Menschen, wie bei den Thieren, sind die Glieder selbst ausdrucksvolle Organe der Leidenschaften. (Verne, Kap. 2)

Fogg geht mathematisch durch die Welt. Er könnte ein perpetuum mobile sein, wäre da nicht die Reibung des Lebens. Gefühle vermeidet er daher, ebenso Hast und Eile, denn er weiß, dass Reibungen seinen Uhrenlauf hemmen. Aus einer französischen Tradition gesprochen, könnte man ihn auch das ideale cartesische Subjekt nennen: Cogito ergo sum. Das andere, der Körper und die Welt, das sind nur Dinge, die dem denkenden Ding, res cogitans, lästig sind. Indem er auf alle unnütze Bewegung verzichtet, ist er der reine wissenschaftliche Geist, das Endprodukt europäischer Rationalisierung:

Er machte nicht eine Reise, sondern eine Umfangslinie. Es war ein schwerer Körper, welcher nach den Gesetzen der rationellen Mechanik einen Kreis um den Erdball beschrieb. In diesem Augenblicke stellte er eine wiederholte Berechnung der seit seiner Abreise aus London verbrauchten Stunden an; und wäre es nicht seiner Natur zuwider gewesen, eine unnütze Bewegung zu machen, so würde er sich die Hände gerieben haben. (Verne, Kap. 11)

Nur wenn er Zeit hat, erlaubt er sich Gefühle, und das ist glücklicherweise genau der Fall, als er seine künftige Frau in Indien vor der Witwenverbrennung retten will.

Geschwindigkeit allein reicht nicht, es muss zur Beschleunigung auf der Reise kommen, da zu viele Hemmungen die Reise verzögert haben. So nimmt die Geschwindigkeit im amerikanischen Teil der Reise zu. Eine abenteuerliche Zugfahrt wird fast zu einer Fahrt in den Abgrund, die Waggons scheinen kein Gewicht mehr auf den Schienen zu haben, so dass sich das Gefühl einstellt, die Geschwindigkeit fresse das Gewicht: „la vitesse mangeait la pesanteur“ (Verne, Le Tour du monde  144)[2]. Bei der Überquerung des Atlantiks gar wird das Schiff selbst verfeuert und übrig bleibt nur ein Ponton, an den sich die Helden klammern, bis sie das irische Festland erreichen. Der Wahn der Pünktlichkeit, der Leistungs- und Ehrdruck durch eine Wette, die extreme Beschleunigung zerstört alles bis auf einen kleinen Rest.

Statt „Der Weg ist das Ziel“  heißt es hier: „Das Ziel frisst den Weg.“ Die Ehe, die am Ende herauskommt, möchte man sich nicht genauer ausmalen. Falls Fogg sich nicht komplett umkrempeln lässt, was nachgerade unmöglich erscheint, werden wir es wohl mit der Fallgeschichte eines Oliver Sacks zu tun bekommen: „Die Frau, die ihren Mann mit einer Uhr verwechselte“ oder so ähnlich.

Wer sich über die Exzentrizität von Fogg lustig macht, sollte jedoch innehalten: Er ist schließlich nur die Personifizierung eines Prinzips, dem wir längst alle unterliegen. Er ist der Körper der Wissenschaftlichen Revolution, der die Welt zu einem einzigen gefährlichen Experiment macht und sich zu einer Maschine. Nach Henri Bergson finden wir solche Mechanik witzig, sobald sie gestört wird, allerdings nur, wenn sie uns nicht selbst betrifft. Leider sind wir schon längst in sie hineingeraten.

Dieser Autist will wie Kapitän Nemo über einen eigenen Raum herrschen, doch ist dieser nun der Zeit-Raum, d.h. die perfekte Beherrschung der zeitlichen Durchdringung des Raumes. Zugleich ist er das genaue Gegenteil eines Typus, der zur selben Zeit die Pariser Straßen durchschreitet: der Flaneur. Aber sie haben auch eine Gemeinsamkeit. Wo der eine durch Genauigkeit und Zielbewusstsein den Raum besiegen will, tut es der andere mit Gelassenheit und Verachtung für die neuen raumzeitlichen Zwänge. Damit macht der Flaneur die Foggs seiner Zeit lächerlich, und könnte mit Georg Kreisler spotten: „Ich weiß nicht wohin, aber Hauptsache, ich bin schnell da.“ Die Bibel eines solchen Geschwindigkeitsapostels kann nur ein Kursbuch sein, und in der Tat arbeitet Fogg mit dem englischen Bradshaw, den es seit 1847 gab. Die Ausgabe, die nach Vernes berühmtem Buch erschien, nahm folgerichtig die Reise um die Welt in 80 Tagen in ihren Informationsteil auf (Krajewski 29ff.). Fogg herrscht nicht nur über die Zeit, er will sie auch möglichst verringern. Seine Kirche ist die der Zeitvernichtung. Damit steht er in einer progressiven Tradition des 19. Jahrhunderts, die mit der Eisenbahn aufkam und die schon Heinrich Heine 1843 diagnostizierte:

Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig […] In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebenso viel Stunden nach Rouen. […] Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee. (zit. in Schivelbusch 39)

Die hohe Geschwindigkeit, die Fogg sucht und praktiziert, hängt aufs engste mit seinem Charakter zusammen, den man als eisig bezeichnen könnte. So tut sich eine Verwandtschaft auf zu Bildern des Eises und der Vereisung seit der Romantik. Man denke an Caspar David Friedrichs „Das Eismeer“ (1823/24), an Edgar Allan Poes Arthur Gordon Pym (1838), der zum Südpol reist, und an Jules Vernes Fortschreibung desselben Romans unter dem Titel: Die Eissphinx (1897).Im 20. Jahrhundert wird Ernst Jünger über seine Exkursionen in die Gebiete des Kokain berichten, in denen Vereisung die grundlegende Erfahrung war (Annäherungen, 1970). Speed und Crystal dürften die heutigen Vereiser des Nervensystems heißen. Schon im Zweiten Weltkrieg war bekannt, dass man nur mit ähnlichen Drogen ‚eiskalt’ sein konnte. Wenn Geschwindigkeit und Kälte aufeinander bezogen sind, was bedeutet dies für Netzbildung und Globalisierung? Ist Kälte möglicherweise Teil einer globalen Zivilisation, in denen der Nächste auf der anderen Seite des Globus sitzt, während die regional Nächsten aus der Sicht gerückt sind? Die Kuhwärme des Lokalen wird demnach fortschreitend aufgehoben durch Signale aus der Ferne, die wir auch Kälte nennen können. Ist Vernetzung ein Angebot zur Annäherung oder vielleicht in Wirklichkeit eine Form von Vereisung?

An dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs erlaubt, der Licht auf die Beziehung Foggs zur realen Welt wirft. Fogg ist die literarische Ausgestaltung realer Personen und Prozesse, die die Globalisierung in der Zeit Vernes vorantrieben. In anderer Hinsicht ist er auch ein Katalysator: er brachte andere dazu, ebenfalls die Welt zu umrunden.

So scheint es, dass Vernes uneingestandenes Vorbild der Exzentriker und Unternehmer George Francis Train (1829-1904) war. Train versuchte unter anderem Pferdetramways in Großbritannien einzuführen. Auch wenn er darin scheiterte, gelang es ihm doch, die spanische Königin dazu zu bewegen, in das amerikanische Eisenbahnwesen zu investieren. Er war Reeder, kandidierte für den Posten des amerikanischen Präsidenten und bewarb sich nach der Niederlage um eine Stelle als Diktator der USA. Er saß mehrmals im Gefängnis und wurde unter anderem als Spion und als Mörder angeklagt. Je nach Erfordernis verwandelte er sich von einem Kapitalisten in einen Kommunisten, oder wurde vom Monarchisten zum Revolutionär. Nebenbei war er als Genie, Wahnsinniger, Pazifist, Militarist, Verkehrspionier, Globetrotter tätig. Seine Eltern hatten einen Pfarrer aus ihm machen wollen und so wurde er Atheist (vgl. Foster, 9f.). Später bekannte er sich zum Vegetariertum und praktizierte radikale Hygiene, was bedeutete, dass er niemandem mehr die Hände schüttelte, sondern nur sich selbst. Als er in New York starb, folgten 2000 Kinder seinem Sarg (Foster 11f.).

1870, mitten im Wahlkampf für die amerikanische Präsidentschaft begann er sich zu langweilen, und so beschloss er, um die Welt zu fahren – und zwar in 80 Tagen. Auf seiner Rückkehr geriet er in die Kommune von Marseille und kämpfte mit den Kommunarden, wurde fast erschossen, gefangen und wieder befreit – nach Fürsprache des Präsidenten der Vereinigten Staaten und Alexandre Dumas. 1890 trat er eine zweite Weltreise an und brauchte nur noch 67,5 Tage; seine dritte und letzte Weltreise 1892 nahm gerade mal 60 Tage in Anspruch. Die zwei Reisen, die er nach dem Erscheinen des Romans durchführte, waren wohl als Replik auf das Plagiat gemeint, das er Jules Verne vorwarf. Seine letzten Worte sollen gelautet haben:  „Verne hat mir den Wind aus den Segeln genommen. Ich bin Phileas Fogg!“

Train, der Vorreisende, war also später auch nur einer von vielen Nachreisenden. Die Journalistin Nellie Bly wurde 1888 von der New York World um die Welt geschickt, um Foggs Rekord zu brechen. Sie schaffte es in 72 Tagen und schrieb ein Buch darüber: Around the World in 72 Days (1890). Das Konkurrenzblatt Cosmopolitan ließ sich nicht lumpen und schickte ebenfalls eine Reporterin um die Welt, um Bly zu schlagen. Diese Aufgabe fiel Elizabeth Bisland zu, die aber daran scheiterte. Dennoch schrieb auch sie ein Buch über ihre Reise: In Seven Stages: A Flying Trip Around the World (1891). Interessanterweise besuchte Nellie Bly, als sie französischen Boden betrat, sogleich den Autor von Reise um die Welt in 80 Tagen in Amiens. Er dürfte sich amüsiert haben über die neuen Welt-Wettfahrten, die ganz im Geiste seiner Bücher ausgeführt wurden. Die Achtzig Tage sind seither ein literarischer Topos geworden, eine Art Alltagsmythos im Sinne von Roland Barthes. Der dänische Junge Palle Huld gewann 1928 zum 100. Geburtstag von Jules Verne eine Reise um die Welt, die er in 44 Tagen erledigte. Er wurde von jubelnden Menschenmassen in Kopenhagen auf seiner Rückkehr empfangen und diente fortan Hergé als Vorbild für die Comicfigur Tim in Tim und Struppi (Tintin). Erwähnt sei auch Julio Cortàzars surrealistischer Collage-Roman Reise um den Tag in 80 Welten (1967) oder Helge Timmerbergs Reise auf den Spuren Foggs in In 80 Tagen um die Welt (2008).

Weltreisen waren seit der Zeit Jules Vernes ohnehin populär geworden. Wenn wir einmal von Schiffsrouten absehen, so fällt auf, dass sich immer mehr Menschen mit allen möglichen Vehikeln auf solche Umrundungen begeben. Als Beispiel sei hier das Fahrrad genannt. So unternimmt der britisch-amerikanische Abenteurer Thomas Stevens 1888 eine erste Weltreise mit dem Fahrrad – auch diese übrigens im Auftrag einer amerikanischen Zeitung, der er regelmäßig zu berichten hat. Später wird derselbe Mann mit dem Pferd durch Russland reiten, Leo Tolstoi besuchen, der sich wiederum an Stevens als „den Weltumradler“ erinnern wird. Nach Stevens treten eine ganze Reihe von Weltradlern an, darunter auch der Deutsche Heinrich Horstmann, der allerdings mit Vorliebe deutsche Brauereien in den USA anfährt (Meine Radreise um die Erde. Der Bericht des ersten deutschen Fahrradweltreisenden anno 1895 (2000)).

Fortsetzung der Reise folgt

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


Anmerkungen:

[1] Eine Ausstellung (2014) im Museum für Kommunikation Berlin hat die Verbindung von Vernes Roman mit der Vernetzung sehr anschaulich dargestellt; vgl. den Katalog von Kugler/Götze.

[2] Dieser Satz fehlt interessanterweise in der vorliegenden frühen deutschen Übersetzung. Vermutlich schien er nicht kind- oder jugendgemäß?


Literaturhinweise:

Chardin, Teilhard de. Der Mensch im Kosmos (1940), dt. Übersetzung 1959, Neuauflage München 2010.

Chesterton, Gilbert Keith. „On the New Insularity“. In: All Is Grist. London 1933, 65-69.

Fechner, Gustav Theodor. “Der Raum hat vier Dimensionen”.  http://gutenberg.spiegel.de/buch/gustav-theodor-fechner-essays-1093/12 (3.9. 2016)

Foster, Allen. Around the World with Citizen Train. The Sensational Adventures of the Real Phileas Fogg. Dublin: Merlin Publishing 2002.

Grampp, Sven. Marshall McLuhan. Eine Einführung. Konstanz 2011.

Jünger, Ernst. Annäherungen. Drogen und Rausch. Stuttgart 1970.

Krajewski, Markus. Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900. Frankfurt/M.: 2006.

Kugler, Liselotte, Oliver Götze. In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code. Museum für Kommunikation Berlin 2014.

Lovelock James: Das Gaia-Prinzip: die Biographie unseres Planeten. (Aus dem Engl. übertr. von Peter Gillhofer und Barbara Müller.) Artemis & Winkler, Zürich, München 1991

Laßwitz, Kurd. Auf zwei Planeten. Weimar 1895.

McLuhan, Marshall. The Gutenberg Galaxy, Toronto 1962.

Otis, Laura. Networking. Communicating with Bodies and Machines in the Nineteenth Century. Ann Arbor 2001.

Schenkel, Elmar. Der Prophet im Labyrinth – H.G. Wells. Eine Biographie. Wien 2001.

Schivelbusch, Wolfgang. Geschichte der Eisenbahn. München 1977.

Stapledon, Olaf. Star Maker. London 1937.

Verne, Jules. Reise um die Welt in 80 Tagen, http://gutenberg.spiegel.de/buch/reise-um-die-erde-in-80-tagen-4014/1 (8.9. 2016).

—. Le Tour du monde en 80 jours. Paris 2002.

Wells, Herbert George. The Time Machine. London 1895.

—-, The War of the Worlds. London 1998.

—-, Anticipations. London 1901.

—-, World Brain. London 1937. 


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

 

Eine Antwort auf „Vom Aufstieg der Raum- und Zeitmaschinen – Wie Jules Verne und H. G. Wells das Netz und die Beschleunigung erträumten – Teil 1“

  1. Höchst interessant! Bliebe noch die Frage, wieviele Weltumfahrungen zwei fahrraderprobte Schenkel in Leipzig in 80 Tagen hätten erbringen können, wenn die Zeit relativitätstheoretsch hätte korrigiert werden können. ?
    Andererseits:
    Richard Wagners Text – dem Gurnemanz in den Sängermund gelegt – „…zum Raum wird hier die Zeit“ hatte der bayerische Märchenkönig tatsächlich in seinen Schlössern verwirklicht: als „begehbare Räume einer nur scheinbar vergangenen Zeit“. Ganz zu schweigen von der dezidierten Absicht Wagners, in seinen Aufführungen die „Zeit vergessen zu machen“.

    Auch darüber ließe sich referieren.

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