Siehst du sie schimmern im Meeresgrund,
Die Schlösser und stolzen Paläste?
Ward dir die seltsame Märe nicht kund
Von der jählings versunkenen Feste?
Hast du nicht nächtlich sie leuchten geseh’n,
Vernahmst du nicht ihrer Glocken Getön?
Sie winket so herrlich von goldenen Höh’n,
Die Stadt in der Tiefe – Vineta.[1] (Luise Rolf, Vineta)
Wahrscheinlich könnte man Atlantis als die wohl bekannteste Erzählung über versunkene Reiche und Städte bezeichnen. Dabei gibt es in den unterschiedlichsten Kulturen weltweit genügend Berichte über einst große und reiche Metropolen, die im Meer versanken, die durch Naturgewalten, Erdbeben oder Vulkanausbrüche zerstört wurden, so wie einst Pompeji und Herculaneum. In diesem Zusammenhang taucht u. a. auch das legendäre Inselreich Avalon des König Artus wie auch das legendäre Xanadu (Shangdu) aus dem mythischen Nebel auf. Fast alle diese verschwundenen und doch im kollektiven Gedächtnis lebendig gebliebenen Reiche und Städte scheinen in gewisser Beziehung auch das Schicksal der nicht nur in der Bibel, sondern auch in zahlreichen mythischen Erzählungen verschiedener Kulturen festgehaltenen Sintflut zu teilen bzw. diese zu wiederholen.
Ein häufiges Motiv dabei ist, dass diese legendären Orte nicht nur an ungezügelten Naturgewalten, sondern auch an der Verschwendungs- und Prunksucht, dem Hochmut und am verschwenderischen Leben seiner Bewohner zugrunde gingen. Ohne Zweifel haben wir es bei den untergegangenen Städten mit weltweiten Wandermotiven zu tun, die in unterschiedlichen Mythologien und Kulturen, bedingt durch wechselseitige Beeinflussungen, zu finden sind. Andererseits könnten sich einige von ihnen aber auch eigenständig entwickelt haben. Auffallend oft finden wir in den meisten Überlieferungen den Untergang vorhersagende, menschliche wie überirdische Weissagungen, Warnungen und Prophezeiungen. Diese Orakel, die oft mit entsprechenden mystischen Zeremonien wie rätselhaften Ritualen verbunden sein können, werden in den Auseinandersetzungen mit dem zu bekämpfenden heidnischen Götzenkult und der Verkündigung der christlichen „Heilslehre“ oft religiös aufgeladen und nachfolgend dementsprechend interpretiert. Das Ergebnis ist, dass mehr oder weniger geschickt heidnisch-naturalistische mit christlich-religiösen Elementen, nicht selten auch in Mischformen, miteinander verknüpft werden.
Dabei werden Tatbestände ebenso wie unerklärbare, mystisch-rätselhafte Erscheinungen den neuen Erzählungen und Interpretationen angepasst bzw. in immer noch mythisch anmutende Legenden eingefügt. Aus diesem Grunde ist es im Endeffekt schwierig, die vorchristlichen Ereignisse von den christlich motivierten Überschreibungen in den assoziativen Bild- und Textläufen zu trennen. Eine Folge davon ist, dass wir gegenwärtig kaum mehr heidnische Erzählungen und Überlieferungen, vorchristliche Traditionen, Aspekte und Symbole von christlichen Auslegungen und Überschreibungen trennen können. Das gilt für den Mythos, die Legende, die Sage von Vineta ebenso wie auch für das benachbarte Arkona auf Rügen. Es waren zumeist Wohnorte, Herrschersitze wie auch Verehrungsorte bzw. Tempelstätten heidnischer „Wendengötter“ wie die Jaromarsburg oder Jomborg, die von regionaler, aber auch überregionaler Bedeutung waren. Dem Untergang geweiht, sind von ihnen heute nur noch Relikte oder mythische Überlieferungen, Legenden und Sagen geblieben. Aus christlicher Sicht war es häufig der in die Erzählung zusätzlich eingebrachte Zorn Gottes über das frevelhafte, hochmütige, gottlose Leben sündhafter, verschwendungssüchtiger Menschen, die dem Heidenkult frönten und deshalb mit einer an die Sintflut gemahnenden, gottgesandten Flutkatastrophe bestraft wurden. Diese christlich geprägten Untergangsszenarien bauen allerdings fast immer auf vorchristlichen, heidnischen Wahrsagungen auf.
Die im Meer versunkene Stadt Vineta ist letztendlich weitaus mehr als „nur“ ein Mythos, der immer wieder Menschen in seinen Bann zieht, darunter Schriftsteller, Historiker, Archäologen, Ethnologen, Musiker, Maler und auch Geschäftsleute. Tatsächlich gibt es zahlreiche historische Quellen, die allesamt von einem großen, reichen Handelsplatz in der Nähe der Odermündung zu berichten wissen, der weitreichende Handelsverbindungen bis nach Germanien, Byzanz und bis zur chinesischen Seidenstraße aufwies. Der im Auftrag des Kalifats von Córdoba den europäischen Norden und Osten bereisende maurische Geograph Ibrahim Ibn Jaqub, dem wir auch die ersten Nachrichten über Polen verdanken, berichtete um das Jahr 965 von Vineta als „Weltaba“, so die Umschrift aus dem Arabischen. Ebenso kündete Adam von Bremen 1075/80 in seiner Chronik, eines der ersten erhaltenen Dokumente, von Vineta bzw. Jumme (Jumne, Iumne) als einer der größten und reichsten Städte ganz Europas. Für den Reichtum der Stadt dürfte der Handel mit Bernstein, Salz und Pelzen eine besondere Rolle gespielt haben. So spricht der Chronist von einem großen Seehandelsplatz auf einer Insel in der Odermündung, dort wo einst Harald I. „Blauzahn“ Gormsson, König von Dänemark in den Jahren 985 bis 987 Zuflucht gefunden und die Stadt Jomsburg/Jomsborg oder Jumne gegründet haben soll. Andererseits berichten auch skandinavische Zeugnisse von einer ungemein reichen Handelsstadt Stadt namens Jomsburg, die mit Vineta identisch sein dürfte:
„Griechen, Slawen und Russen, Dänen, Juden, Sachsen, und Angehörige vielerlei anderer Völker, die alle ihre eigenen Stadtviertel besaßen. Jedes Volk hatte seine eigene Religion. Nur die Sachsen waren Christen, durften dies aber nicht bekennen; denn nur die heidnischen Götzen genossen öffentliche Verehrung. Ungeachtet solcher Abgötterei waren die Bewohner Vinetas ehrbar und züchtig von Sitten; Kunst und Wissenschaft standen bei ihnen in hoher Blüte, und in Gastfreundschaft und Höflichkeit gegen Fremde fanden sie nicht ihres gleichen. Keine andere Stadt der Welt konnte sich mit Vineta in seiner Glanzzeit messen“.[2]
Dabei wurde immer wieder über die „Griechen“ in der Stadt spekuliert. Aller Wahrscheinlichkeit geht es hier allerdings um den griechisch-orthodoxen Glauben von Ost- wie auch Südslawen im Gegensatz zu den heidnischen, dem Götzendienst frönenden anderen slawischen Bewohnern. Was die Sachsen betrifft, handelte es sich wahrscheinlich um niederdeutsches Platt sprechende Deutsche.
963 und 967 unternahm Mieszko I., Fürst der wirtschaftlich und militärisch aufsteigenden westslawischen Polanen den Versuch, die Odermündung und das reiche Wollin (Wolin, Wołyń) zu erobern. Belegt ist, dass Wichmann II. aus dem sächsischen Adelsgeschlecht der Billunger gegen die Polanen kämpfte und wenig später im Jahr 976 an den Folgen seiner im Kampf erlittenen Verletzungen verstarb.
Um 1170 berichtet die nordische Knýtlinga saga, die an die Heimskringla saga anschließt, über die Belagerung der Jomsburg durch den dänisch-norwegischen König Magnus (1043) wie auch von einem Feldzug gegen die Feste des Dänenkönigs Waldemar I (1170). Nachzulesen u.a. in „Die Geschichte von den Orkaden, Dänemark und der Jomsburg“ (Jena 1924). Saxo Grammaticus schreibt 1190 über diesen Feldzug ebenso wie über Harald Blauzahns Aufenthalt in Juli[num], also Jomsburg. Etwa einhundert Jahr später widmet Helmut von Bosau in seiner „Chronica Slavorum“ (um 1300) Vineta ein ganzes Kapitel. In seinen Abschriften findet sich sowohl die Bezeichnung „Iumenta/ Iumneta“ als auch „Vinneta“, letztere als Überschrift seines zweiten Kapitels. Von der einst mächtigen Handelsmetropole seien laut Bosau durch die Angriffe der dänischen Flotte nur noch klägliche Überreste geblieben. Nachfolgend scheint Vineta weitgehend aus dem historischen Bewusstsein verschwunden zu sein, blieb aber allzeit im Volksglauben, in Sagen, Mythen und Legenden als ein in der Ostsee untergegangener Ort lebendig. Im 16. Jahrhundert begann ein eifriges Suchen nach dem untergegangenen Vineta vor allem vor Koserow und Damerow auf der Insel Usedom.
Im 17. Jahrhundert konzentrierte man sich dann bei entsprechenden Untersuchungen und Grabungen vornehmlich auf die Nordwestspitze Usedoms mit der kleinen vorgelagerten Insel Ruden. Seit dem 19. Jahrhundert waren es schließlich sowohl die Insel als auch die Stadt Wollin (Wolin), die nunmehr als Ort Vinetas galten. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts waren an dieser Stelle zahlreiche archäologische Funde freigelegt worden, die allerdings keinen schlüssigen Beweis für ihre Zugehörigkeit zu Vineta erbracht hatten. Hinzu kommt eine weitere, u.a. mit einer vermuteten Verlagerung der Odermündung einhergehende Theorie hinzu, die Vineta in der Nähe der Stadt Barth in Mecklenburg-Vorpommern vermutete. Auch hier mangelt es an entsprechenden Beweisen. Schwedische Landmesser hatten allerdings bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts das im Westfälischen Frieden an Schweden gefallene Vorpommern in mehr als 1700 kolorierten Karten beschrieben und neu kartiert. So weist die Karte von Koserow und Damerow von 1693 das Bild einer Stadtansicht mit hohen Giebelhäusern, stolzen Kirchen, festen Stadtmauern und Toren auf, die die lateinischen Beschriftung „Vineta“ trägt.[3] Bereits 1564 wird auf einem Kupferstich des Herzogtums Pommern eine Stadt namens „Zwineta“ auf einer kleinen Insel vor Usedom abgebildet, wahrscheinlich könnte es sich hier auch um Swinemünde, das heutige Świnoujście handeln.
Bis heute hat sich die literarische Verarbeitung von Überlieferungen, Sagen, Legenden, Mythen als besonders beliebt und erstaunlich produktiv erwiesen. Dabei blieb die exakte Lokalisierung des Ortes häufig unbeantwortet, ebenso wie die Frage, ob es diese mythischen Orte denn überhaupt gegeben hatte. Übereinstimmend befanden sich die versunkenen Städte fast immer in unmittelbarer Nähe von Meeresküsten und Inseln. Und so wird Vineta als ein wichtiger, zentraler europäischer Erinnerungsort fast immer mit dem Baltischen Meer, dem Ostseeraum, mit der germanisch-skandinavischen wie der slawischen Welt in eine unmittelbare Verbindung gebracht. Vineta stellt damit einen wichtigen, verbindenden Mythos im europäischen Kulturraum dar, der weit in die vorchristliche Zeit zurückreicht. Der magische Ort scheint dabei bis heute ein schier unversiegbarer literarischer Quell geblieben zu sein. Es ist ein attraktiver „Erzählstoff“, der in neuen historischen, gesellschaftspolitischen und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen von unterschiedlichen Generationen und auf unterschiedliche Art und Weise aufgegriffen wird. Interessant erscheint dabei auch die Frage, welche Bedeutungen der Herkunft des geheimnisvoll erscheinenden Namens Vineta/Wineta zugeschrieben werden, der sich im Laufe der Zeit durchgesetzt hatte. Erinnert sei dabei auch an Namen und Ortsbezeichnungen, die mit der Zugehörigkeit zu anderen Sprachen und Kulturkreisen begründet werden können. So stehen Namen wie Jumme, Iume oder Jomsburg, Jomsburg mit altnordischen, skandinavischen Überlieferungen in einer engen Verbindung. Die Herkunft des Namens Vineta/Wineta ist umstritten; er könnte sich auf ein mysteriöses Küstenvolk namens Vineter (Venedi, Venetae, Venedae) beziehen, die wahrscheinlich noch vor der Ankunft der Germanen und Slawen im 1. bis 4. Jahrhundert weite Gebiete des Ostseeraums, des Baltikums und des Weichsellandes bewohnten:
„[…] von der Quelle der Vistula durch eine unermessliche Strecke hin wohnt das mächtige Volk der Venether, deren Name freilich nur bei verschiedenen Familien und Orten wechseln mag, so werden sie dennoch grundsätzlich Sclaveni und Anten genannt“, schreibt der spätantike römisch-gotische Geschichtsschreiber Jordanes (Iordanes, Jordanis, Iordanis, Jornandes) in seiner Gothengeschichte „Venethi“.[4]
Die Veneter werden dabei auch als willkommene Vorfahren der Ur- bzw. Westslawen gesehen. So sehen sich die Polen gerne als Nachkommen und Erben dieses geheimnisvollen Volkes, mit dem sie auf eine lange, mehr als tausend Jahre zählende Geschichte und Kultur verweisen können. So hält der polnische Chronist Vinzenz (Wincenty) Kadłubek u.a. die Wanda-Sage in seiner Chronik fest bzw. hatte diese sogar erfunden, um eine weit in die Zeit vor der Christianisierung reichende Geschichte Polens zu konstruieren. So nannte Kadłubek den Fluss, an dem Wanda lebte, „Vandalus“ und nicht „Vistula“, und alle dort lebenden Menschen bezeichnete er als „Vandalen“. Hier scheint also eher ein Bezug auf den germanischen Stamm der Vandalen/Wandalen vorzuliegen. Es ist eine Auffassung, die der Hamburger Gelehrte Albert Krantz (Crantz, Crantzius) in seinem Werk „Wandalia. (Geschichte der Wenden)“ (1500-1504) im erwähnten Rückgriff auf antike römische Schriftsteller vertrat, welche die Wenden für die Nachkommen der Vandalen hielten.
„In diesem Strich deß Wendischen Lands Seewärts, an denen die Wenden (welche die unserigen auch Sclauen heißen) […] haben ehemals schöne herrliche Städte gelegen, deren Macht so groß gewesen, daß sie auch den gewaltigen Königen von Dennemarck offtmals zu schaffen gegeben“.
In diesem Zusammenhang hebt Krantz auch die besondere „Pracht von Vineta“ hervor.[5] Was die Lage des versunkenen Vinetas betrifft, werden bis heute immer wieder Orte an der südlichen Ostseeküste angegeben, die von der Halbinsel Darß bis zu den Ostseeinseln Usedom (Uznam) und Wollin (Wolin), vom Ort Barth in Mecklenburg-Vorpommern bis hin zur Stadt Wollin in Pommern reichen. Dabei sind es vor allem skandinavische Überlieferungen, die sich auf das pommersche Wolin beziehen, wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit den zwischen Pommern und Dänemark bzw. Schweden um die Vorherrschaft im Ostseeraum ausgefochtenen Kriegen. Die Eigenbezeichnung der Niedersorben als „Wenden“ könnte ebenfalls in ihrem Ursprung auf die Veneter zurückgehen. Ob der Bezeichnung „Wenden“ tatsächlich ein vermuteter Schreib- oder vielleicht eher Denkfehler eines römischen Verwalters zugrunde liegt, bleibt umstritten. Es stellt sich in diesem Kontext die Frage, ob der Begriff „Vendi“ bzw. „Venethi“ für die im heutigen Oberitalien lebenden nicht-slawischen Bewohner, von denen die Region Venetien wie auch die Stadt Venedig ihre Namen haben, möglicherweise auf die östlich der Grenzen des Römischen Reichs lebenden slawischen Bewohner übertragen wurde. Immerhin hatte bereits Plinius in seiner Naturalis historia wie auch Tacitus in seiner Germania die „Venetae“ als östlich des Germanenlandes, vor allem an der Vistula (Weichsel) siedelnde Stämme erwähnt. Es waren die Niedersorben, die die daraus abgeleitete Selbstbezeichnung „Wenden“ zunehmend selbstbewusst für sich übernahmen, auch um sich damit von den eng verwandten Obersorben zu unterscheiden. Den in den ersten Schriftquellen erwähnten Begriff „Wenden“ finden wir bis heute in zahlreichen Toponymen: Wendland, Wendeburg, Wendenschloß, Wendischbaselitz, Wendischbora, Wendischhorst usw. Ähnlich verhält es sich auch mit der Bezeichnung „Winden“, die in engerer Bedeutung einst für die Slowenen verwendet wurden und bis heute noch in Namensbezeichnungen auf dem Gebiet der „Germania Slavica“ wie auch im südslawischen Raum (Windisch-Kamnitz, Windischleuba, Windisch Graetz) verwendet werden.
Es gibt heute eine vielfältige Vermarktung des Namens und der Legende von Vineta. Davon zeugen nicht nur Theaterfestivals, Museen, Events und Vereine, sondern auch Hotels, Pensionen, Ferienhäuser, Straßen, Firmen, sogar Software, sie alle tragen den Namen Vineta. Alle für eine mögliche Lokation in Frage kommenden Orte, unabhängig von der historischen Wahrheit, reklamieren den Mythos für sich. So ließ sich 1999 die Stadt Barth in Mecklenburg-Vorpommern den Namen „Vineta“ vom Deutschen Patentamt gesetzlich schützen. Seit 1997 können sich Interessierte die Geschichte Vinetas auf der Freilichtbühne im Ostseebad Zinnowitz mit schauspielerischen, tänzerisch-musikalischen und pyrotechnischen Vorführungen sowie einer Lasershow anschauen, in der die Stadt am Ende effektvoll in den Meeresfluten untergeht. „Vineta. Das Geheimnis der Unterstadt“, so nennt sich dieses bunte Spektakel auf der Ostseebühne, das eine Stadt zeigt, in der zunächst Gaukler, Elfen, Narren und Repräsentanten zahlreicher Völkerschaften friedlich miteinander leben, bis sich in der außerhalb der Stadtmauern gelegenen Unterstadt wachsender Unmut regt und zum Aufruhr führt. In Zinnowitz wird des Weiteren auch ein zur Tradition gewordenes Osterspektakel aufgeführt, das mit der Vineta-Legende in enger Verbindung steht. So soll ein junger Schäferjunge am frühen Ostermorgen am Strand bei Koserow die verwunschene Stadt Vineta, plötzlich aus dem Meer auftauchend, gesehen haben. Da er aber bedauerlicher Weise keinen einzigen Pfennig in der Tasche hatte, konnte er auch nicht die Stadt von ihrem Fluch erlösen und so versank Vineta wieder in den Meeresfluten.
Auf der Insel Wolin gibt es ein sehenswertes Museum, das die Geschichte von Vineta bzw. Jomsburg auf eine besonders anschauliche Art und Weise vorstellt. Es ist das Freilichtmuseum „Centrum Słowian i Wikingów Wolin Jomsborg Vineta“ (Zentrum für Slawen und Wikinger Jomsborg Vineta). Auf archäologische Ausgrabungen gestützt zeigt es in einer nachgebauten slawischen Wikingersiedlung Exponate des damaligen Handels und Handwerks und bietet des Weiteren auch „Erlebnisbesichtigungen und Unterricht in lebendiger Geschichte“ an: „Komm zur Wallburg, durchschreite das Tor, sieh, wie Menschen vor 1000 Jahren lebten und erlerne ihr altes Handwerk“.[6] Alljährlich findet in Wolin auch ein großes „Festival des Slawen und Wikinger“ mit entsprechenden Aufführungen und Werkstätten statt.
So unterschiedlich wie die Frage nach der eigentlichen Lage Vinetas ist, sind auch die Gründe, die zum Untergang der reichen, hochmütigen Stadt geführt haben sollen. Fast alle sind sich in ihren Narrativen einig über das plötzliche Versinken im Meer durch eine gewaltige Sturmflut, welche die Stadt mit ihren Bewohnern, ihren Mauern, Toren, Kirchen, Wohn- und Geschäftshäusern für immer im Meer verschwinden ließ. Drei Monate, drei Wochen und drei Tage vor dem Untergang Vinetas erschien die Stadt in ihrer ganzen Schönheit und Macht als eine überaus faszinierende, bunte Lichtspiegelung über dem Meer vor der Stadt. Die Weisen der Stadt sahen darin ein Orakel, denn würde man die Stadt in ihrer Spiegelung noch einmal sehen, dann würde das ihren baldigen Untergang vorhersagen. Deshalb rieten sie den Bewohnern der Stadt, Vineta unverzüglich zu verlassen, um ihre Leben, Hab und Gut zu retten. Doch niemand nahm diese Prophezeiung ernst, viele verlachten sie sogar.
Eine andere Version vom Untergang Vinetas berichtet Folgendes: Eines Tages entstieg dem Meer vor der Stadt eine Meerjungfrau, Nymphe (Rusalka) oder eine Sirene. Diese verkündete mit schauriger Stimme dreimal aufeinander folgende Prophezeiung im norddeutschen Platt: „Vineta, Vineta, du rieke Stadt, Vineta sall unnergahn, wieldeß se het väl Böses dahn“ (Vineta, Vineta, du reiche Stadt, Vineta soll untergehen, weil sie viel Böses getan hat).[7] Allein einem einzigen Reiter der vielzähligen Reiterarmee Vinetas soll die Flucht aus der brennenden Stadt gelungen sein, um vom Untergang Zeugnis abzulegen. Weitere Gründe für den Untergang Vinetas werden in feindlichen Überfällen zumeist skandinavischer Eroberer gesehen. Die Stadt wird von den Eroberern geplündert, in Brand gesteckt und versinkt in den Meeresfluten. Es scheint als ob Vineta als ein Ort der Toleranz und Freiheit erst im Verlauf der Zeit verdorben, sündig und dekadent geworden war. Darauf weisen religiös interpretierte Untergansszenarien hin, so dass die sündige, gotteslästernde Stadt, Sodom und Gomorrha gleich, mit Hilfe Gottes vernichtet worden war. Dabei hält sich auch die Kunde, dass sich die Stadt unzerstört auf dem Grunde des Meeres befinde und zu seltenen Anlässen auftaucht:
„Alle hundert Jahre am Ostermorgen – denn vom stillen Freitag bis zum Ostermontag soll der Untergang Vinetas gedauert haben – taucht die ganze Stadt in ihrer alten Pracht und Herrlichkeit aus den Fluten auf. Mit all ihren Häusern, Tempeln, Toren, Brücken, Speichern und Ruinen steht sie dann, wie ein warnendendes Zeichen zur Strafe für die Lasterhaftigkeit und Üppigkeit ihrer Bewohner, über den Wellen und wartet darauf, von einem Sonntagskind, das an diesem Tag Geburtstag hat, erlöst zu werden! Das aber kann nur geschehen, wenn die Veneter durch die Tat beweisen, daß sie sich gebessert haben. Sonst muß Vineta wieder auf hundert Jahre ins tiefe, tiefe Meer zurücksinken“.[8]
Dieses Auferstehungsnarrativ scheint eindeutig von der christlichen Glaubenslehre und der biblischen Auferstehungsgeschichte überlagert zu sein, die dem reuigen Sünder eine Chance aufzeigt, aus aller Verdammnis gerettet zu werden und ein anderes, besseres Leben zu beginnen. Der Untergang der lasterhaften Stadt als himmlische Strafe wie auch die scheinbar unbeschadete Weiterexistenz des Ortes in der Unterwelt, in den Tiefen des Meeres wie im Bewusstsein, in der individuellen, kollektiven, transkulturellen Erinnerung setzt sich fort in zahlreichen „Gedankenreisen“ nach Vineta. Eine weitaus unspektakuläre rationale Auffassung geht davon aus, dass die einst so mächtige Stadt ihre Bedeutung an andere aufsteigende Handelsmetropolen verloren hat, damit in die Bedeutungslosigkeit versank und damit auch aus der kollektiven Erinnerung getilgt wurde.
Der Vineta-Mythos als ein Länder, Sprachen und Kulturen übergreifender Wander- bzw. Transfer-Mythos kann im kollektiven Bewusstsein aller Ostseeanrainer in unterschiedlicher Gestalt angetroffen werden. Dabei haben wir es mit einem Geflecht mündlicher Überlieferungen, Mythen, Chroniken, Sagen und Legenden zu tun. Vineta wird als Metapher und Motiv immer wieder aufs Neue aufgegriffen und weitergeschrieben und verbindet die skandinavischen, deutschen und slawischen Kulturräume miteinander. Dabei vereint die Vineta-Sage auch zwei eigentlich voneinander unabhängig erscheinende historische Ereignisse miteinander: die Eroberung und Zerstörung der Jaromarsburg bzw. Arkonas auf Rügen im Jahre 1168 mit dem Anfang des 11. Jahrhunderts beginnenden Niedergang der slawisch-dänischen Metropole Wolin-Vimne, die in die Endzeit der letzten freien slawischen Fürstentümer fiel. Nach dem friedlichen Zusammenleben von Slawen und Dänen, das vermutlich Jahrhunderte andauerte, gewann in Wolin-Vimne im Zuge der expansiven dänischen und auch polnischen Politik zunehmend an strategische Bedeutung, das sich gegenwärtig auch in einem vermehrten Interesse von Historikern, Kulturwissenschaftlern und Schriftstellern zeigt. So ist der Mythos bzw. das Trugbild von Vineta gerade künstlerisch-literarisch auf mannigfaltige Weise produktiv geworden und hat Schriftsteller, Künstler, Theaterleute, Musiker immer wieder aufs Neue beflügelt. Dabei erscheint die Geschichte Vinetas zeitlos und aktuell zu sein, sie wird als eine Warnung und Lehre angesehen, dass eine Gesellschaft, die sich allein auf materielle Werte, auf Wohlstand und Reichtum konzentriert und Warnungen überhört bzw. übersieht, den Untergang provoziert; und so steht Vineta übertragen und verallgemeinernd für die durch Kriege, Bombardements, durch Flucht und Vertreibung wie auch durch den zerstörerischen Eingriff des Menschen in die Natur verursachten Zerstörungen. Dabei können sich die Motivik, die Metaphern wie auch die Bildersprache, auch im Bezug auf unsere eigene Befindlichkeit, durchaus ähnlich sein.[9]
„[…] Wir sind versunken.
Ein jegliches Alter hat seine Zeit, da es sinkt und da es noch schneller sinkt.
Die Stadt heißt Vineta, sie liegt weit im Osten Europas, die
Glocken läuten zur gewohnten Zeit, doch in dem Schweigen
Kommt das Geläut nicht weit“.[10]
Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte
Hans-Christian Trepte studierte Russisch und Englisch (Erwachsenenbildung) in Greifswald und Leipzig, nachfolgend Polonistik (Literaturwissenschaft) in Leipzig, Warschau und Wroclaw. 1979 Promotion über Jarosław Iwaszkiewiczs Epochenroman ” Sława i chwała” [Ruhm und Ehre]. 2002-2016 Mitarbeiter am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: polnische und tschechische Kultur und Literatur, Exilliteratur, deutsch-polnische kulturelle und literarische Beziehungen. Er ist auch als Übersetzer tätig (u. a. Jarosław Iwaszkiewicz, Henryk Grynberg, Tomasz Małyszek, Czesław Miłosz u.a. Zuletzt erschien in 2022 sein Buch “Zwischen Kap Arkona und dem Lausitzer Bergland. Westslawische Mythologie” in der Reihe Kleines Mythologisches Alphabet (Edition Hamouda).
Anmerkungen und Literaturhinweise:
[1] Luise Rolf: Vineta. https://gedichte.xbib.de/Rolf%2C+Luise_gedicht_033.+Vineta.htm
[2] Die Jomswikinger – eine Kriegergemeinschaft?
[3] Karte von Koserow und Damerow, 1693. Landesarchiv Greifswald, Rep. 6a Clb 28. https://www.kulturwerte-mv.de/Landesarchiv/Archivalien/Bisherige-Beitr%C3%A4ge/2009-09-Vineta-auf-einer-Karte-schwedischer-Landmesser/
[4] Jordanes, Getica 34, Neuübersetzung L. Möller, 2012.
[5] Wenden.nina.az https://www.wiki-data.de-de.nina.az/Wenden.html
[6] Cntrum Słowian i Wikingów Wolin Jomsborg Vineta. Über uns https://jomsborg-vineta.com/de/
[7] Vineta: https://de.wikipedia.org/wiki/Vineta
[8] Rätsel Vineta http://www.jomswikinger.de/raetsel_um_vineta.html
[9] Brandt, Marion: Der Untergang Danzigs in der deutschen und polnischen Nachkriegsliteratur. Erinnerung in Text und Bild. Zur Darstellbarkeit von Krieg und Holocaust im literarischen und filmischen Schaffen in Deutschland und Polen, red. Jürgen Egyptien, Akademie Verlag, Berlin 2012, S. 176.
[10] Uwe Kolbe: Vineta. In: Vineta. Gedichte. Frankfurt am Main 1998, S. 12.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
„Wahrscheinlich könnte man Atlantis als die wohl bekannteste Erzählung über versunkene Reiche und Städte bezeichnen.“ Heute gibt es zwei Seiten, was Atlantis betrifft: Die moderne Forschung einerseits und andererseits Leute, die Atlantis für real halten (also in dem Sinn, dass es Atlantis wirklich gab). In erster Linie geht man aktuell davon aus, dass Platon Atlantis im Rahmen seiner Staatstheorien erfunden hat -> https://www.mythologie-antike.com/t1276-kleito-mythologie-mutter-der-ersten-konige-von-atlantis
Mich wundert, daß Sie nicht auch das Werk „Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt“ von H.-P. Duerr erwähnen, welches nebenbei auch eine Realsatire über den Wissenschaftsbetrieb beschreibt. Rungholt jedenfalls erwies sich als durchaus real…
Danke, das gibt uns wieder einen schönen Zugang zu den imaginären Geographien, die der realen zugrunde liegt! Faktenreich und informativ!