Die sagenumwobene Stadt Vineta hat sowohl mythische, kulturhistorische als auch literarische Spuren im kulturellen Gedächtnis hinterlassen.
Nachfolgend sollen nunmehr einige als exemplarisch angesehene literarische Werke etwas näher vorgestellt werden.
1.
Die mit ihrer Familie in London lebende Schriftstellerin, Übersetzerin und Lektorin Charlotte Lyne (geb. 1965 in Berlin) hat einen großen historischen Roman geschrieben: „Die Glocken von Vineta“[1] (Mohr 2021). Ihren aus Riga und Danzig kommenden Großeltern verdankt die Autorin ihre tiefe Verbundenheit mit der Ostsee, ihr besonderes Interesse für Mythen, Sagen und Legenden des Ostseeraums. Die historische Erzählung über die „Perle der Ostsee“ reicht im Prolog bis in das Jahr 1125 zurück. Der Text weist dabei zwei zentrale Narrative auf. In Vineta wachsen die sich deutlich voneinander unterscheidenden Zwillinge Warti und Bole (Boleslaus / Bolesław) auf. Nach dem ihr Vater, ein reicher Bernsteinhändler, bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen ist, tritt Warti als Erstgeborener dessen Erbe an, während sich sein Bruder Bole als Fischhändler verdingt. Eine verheerende Sturmflut bringt Bole um sein gesamtes Hab und Gut. Daraufhin bietet der stets benachteiligte, verbitterte Bruder letztendlich seine Dienste dem verfeindeten dänischen Königshof als Spitzel an. Die Rivalität der beiden Brüder eskaliert, als Bole zudem noch Wartis schöne Frau begehrt. Historische, soziale und persönliche Konflikte beginnen zu eskalieren. Das trifft auch auf die Geschicke Vinetas zu, so muss sich die Handelsstadt immer mehr mit einer Vielzahl unterschiedlicher Feinde auseinandersetzen und um ihre Existenz kämpfen. Lynes Roman gestattet tiefe Einblicken sowohl in die Geschichte der Handelsstadt und die sie umgebenden Länder und Regionen, als auch in das Leben seiner noch friedlich miteinander lebenden Bewohner. Der Autorin gelingt es dabei, geschickt slawische Mythen und Erzählungen von vorchristlichen Göttern wie z.B. der fruchtbaren Mutter Erde, Mokosch, von Perun, dem Donnergott, dem viergesichtigen Svantevid und dem dreiköpfigen Triglaff in ihren Text einzuflechten. So nimmt der Leser Teil an heidnischen Festen, Zeremonien, Bräuchen und Ritualen.
Mit der Zeit wird die unabhängige Handelsstadt Vineta immer stärker in die sich mehrenden Auseinandersetzungen zwischen den „Heiden“ einerseits und den „Christenmenschen“ andererseits hineingezogen. Es beginnt ein Kampf um Glaubenshoheit, um Einfluss und Macht; es verschärfen sich die Spannungen zwischen den zugereisten Christen und den eingesessenen Heiden, dem dänischen König und den unabhängigen Herrschenden Vinetas immer mehr. Dänemark sieht in der stolzen Handelsstadt eine wachsende Bedrohung für seine Seemacht und sucht nach Wegen und Mitteln, sich dieser Konkurrenz baldmöglichst zu entledigen. Bedroht wird Vineta aber auch von der Landseite durch den polnischen Herzog von Pommern, der den Zugang zum Meer, den Hafen von Vineta begehrte:
Das Hoheitsgebiet des Herzogs schmiegte sich um Vinetas Grenzen, man verkehrt wohlwollend miteinander und opferte denselben Göttern. […]. Herzog Boleslaw hingegen, der im nahen Polen residierte, war Christ und hätte die fruchtbaren Gründe seiner Nachbarn mit Freuden seiner Kirche und damit zugleich seinen Steuereintreibern zugeschanzt. (Lyne, S. 19)[2]
Die zweite Narration betrifft Natalia, die als kleines Kind ins ferne Nowgorod verschleppt worden war, dort als Leibeigene aufwächst, Gewalt und Grausamkeiten ausgesetzt ist und sich zu sprechen weigert. Und so trägt der erste Teil des Romans den Titel: „Die Stumme“. Im fernen Nowgorod vernimmt Natalia die Mär von einer reichen, goldenen Stadt am Meer, ein scheinbares Paradies auf Erden, in das sie sich immer stärker hineinträumt.
Natalia mochte den Klang der Worte. Vineta. Pommern. Wer sie auf die Zunge nahm, verzog den Mund auf besondere Weise, als sei dort drüben, hinter dem Meer, nicht Winter, als hole man sich dort keine Frostbeulen, wenn man mit in Lumpen gewickelten Füßen auf die Straße lief. (Lyne, S. 24)
Das bereits christianisierte Nowgorod, ein wichtiges Zentrum des orthodoxen Glaubens und ein bedeutender Handelsplatz, blickte hochmütig auf die heidnischen Ländereien, Städte und ihre Bewohner herab. „Die gottverlassenen Heiden haben Gaumen wie Fürstentöchter. Nicht umsonst wird erzählt in ihrem gottlosen Vineta schwirren ihnen die Tauben geröstet ins Maul“ (Lyne 2007, 21). Beide Erzählstränge werden durch Warti miteinander verknüpft, der als Handelsreisender in sieben Tagesreisen das Baltische Meer überquert hatte. In Ladoga ließ er seine Waren auf Flusskähne umladen, war anschließend „erst die Newa, dann den Wolchow hinunter nach Nowgorod gerudert […]“ (Lyne 2007, 21). Bezahlt wurde für die dort eingekauften Pelze, Edelsteine, für Bronze, Silber und Gewürze mit den begehrten, in Vineta geprägten doppelseitigen Goldmünzen. Diese waren „[…] so massiv, dass ein Mann sich die Zähne dran ausbeißt. Und wer kann sich so etwas leisten? Richtig, die Heiden aus Vineta mit dem Bildnis des von ihnen verehrten Abgotts. […] Die grausige Fratze gehört ihrem Götzen, Svantovid, der hat derer vier“ (Lyne 2007: 12). In Nowgorod kauft Warti die von ihm begehrte rothaarige Natalia von einem Bojaren frei und ehelichte sie auch bald danach. Auch in Lynes Text taucht ein wichtiges Vineta-Motiv auf, die Glocken von Vineta; sie üben hier eine warnende Funktion aus und kündigen den Untergang der Stadt an. Es ist ein Untergangsszenario, das in Natalias Ahnungen und düsteren Träumen antizipiert wird. Den wenigen Überlebenden, zu denen Warti und Natalia gehören, stellt sich jetzt die bange Frage, was für ein Leben sie außerhalb Vinetas erwarten wird, in einer Welt, in der es für die gewohnten Freiheiten, für all das, wofür Vineta stand, keinen Platz mehr gibt.
Es stellt sich zwangsläufig auch die Frage, wie die westslawischen Literaturen den Mythos bzw. die Sage und Legende von Vineta reflektieren. Nachweislich gibt es mehr als zweihundert Vineta-Texte, darunter auch sechs Opern und Lieder. Dabei ist das Vineta-Motiv in allen westslawischen Literaturen präsent, besonders ausgeprägt jedoch in der kaschubischen, (ober-)sorbischen und polnischen Literatur.[3] Es war maßgeblich die polnische Literatur der Romantik, aber auch des „Jungen Polen“ (Młoda Polska) bzw. der Neoromantik, die sich der vorchristlichen Vergangenheit Polens annahm. So wird häufig in diesem Zusammenhang auf Józef Ignacy Kraszewskis „Stara Baśń“ (1876), ein Panorama der polnischen Geschichte von der Frühzeit, verwiesen. Der Text liegt als „Eine alte Mär“ auch in deutscher Übersetzung vor (Kraszewski 1970). Der polnisch Literaturwissenschaftler Tomasz Derlatka hat sich eingehend mit dem Thema „Vineta – ein verlorener literarischer Raum“ bei den Westslawen beschäftigt und für seine Untersuchungen zahlreiche literarische Werke herangezogen. Seine Publikation: „Wineta – Literacka przezstrzeń utracona“ Słowiań zachodnich? Rozważania na wybranych przykładach z literatur zachodniosłowiańskich“[4] ist auch in englischer Übersetzung zugänglich.[5] In seiner Publikation gibt Derlatka einen umfassenden Überblick über Vineta in ausgewählten Werken westslawischer Literaturen. Eine Eingrenzung der genannten Thematik, die einhergeht mit einer Konzentration auf eine konkrete Region, Pommern (Pomorze), erfolgt in einer weiteren aufschlussreichen wissenschaftlichen Veröffentlichung. Bartosz Wójcik greift historisch vertieft, in seiner Veröffentlichung „Vineta, Sedina, Greif“ einige literarische Beispiele für pommersche Mythen um 1900 auf.[6] Dabei verweist der Stettiner Literaturwissenschaftler folgerichtig auch darauf hin, dass Vineta als ein „Beispiel altbekannten und regelmäßig sprachlich bearbeiteten Inhalts“ dienen kann, „dessen allgemeingültige Aussage sich auf die ganze Region habe auswirken können“ (Wójcik, S. 282).
2.
Als zweites Beispiel möchte ich eine fantastische Groteske über eine Reise aus der Vergangenheit in die Zukunft näher vorstellen. Der russisch-jüdische, 1991 mit seiner Familie nach Deutschland übersiedelte Schriftsteller Oleg Jurjew (1959-2018) schrieb einen sprachgewaltigen Roman, „Die russische Fracht“[6], der im russischen Original den Titel „Vineta“ trägt. Wie zuvor mit „Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise“ (2003), ein Werk, in dem Jurjew an die jüdische Golem-Legende anknüpft, zeigt sich der Autor als überaus mytheninteressiert und mythenbewandert. Gleich zu Beginn seines Buches greift der Jurjew auf die Legende von der Entstehung Petersburgs zurück, jener Stadt, die Peter der Große als „sein Paradies“ ansah:
Nach den Mären der Karelier, Ingern und Wepsen ist Sankt Petersburg so entstanden: Zar Peter kam mit seinen Russen zur Mündung der Newa und sprach: ‚Hier, Kinder, stellt er die Stadt hin! Ich aber werde eine Fregatte kiellegen zu ebender Stund – achtundzwanzig Kanonen, drei Masten, und der Name wird sein ‚Stadt Vineta, ruhmreich und heilig von den Deutschen und Polen versenkt‘. Wenn dieses, mein eigenhändiges Schiff fertig gebaut sein wird, soll auch bei euch im Ganzen und allen Stücken Sanktpiter schon stehen. Wenn nicht dann…‘ – und drohte mit dem Beil unterm Gehrockschoß (Jurjew, S. 7).
Das Schiff wird letztendlich fertig, doch nicht Petersburg, die Stadt seines Herzens. „Nichts kriegt ihr Hurensöhne hin!“ betrübt sich der Zar, „muß ich denn alles selber machen, […] (Jurjew, S. 7). Und so baute der Zar „aus diesem im niederen Himmel schwebenden Material ganz Petersburg auf seiner Handfläche […]. Dann ließ er die Stadt auf den Boden herab, und sie stand wie ein Spielzeuglein“ (Jurjew, S. 8). Jurjews Erzähler, der 27-Jährige Weniamin (Wenka) Jasytschnik (ein sprechender Name, der Heide bedeutet) will mit seiner Dissertation „St. Petersburg und Vineta, zwei baltisch-slawisch Mythen. Aspekt der Rekonstruktion einer chronotopischen Spiegelung“ (Jurjew, S. 9) den Beweis dafür erbringen, dass das über der Erde und den Wassern schwebende Sankt Petersburg, gleich einer Himmelsinsel, die sich als eine lebendige „Insel im russischen Meer“ verstand, mit dem legendären Vineta identisch ist. Und so heißt es am Ende von Jurjews Buch auch, dass Sankt Petersburg zu Vineta geworden sei. Mit seinem Roman schreibt der Schriftsteller bewusst den Petersburg-Mythos seit Puschkin, Gogol, Dostojewski, Andrej Belyj in der russischen und Jarosław Iwaszkiewicz (Iwaszkiewicz, 1976) in der polnischen Literatur fort. Der Titel der von Elke Erb und Olga Martynova (Jurjews Ehefrau und Schriftstellerin) meisterhaft ins Deutsche übertragene Abenteueroman „Die russische Fracht“ bezieht sich auf die im Bauch eines gespenstigen Kühlschiffes verborgenen Fracht, die aus einer Menge Ballast der russischen Geschichte wie auch aus Bruchstücken aus der Biographie des Erzählers selbst besteht. So wirkt bei dem ganzen Spuk auch Zar Peter der Große mit, zum einen als „Fliegender Holländer“, zum anderen als „Herkules des Nordens“. Wenka, der sich von der korrupten und kriminellen Realität der postsowjetischen Gesellschaft lösen möchte, versucht tief in die große und ruhmreiche russische Vergangenheit einzutauchen. Der gewaltsame Tod seines in dubiose Geschäfte verwickelten Stiefvaters zwingt ihn, von Kriminellen verfolgt, zu flüchten. Als illegaler Passagier versteckt er sich auf dem ukrainischen Frachtschiff „(P. S.) Atenov“, ukrainisch „Ateniv“, das sich als Narren-, Gespensterschiff bzw. als Schiff der Erinnerung mit Untoten unterschiedlicher Herkunft an Bord erweist. Wiederauferstanden machen diese mit russischen Oligarchen skrupellose Geschäfte. Liest man übrigens den ukrainischen Namen des Schiffes „Ateniv“ von rechts nach links, so wie im Hebräischen üblich, versteht man auch hier die Anspielung auf Vineta. Ein weiterer Vineta-Bezug ergibt sich darüber hinaus, als das Schiff durch den deutschen Hobbyarchäologen Wendelin Wende (sic!) geentert wird, der sich mit einer nachgebauten Hansekogge auf der Suche nach der untergegangenen Stadt Vineta begeben hat. Die „Ateniv“ macht eine abenteuerliche, zum Teil phantastisch-groteske Seereise zwischen Wachzustand, Halluzination, Delirium und alptraumhaftem Zustand. Wohin soll diese Seefahrt eigentlich führen? Nach Deutschland vielleicht? So lautet jedenfalls ein gleichsam leitmotivischer Satz: „Sind wir bald in Lübeck“? Oder ist das Schiff eventuell sogar auf dem Weg nach Vineta, der versunkenen, reichen Stadt als einer engen Verwandten von Sankt Petersburg? Das weiß eigentlich keiner so genau. „Umso glorreicher erstrahlt am Ende zwischen Silvesterraketen und Gläserklingen die Apotheose von Peter dem Großen auf dem Kompassdeck, der den Kurs nach Vineta ausruft“.[7]
3. Dieter Kalkas Roman „Sudička“
Kalkas Roman hat seinem Werktitel „Sudička“[8] zufolge zunächst recht wenig mit Vineta zu tun, doch das fulminantes Finale des Romans, der Untergang der slawischen Stämme zwischen Ostsee und dem Lausitzer Bergland, geht einher mit dem Untergang der Feste Wolin, dem letzten noch Widerstand leistenden Ort der Elb- und Ostseeslawen. Der Leipziger Liedermacher, Schriftsteller, Soziologe, Übersetzer und Logopäde begibt sich auf Spurensuche nach einem verschwundenen Land und seinen slawischen Bewohnern. Unter dem deutschen Kaiser Otto wurden die Bewohner der Germania Slavica zwischen Elbe und
Oder vor mehr als eintausend Jahren im Verlauf von mehr als vierhundert Jahren erobert, unterjocht, zwangschristianisiert und germanisiert. Dabei haben sie ihre eigene Sprache, Kultur und Identität verloren; Kalka erkennt darin einen Genozid. Woher kommt der Name der Hauptprotagonistin“ „Sudička“? „Slawisch sicher, mehr südslawisch jedoch. Vielleicht aus Böhmen“ (Kalka, S. 20). Zugleich ist Sudička aber auch der Name der slawischen Göttin des Schicksals und der Vorsehung. Mit Hilfe ihrer göttlichen Gabe fühlt sie sich berufen, die Einheit der Slawen im Kampf gegen die fränkisch-germanischen Eroberer herzustellen. Und so wird JEDNOTA (Einheit) zum zentralen Schlüsselwort des Romans. Ebenso der heidnische, dem dreiköpfigen Triglav (Triglaw, Triglaff) gewidmete Tempel in der Feste Wolin auf der gleichnamigen Ostsee-Insel, die mit Vineta bzw. Jomsburg identisch zu sein scheint. Dem Orakel von Wolin folgend, soll die Einheit im Kampf gegen die christlichen Eroberer hergestellt werden:
Das Orakel von Wolin verkündet den Slawen, dass SIE gefunden wird zwischen der kommenden Ernte und dem Eismond, dass SIE uns bringen wird, woran es uns fehlt: Jednota. Einheit im Handeln im Land der unzähligen Seen, erwarten JENE mit dem schwarzen Mal auf der Brust. SIE wird unsere Herzen verbinden. Triglav hat zu Euch gesprochen durch seinen Hohepriester von Wolin. (Kalka, S. 25).
Der Prophezeiung entsprechend wir Sudička zur Verfechterin, ja zur Inkarnation der slawischen Einheit, die mit dem Sohn des Herrschers von Wolin, Milegost, verheiratet wird. Ihr gemeinsamer Sohn erhält den programmatischen Namen Sławomir (Friedensreich, Friedensruhm), er soll den Slawen Mut und Hoffnung im Kampf gegen die Legionen des neuen Glaubens bringen, die von der anderen Seite des „Limes Sorabicus“ immer tiefer ins Land der Slawen eindringen (Kalka 2018: 142). Zur Verteidigung der Feste und des Tempels eilen slawische Kämpfer aus unterschiedlichen Landesteilen zu Hilfe. „Sie, allzu oft als kulturlose Heiden beschimpft, benahmen sich besser als die Besten der Christen. Sie tanzten, küssten, liebten einander unter dem Sichelmond des nördlichen Kontinents […] (Kalka, S. 257). An der Spitze der Verteidiger gegen die germanischen Eroberer reitet auf einem Schimmel und in einer glänzenden Rüstung Sudička:
Blámáni, der Hauptmann, der blassgesichtige Zwillingssohn des Wikingersohns, riss Sudičkas goldene Kopfbedeckung herunter, während ein Nordmann neben ihm schrie: »Wir kämpfen gegen Weiber!« […]. Aber Sudičkas Haar […] soll gestrahlt haben wie Sonnenlicht. Geglänzt wie die Statue Triglavs. (Kalka, S. 312).
Und so spiegelt das tragisch Ende, der Untergang der sagenhaften Stadt und Feste am Baltischen Meer, auch das traurige Schicksal der slawischen Stämme auf dem Gebiet der Germania Slavica zwischen Elbe und Oder wider:
Wolin brannte. Der Christenmenschen Gott hatte die Schlacht für sich entschieden. Schätze fand keiner. Sie waren vergraben im Irgendwo der Geschichte. Einst jenen Göttern geweiht, welche diese Erde jahrhundertelang beschirmten. Wolin – oder Jombsburg, wie die Normannen es nannten, Vineta, wie die Sorben sagten, oder Weltaba, wie es in Ahmads Heimat hieß, war von der Landkarte ausradiert. […] Man würde später, um sich zu rechtfertigen, erzählen, die Stadt sei untergegangen einzig an ihrer Verruchtheit, an Hochmuth und Verschwendung (Kalka, S. 313).
Das Narrativ von Vineta fand des Weiteren auch Eingang in die Rockmusik, so z. B. bei der niederdeutsch singenden Folkgruppe „De Plattfööt“ aus Mecklenburg-Vorpommern, bei der Gruppe „Transit“ ebenso wie bei den Sängern Michael Heck und Ignaz Heim. Im Text „Vineta“ der bekanntesten Rockband der DDR, „Puhdys“, werden fast alle Elemente des Vineta-Mythos aufgegriffen.
Die Sage spricht von ihr / Der Stadt Vineta. / Sie sank mit Mensch und Tier / Mit allen Stuben. Mit Stolz und Überhebung sank sie / Ins kühle, nasse Grab. / Man weiß nicht mehr den Platz, / Wo sie gestanden hat. / Es bleibt nicht ein Katz, nicht mal ein Mäuschen. Sie nannte sich Vineta / Neid und Haß trieb sie hinab. / Manchmal nur klingt, klingt es ganz leis, / Ruft Glockengeläut von unten heraus. /Stadt unter dem Meer, sag: Was ist geschehn! / Die Sage spricht von ihr / In alten Zeiten / Sank sie mit Mensch und Tier. / Mit allen Stuben. Sie nannte sich Vineta. Neid und Haß trieb sie hinab. / Stadt unter dem Meer, sag: Was ist geschehn! / Daß alle verstehn. Stadt unter dem Meer![9]
Als Metapher steht Vineta für die verlorene Heimat, für die verlustig gegangene Kindheit, für all die in Kriegen zerstörten Städte, vernichteten Landschaften, untergegangenen Ländern und Staaten. Ein Schriftsteller vermag mit seinen Werken künstlerisch-kreativ dazu beitragen, das mannigfaltig Verlorene neu und anders zu erleben. Und so wird beispielsweise das Verschwinden einer in Wien verbrachten Kindheit und Jugend in der Zwischenkriegszeit mit Erinnerungsstücken, mit verstorbenen Personen, verlorenen Gegenständen und Berufen erlesbar, so in Ilse Helbichs Buch „Vineta“.[10] Es ist ein Buch, das zugleich auch Bezug nimmt auf die untergegangene Welt der Habsburger-Monarchie. In Helbichs gesellschaftlichem Panorama tauchen Bilder und Geschichten aus einer vergangenen Welt wieder auf, zumeist sind es Erinnerungen einer aufgehobenen Vergangenheit ohne Nostalgie: „So wie man die Häuser des versunkenen Vineta nur bei ganz ruhiger, klarer See erblicken kann, so ist auch große Ruhe und Klarheit des Geistes Voraussetzung für derart präzise, plastische und intensive Bilder.“ (Helbich 2013, Klappentext)
Bei den Narrationen über den Untergang von Städten wie Danzig, Stettin, Warschau oder auch Dresden entsteht eine besondere „Stadtsemiotik“, kommt es zu einem Wiederlesen versunkener Städte. Der Untergang der alten Barockstadt Dresden wird vom Schriftsteller Uwe Tellkamp, dessen Vorfahren Seeleute und Elbschiffer waren, mit Vineta verglichen, „Vineta, als das mir Dresden, die Stadt, in der ich Kind war, vorkam. […] Die Zeit ist ein sonderbares Ding …Manchmal steh ich auf mitten in der Nacht und laß die Uhren alle stehen […]“ (Tellkamp 2022, 16). Auch bei dem in der DDR groß gewordenen Lyriker Uwe Kolb tritt das Vineta-Motiv in seiner „rasanten Gedankenreise durch Raum und Zeit“ immer wieder auf, es wird zu einer Metapher für das Verlorene, für die Suche nach Antworten im „Ausschnitt aus der großen Zeit, der das eigene Leben umfasst“, und es ist ein Suchen im „alles verschlingenden Meer der Zeit“ (Schulte 2014, 8). Vineta steht bei Kolbe aber auch für die untergegangene DDR. So zieht der Autor in „Vineta“ (Kolbe 1998) Bilanz, blickt zurück auf die stumme DDR-Realität und die nachfolgenden schweigenden Wendejahre. Die verschwundene DDR gerät dabei selbst zu einer Metapher, sie wird zu einem geradezu mythischen Narrativ:
Meine Straße schweigt unter den Stiefeln des Schweigens. / Meine Stadt unter dem Tosen erneuten Aufbaus. / Wie heißt sie? [ …]. Die Stadt heißt Vinta, sie liegt weit im Osten Europas, die / Glocken läuten zur gewohnten Zeit, doch in dem Schweigen / kommt das Geläut nicht weit.[11]
Es gibt auch ironisch-spöttische, deutlich zeitkritische Texte wie z.B. „Der Untergang von Vinta – oder wie es wirklich war“.[12]
Bei all diesem haben die Eiländer gar nicht bemerkt, dass sich die Welt veränderte. Sie wurde stürmischer und die Fluten stiegen. Da die Eiländer so mit sich beschäftigt waren, vergaßen sie, sich den geänderten Bedingungen anzupassen und bessere Angebote zu entwickeln, welche die Deiche gestärkt und das Eiland vor dem Untergang gerettet hätten. Irgendwann überrollten dann die Fluten das schöne Eiland. So war das mit dem Untergang von Vineta wirklich.[13]
Lediglich verwiesen sei auf den „Roman Noir“ mit Illustrationen von Gregor Kunz und Robert Schalinski, der den Titel trägt „Escape Vineta: Die Guten, die Bösen und die Hässlichen“.[14] Erwähnung soll des Weiteren auch noch eine Kunstinstallation im Leipziger Seenland finden, die den Namen “Vineta” trägt.[15] Mit der nachgebildeten Spitze des Kirchturms des Ortes Magdeborn soll sie an die in den Fluten des Störmthaler Sees versunkene Gemeinde erinnern. Magdeborns Glocken läuten heute in der Pauluskirche in Leipzig-Grünau.
[…] Wir sind versunken.
Ein jegliches Alter hat seine Zeit, da es sinkt und da es noch schneller sinkt.
Die Stadt heißt Vineta, sie liegt weit im Osten Europas, die
Glocken läuten zur gewohnten Zeit, doch in dem Schweigen
Kommt das Geläut nicht weit. (Kolbe, S. 12)
Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte
Anmerkungen:
[1] Lyne, Charlotte (2007): Die Glocken von Vineta. München: Blanvalet.
[2] Derlatka, Tomasz (2013): Wineta – „Literacka przeszstrzeń utracona“ Słowiań zachodnich? Rozważania na wybranych przykładach z literatur zachodniosłowiańskich. In: Porównania 12 2013, 177-192.
[3] Ebenda.
[4] Vineta – the Literary “Lost Territory” of Western Slavs? Considerations Based on Case Studies of Selected Texts in Western Slavonic Literatures, S. 127 – 137.
[5] Wójcik, Bartosz (2014): Vineta, Sedina, Greif: Einige literarische Beispiele für pommersche Mythen um 1900. In: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Szczecińskiego Nr. 831.
[6] Jurjew, Oleg (2008): Die russische Fracht. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[7] https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/kurs-auf-vineta-1749841.html [12.04.2023].
[8] Kalka, Dieter (2018): Sudička. Dresden: salomo publishing.
[9] Puhdys: Vineta. Text Peter Meyer / Wolfgang Tilgner https://www.songtexte.com/songtext/puhdys/vineta-bce4566.html [12.04.2023].
[10] Helbich, Ilse (2013): Vineta. Wien: Droschl Literaturverlag.
[11] Kolbe, Uwe (1998): Vineta. In: Uwe Kolbe: Vineta. Gedichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[12] Der Untergang von Vineta – oder wie es wirklich war. 24. Februar 2011 von Willi Meierchen Der Untergang von Vineta – oder wie es wirklich war | USEDOMSPOTTER [12.04.2023].
[13] Ebenda.
[14] Kunz, Gregor und Schalinski, Robert (2022): „Escape Vineta: Die Guten, die Bösen und die Hässlichen“. Roman Noir. Aus den Oregon-Kladden Kapitäns von dem Busche. Busche Trilogie. Schönebeck: Moloko Print.
[15] Vineta auf dem Störmthaler See. https://www.leipzig.travel/poi/vineta-auf-dem-stoermthaler-see [12.04.2023].
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.