Edith Bland (1858-1924), die unter ihrem Mädchennamen E. Nesbit schrieb, ist vor allem als Kinderbuchautorin bekannt geworden. Ihre Werke wurden vielfach verfilmt, übersetzt und neu aufgelegt. Zum einen schrieb sie realistische Kinderbücher, deren Kennzeichen Humor und Sozialkritik sind. Zu ihnen gehören The Wouldbegoods (1901) und The Treasure Seekers (1899), die jeweils auch Fortsetzungen haben und in deren Zentrum eine bestimmte Familie steht. Das Modell lautet im letzteren Fall: die Kinder versuchen der eigenen, verarmten Familie auf die Beine zu helfen, indem sie Geld verdienen. In The Wouldbegoods wollen die Kinder etwas moralisch Gutes tun und enden dabei jedes Mal in einem Dilemma. In The Railway Children (1906) steht Sozialkritik im Vordergrund: Armut der Familie, das Leben an einem kleinen Bahnhof und an der Schiene, aber auch der Einfluss großer Politik, denn die Familie wird einen russischen Emigranten aufnehmen und etwas über die Zustände im Zarenreich erfahren.
Zum anderen aber schrieb Nesbit phantastisch-realistische Werke; sie waren es, die sie bekannt machten. Hier wäre die Trilogie um den Sand-Elf Psammead zu nennen, die mit dem Band Five Children and It (1902) beginnt. Psammy kann Wünsche erfüllen, die Erfüllung geht aber nur bis Sonnenuntergang – eine weitere Quelle von zum Teil lustigen, zum Teil auch gesellschaftlich aufschlussreichen Pannen: Was passiert, wenn man sich Schönheit wünscht und sie tatsächlich erhält? Oder Reichtum? Nesbit kommt immer wieder auf geniale Lösungen, die zugleich Lebensweisheit vermitteln und zeigen, welche Freuden und Leiden in der Mechanik des Wünschens stecken.
Bis heute hat Nesbit einen großen Einfluss auf die Kinderbuchliteratur. Noch J.K. Rowling bekannte sich zu ihr; ebenso taten dies Pamela L. Travers, die Autorin der Mary Poppins-Bücher (1934-88), oder C.S. Lewis, der Verfasser der Chronicles of Narnia (1950-56). Sie wurde gepriesen von dem amerikanischen Autor und Politiker Gore Vidal, ihre Werke fanden eine Fortsetzung bei Michael Moorcock oder Jacqueline Wilson. Für alle Bücher gilt: Sie sind witzig! Und zwar auf jeder Seite. Hinzu kommt aber ihr Gespür für Gruppen- und Familiendynamik, für Geschlechterrollen, die mal überschritten, mal bestätigt werden. Immer spielt die Kreativität der Kinder eine große Rolle und damit die Imagination. Für viele Briten verkörpert ihre Welt auch die untergegangene Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, eine Zeit, als das Jahrhundert noch jung und unkorrumpiert schien und sich Großbritannien im Lichte seines Empire ausstrecken und genüsslich spielen konnte. So bewunderte sie ein Theaterautor und Komponist wie Noel Coward: „She had an economy of phrase, and an unparalleled talent for evoking hot summer days in the English countryside.” (Coward, Letters 74)
Auch in ihrem Lebensstil war sie einzigartig in ihrer Zeit. Sie war mitunter eine bekennende Bohemienne und New Woman, lebte in einer offenen Beziehung mit ihrem Ehemann Hubert Bland, einem Bürstenfabrikanten und Schürzenjäger. Sie duldete es, dass seine Geliebte in die Familie aufgenommen wurde und zog das von dieser mit Bland gezeugte Kind mit auf. Schreckliche Eheszenen konnten aber nicht ausbleiben. Man kann sie als moderne Frau bezeichnen, die zugleich sehr altmodisch dachte. So war sie gegen das Frauenwahlrecht. In Erinnerung blieb Zeitgenossen und Freunden wie G.B. Shaw oder H.G. Wells die rauchende Frau in wallenden Gewändern, die auch manchmal ohnmächtig wurde und sich aktiv in der Fabian Society, einer Gesellschaft für sozialistische Reformen einsetzte.
Als Kind hatte sie früh den Vater verloren – eine Verlustgeschichte, die sie auch in der Phantasie immer wieder verfolgen sollte. Mit der Mutter und der Familie lebte sie eine Zeitlang in Frankreich, später in Düsseldorf. Dort machte sie sich unbeliebt, als sie mit einer Freundin bei Beginn des Deutsch-Französischen Kriegs 1870 die Marseillaise sang (Briggs, A Woman, 25). Als schreibende Frau bewegte sie sich in intellektuellen Kreisen, war aber immer auch finanziell in Schwierigkeiten. Das führte möglicherweise zu einer großen Produktivität, mit der sie Gedichte, Pamphlete, Romane, Erzählungen für Kinder wie Erwachsene hervorbrachte. Auch Weihnachtskarten entwarf sie, poetische Bemalungen und vieles mehr, das sich verkaufen ließ. Nach dem Tod von Hubert Bland heiratete sie einen pensionierten Seemann namens Tom Tucker.
Nach dem Bild, was uns ihre Kinderbücher von der Autorin vermitteln, müsste sie heiter, unschuldig-naiv und witzig gewesen sein. Zudem konnte sie gut und spannend erzählen. Das ist aber sicher nur die halbe Wahrheit. Denn ihr Werk besteht ebenso zu einem guten Teil aus Horror- und Gespenstergeschichten. Weiß man dies einmal, entdeckt man auch in den Kinderbüchern Abgründe und unheimliche Dinge. Man denke etwa an The Enchanted Castle (1907), in dem steinerne Dinosaurier nachts lebendig werden, Figuren aus Besen und Kleidern ein Eigenleben zu führen beginnen und man durch den Gebrauch eines Zauberrings nicht nur ganz, sondern auch halb oder ein Viertel unsichtbar werden kann. Diese magischen Vorgänge rühren an psychische Zustände und stammen aus dem Keller der Ängste, den wir dem Unbewussten zurechnen.
Ihr Erfolg als Kinderbuchautorin verdeckte ihre anderen Werke. Darin erlitt sie ein ähnliches Schicksal wie Sir Arthur Conan Doyle oder G.K. Chesterton, deren erfolgreiche, aber allzu fleißige Detektive alles andere in ihrer literarischen Produktion, sehr zum Leidwesen ihrer Schöpfer, in den Schatten stellten. So publizierte Nesbit auch Romane, die man als frühe „chick-lit“ bezeichnen könnte, Geschichten über die Liebestrubel junger Frauen und Mädchen. Als Beispiel mag Daphne in Fitzroy Street (1909) dienen. Völlig in Vergessenheit geraten sind ihre zahlreichen Gedichte, ihre Pamphlete der 1880er Jahre, in denen sie sich für den Reformsozialismus der Fabian Society einsetzte. Ein wenig bekannter geblieben sind ihre Bücher über magische Städte, ihre Drachengeschichten oder auch ihre Gedanken über Phantasie, Kreativität und Spiel mit Kindern, die sie in Wings and the Child, or, The Building of Magic Cities (1913) niederlegte.
Die Brücken ins Unheimliche, die wir in ihren phantastischen Kindergeschichten finden – so auch in The Magic World (1912) – verweisen auf die Doppelnatur ihrer Phantasie, die sowohl von Glückssuche wie von Alpträumen genährt wird. Sehnsucht und Angst gehen eine enge, oft unauflösliche Partnerschaft ein. Aus ihrer Autobiographie Long Ago When I Was Young (1896/97) ist zu erfahren, dass Edith Nesbit seit ihrer Kindheit von Angstvorstellungen geplagt wurde. So berichtet sie über einen Besuch bei den Mumien von St. Michel in Bordeaux, die sie ein Leben lang nicht vergessen hat (Nesbit, Long Ago 58ff.). Ein Spaziergang im Park des Londoner Kristallpalastes brachte sie mit Dinosauriern zusammen, die Prinz Albert hatte aus Beton hatte anfertigen lassen, auch diese blieben unvergesslich und suchten sich ihren Weg in das späte Kinderbuch The Enchanted Castle. Mit Angst erfüllte sie es auch, wenn sie als Kind in großen dunklen Zimmern schlafen musste, in denen vielleicht auch noch ein Gaslicht leuchtete, das dann langsam erlosch oder von unsichtbarer Hand abgedreht wurde. Als sie in einem solchen Zimmer einmal nachts aufwachte, sah sie Skelette um sich. Sie behauptete auch, als Kind in zwei verspukten Häusern gelebt zu haben. Außerdem litt sie an zwei Phobien: erstens, dass die Toten auferstehen könnten und zweitens, dass sie selbst lebendig begraben werden könnte – zwei Ängste, die sie mit einem anderen Meister des Horrors teilte, Edgar Allan Poe. Um ihre Kinder vor ähnlichen Phobien zu schützen, griff sie zu zweifelhaften Mitteln: Sie stellte nämlich einen Schädel mit Knochen im Haus auf. Dabei blieb sie selbst höchst abergläubisch. Wenn sie Gespenstergeschichten schrieb, konnte sie oft vor Angst nicht ins Bett gehen (Briggs, A Woman 174).
In den 1880ern begann sie solche Geschichten zu schreiben. Das Genre war in der viktorianischen, insbesondere spätviktorianischen Epoche zu einem gewinnträchtigen Produkt geworden. Fast alle großen Autorinnen und Autoren der Zeit – von Charles Dickens, Wilkie Collins und Amelia Edwards bis zu den Brontës und Oscar Wilde – übten sich in ihm oder wollten einfach Geld verdienen. Die Gespenster- und Horrorgeschichte war das ideale Medium, das aus dem Modernisierungsprozess Verdrängte zu verarbeiten, wenn auch oft nur in einer sensationalistischen Form, die auf schnelle Bedürfnisbefriedigung zielte. Dazu war das Zeitschriftenformat natürlich ideal. Nesbit brachte in der Folge eine Reihe von Bänden heraus, in denen die Beiträge gesammelt waren: Something Wrong (1893), Grim Tales (1892), Tales Told in Twilight (1897) oder Fear (1910).
Nesbit musste viel schreiben, um die Familie durchzubringen. Neben den Kinderbüchern waren es vor allem die Horrorgeschichten für die neue Unterhaltungskultur, die dank der Schulpflicht viele neue Leser fand, mit denen sie Geld verdiente. Aber das Medium half ihr auch, ihre eigenen Ängste zu thematisieren. In den Kinderbüchern tritt immer wieder Humor helfend zur Seite, doch darauf wird in diesen Erzählungen meist verzichtet. Nicht nur Kindheitsängste tauchen auf, sondern sie scheint auch ihre Eheerfahrungen verarbeitet zu haben.
Viele Geschichten behandeln vertraute Typen der populären Schauerliteratur. Da dürfen Spukhäuser nicht fehlen, nächtliche Erscheinungen, Skelette und Gräber. Auch Drogen spielen eine Rolle, nicht zuletzt aufgrund des großen Erfolges, den Stevensons Dr Jekyll and Mr Hyde (1886) hatte; man erinnert sich, es ist eine Droge, die den anständigen Mann nachts in ein Biest verwandelt. Alchemistisches Gedankengut vermischt sich mit kruder Psychologie oder auch mit Ideen des Übermenschen, etwa in „The Three Drugs“, in der solch ein „superman“ erschaffen werden soll. Möglicherweise ist hier Nietzsches Konzept schon den Weg aller Ideologie gegangen, nämlich in die Niederungen der pulp fiction. An Nesbits Begegnung mit den Mumien in Frankreich erinnert das grausame Spiel in einem Wachsfigurenkabinett („The Head“). Weitere Themen sind Vampirismus („The Haunted House“), Hypnose („Hurst of Hurstcote“), Vorahnung („The Mystery of the Semi-Detached“), die eingesperrte verrückte Frau („The Letter in Brown Ink“) oder die Rückkehr eines Toten („In the Dark“). Auch die Traumatisierung durch einen Autounfall wird behandelt („The Violet Car“).
Einen wichtigen Strang bilden jedoch Erzählungen, die mit den Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu tun haben. Im Folgenden möchte ich zwei Beispiele etwas genauer anschauen. Zunächst die Erzählung „Man-Size in Marble“, die 1893 in Grim Tales erschien (Nesbit, Power 17-28). Der Titel verweist auf marmorne Männlichkeit, und darin mag sich schon eine Kritik an patriarchalischen Gesellschaftsformen ankündigen: steif, aber tot oder gar tötend. Jack und Laura sind arm und jung verheiratet, aber unendlich glücklich. Es ist, als schreibe Nesbit ein Märchen weiter, das gerade ein gutes Ende gefunden hat. Laura schreibt wie die Autorin, allerdings Gedichte, Jack malt (vor allem Porträts von ihr). Auf der Suche nach einer günstigen Bleibe finden sie ein erstaunlich billiges Landhaus. Dort bekommen sie zu allem Glück noch eine alte Haushälterin dazu, eine Mrs Dorman. Die ersten Tage sind reines Idyll und Glück, sie verbringen sie mit Malen und Schreiben und Spaziergängen. Mrs Dorman nimmt ihnen alle Arbeit ab und erzählt dabei noch Legenden, die sogleich schriftstellerisch verwendet werden. Welch glückliches Leben! Doch dann geschieht etwas, das dieses Glück im Keim ersticken wird. Es kündet sich harmlos an.
Mrs Dorman muss sie plötzlich verlassen, um eine kranke Verwandte zu besuchen, es ist um Halloween herum. Laura ist sogleich beunruhigt, müsste sie jetzt doch selber den Haushalt machen. Die beiden gehen spazieren, um sich zu beraten. Dabei besuchen sie die alte Dorfkirche und finden dort zwei Ritterfiguren in Marmor – böse Gestalten, die einst das Haus der beiden Glücklichen bewohnten, wie man ihnen sagt. Nun stellt sich heraus, dass es eine Sage gibt, nach der die beiden Bösen jährlich auf Halloween für eine Nacht zurück in ihr Haus gehen. Am nächsten Morgen, so die Sage, seien die Bewohner regelmäßig tot gewesen. Die Informationen spitzen die Lage zu, denn Mrs Dorman will genau zu dieser Zeit zu ihrer Verwandten gehen.
Und so nehmen die Dinge ihren Lauf. Dennoch verdrängt der Mann zunächst die Sage, als Halloween gekommen ist. Obwohl Laura abends sehr beunruhigt ist, geht Jack, möglicherweise um Ruhe zu demonstrieren, eine Pfeife rauchen und wandert in der Dunkelheit zur Kirche. Da hört er mit einem Mal schwere Schritte – sind es die der Marmorfiguren? Er prüft gleich in der Kirche nach: Tatsächlich, die Ritterstatuen sind nicht mehr da! Stattdessen kommt ihm der Dorfarzt entgegen, der, rational wie er ist, ihn tröstet, er sei ein wenig am Halluzinieren, der Tabak und der Abend und überhaupt. Zusammen gehen sie wieder in die Kirche, und in der Tat, die Figuren sind wieder da. Für den Arzt ist es ein klarer Fall von zeitweisem Kontrollverlust und Einbildung, jedenfalls ein medizinisch zu erklärender Fall von Selbsttäuschung.
Nach dieser Überprüfung seiner morbiden Phantasien durch einen Arzt, kehrt Jack erleichtert zurück. Doch zuhause findet er Laura am Fenster liegen, mit einem erstarrten Schrecken im Gesicht, als habe sie etwas ganz Furchtbares gesehen – und sie ist tot. In ihrer Hand hält sie einen marmornen Finger.
Wie so manches Mal bei Nesbit, ist auch hier der Erzähler ein Mann. Das mag als Anbiederung an viktorianische Konventionen erscheinen, jedoch garantierte ein männlicher Erzähler viktorianischen Lesern Ernsthaftigkeit und Autorität – mit demselben Argument gaben sich viktorianische Autorinnen auch männliche oder geschlechtlich unbestimmte Pseudonyme, wie etwa Charlotte Brontë als Currer Bell oder Mary Ann Evans als George Eliot. Auch E. Nesbit benutzte als Autorin nur die Initiale E., um auf dem literarischen Markt geschlechtlich undefinierbar zu bleiben. Gerade in der epistemologischen Unsicherheit, die Geistergeschichten vermitteln, mag diese Autorisierung von besonderer Bedeutung sein.
Der marmorne Finger stellt natürlich eine steilste Vorlage für die Psychoanalyse dar. Reden wir also von Beziehungen. Eine ideale Heirat findet statt, Glück im Übermaß. Diese wird gefährdet nicht so sehr durch Gespenster als durch Hausarbeit für die Frau, mit anderen Worten durch einen sozialen Abstieg der Familie. Denn wenn die Frau arbeiten muss, bedeutet das, dass der Mann ihr keine Haushälterin mehr bezahlen kann – ein Armutszeugnis für einen Vertreter der oberen Mittelschicht in der viktorianischen Zeit. Die kurzfristig gegebene Gleichstellung von Mann und Frau, die einem bescheidenen Wohlstand zu verdanken war, findet ihr Ende, als die Haushälterin wegzieht. Die künstlerisch veranlagte Frau muss ihre Lyrik zurückstellen, um im Haus zu arbeiten und das kann unter gewissen kulturellen Umständen eine Tragödie sein.
Nach dem Wegfall der Haushälterin Mrs Dorman ist die Frau von vier Männern umgeben: dem Ehemann, dem Arzt und den zwei Marmorfiguren. Am Abend der Katastrophe hat der Ehemann die Legende vergessen, er bemerkt nicht die Unruhe seiner Frau, die ihn halten möchte, sondern geht lieber seine männliche Pfeife rauchen. In diesem Gegensatz lässt sich eine viktorianische Komponente der geschlechtlichen Beziehungen erkennen, wie Vanessa D. Dickerson sie in Bezug auf Margret Oliphant, eine andere viktorianische Gespensterautorin, festgehalten hat: „The women as opposed to the more worldly men prove either more receptive or more credulous of the supernatural.“ (Dickerson, Victorian Ghosts, 143)
Jack besucht die Marmorritter und trifft den Dorfarzt, er begibt sich also in männliches Terrain. Sie verbünden sich in gewisser Weise, indem sie auf symbolischer Ebene gemeinsam den Tod der Frau herbeiführen: der Ehemann durch Vernachlässigung, der Arzt durch das Fehlen von Verständnis für die Psychologie des Aberglaubens und die Macht der Gefühle und Legenden, und die beiden Marmorfiguren schlicht durch Gewalt. Nesbit macht hier drei Faktoren patriarchalischer Gesellschaft dingfest, indem sie einen recht naiven Erzähler konstruiert, der die Glücksfassade nicht durchschaut. Diese Faktoren sind Vernachlässigung im Sinne von Mangel an Empathie, Gefühllosigkeit und Gewalt. Der Marmor, der die brutale Männlichkeit ausdrückt, ist aus dem Mineral, das Banken, Gräber und Opernhäuser ziert; man könnte geradezu von einer Marmorsexualität sprechen. So wie diese hält es Institutionen und Rituale des patriarchalischen Lebens zusammen. Aber selbst „Marmor, Stein und Eisen bricht.“ In diesem Fall bricht die Liebe als kurzzeitige und utopische Verbindung von Romantik und gesellschaftlicher Gleichstellung blitzschnell auseinander. Nur um den Preis des Todes kann die Romantik noch gerettet werden.
Der Name der Haushälterin, Dorman, enthält weitere symbolische Facetten. Sie stellt eine Art Hüterin der Türschwelle dar. Sie gehört zum Haus und bereitet den Erfahrungsraum des Schreckens vor, indem sie genau zum Zeitpunkt der höchsten Gefahr das Haus verlässt und die beiden ihrem Schicksal anheimstellt. Damit steht sie am Tor zur Totenwelt und ist eine Art Botin des Jenseits.[1]
Eine ähnliche Verknüpfung von Beziehungspsychologie und Unheimlichkeit gilt für Nesbits Erzählung „John Charrington’s Wedding“ (Nesbit 77-83). Hier berichtet ein Erzähler (der Brautzeuge) über die vergeblichen Heiratsanträge seines Freundes John Charrington. Die von ihm angehimmelte Frau namens May Foster macht sich schon lustig über diese merkwürdige Angewohnheit ihres Verehrers, den sie gar nicht zu lieben scheint. Doch eines Tages, wie aus heiterem Himmel, lädt John seine Freunde zu ihrer Verblüffung zu seiner Hochzeit mit May ein. Man fragt sich, wie er das nur hingekriegt hat, zumal die Braut jetzt auch Zeichen der Verliebtheit zeigt. Der Erzähler aber weiß mehr, als seine Freunde ahnen. Er hat nämlich das Paar zufällig einmal abends auf dem Friedhof belauscht. Vor diesem Hintergrund hörte er, wie John versprach, dass er sogar von den Toten auferstehen würde, falls sie zur Hochzeit bereit wäre.
Die Hochzeit findet also statt, allerdings muss der Bräutigam John kurz zuvor einen sterbenden Freund aufsuchen. Der Erzähler als Brautzeuge wartet ungeduldig auf die Rückkehr, die Hochzeit wird jede Minute beginnen, er fährt zum Bahnhof, doch John kommt auch mit dem letztmöglichen Zug nicht an. Als der Erzähler zurück zur Kirche eilt, ist John inzwischen doch eingetroffen, genau auf die Minute, aber er ist völlig bleich und sieht geradezu unirdisch und angeschlagen aus. Das Paar steigt in die Hochzeitskutsche. Als diese aber am Haus der Hochzeitsgesellschaft ankommt, machen die Gäste eine furchtbare Entdeckung: Johns Platz ist leer, nur ein weißer Schleier ist zu sehen und darunter sitzt die tote Braut, nun mit ganz weißen Haaren. Ein Telegramm wird gebracht und man liest darin:
John Charrington starb in einem Unfall auf dem Weg zum Bahnhof um halb zwei. Die Hochzeit fand jedoch später statt, nämlich um halb vier. In diesem Moment erinnert sich der Erzähler an den Ausspruch den John auf dem Friedhof gemacht hatte: „I shall be married on Thursday, dead or alive!“ (Nesbit 83)
Die Geschichte erinnert an E.T.A. Hoffmanns „Bergwerke von Falun”, in der die ewige Treue der Liebenden über den Tod hinaus gefeiert wird. Bei Nesbit werden die beiden zusammen auf dem Friedhof begraben, der der Ort des Treueschwurs war. Aber auch hier hat der Mann die Beziehung zur Frau zuvor symbolisch in Gefahr gebracht, vielleicht auch bringen müssen, indem er seine doch schwer errungene Heirat aufs Spiel setzt, um einem sterbenden Freund beizustehen. Auch ein Gelübde, das auf dem Friedhof gesprochen wird, zeigt eine inhärente Todesdrohung an, die mit der Heirat verbunden ist. Im Grunde lautet die Aussage: Für uns beide ist Heiraten eigentlich nicht möglich, allenfalls im Tod. Für John war May die große Jagdbeute – aber eben nur unter dem Versprechen des Todes –, während für sie die Ehe ebenso nur möglich war aufgrund eines Meinungsumschwunges, der durch ein Todesversprechen entstand. Zwei Menschen, die eigentlich nicht für die Ehe gemacht sind, zwingen sich zu einer Heirat. So mag auch E. Nesbit oft über ihre Ehe mit Hubert Bland gedacht haben. Der Ausweg aus dem Dilemma war das Schreiben. Es ist kein Wunder, dass sich in eben dieses Schreiben von unheimlichen Geschichten die Unheimlichkeit nicht nur ihrer eigenen Beziehung, sondern des Heiratsvertrags in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Unruhe und Mobilität generell hineinschleicht. Vielleicht enthalten die gespenstischen Rätsel auch Aussagen über den Zustand der Monogamie im viktorianischen Großbritannien, über die unmöglichen Zusagen, die sich Menschen unter dem Druck von Gefühl und Konvention machen.
Nesbits Geschichten sind in vieler Hinsicht konventionell – Motive wie Erzählstandpunkt oder auch der männliche Erzähler. Aber sie haben auch ein gehöriges emotional-symbolisches Potential, so dass man sie als Brücken zu einer neuen, eher psychologisch getönten Geisterliteratur, etwa zu den Erzählungen einer May Sinclair (1863-1946), sehen kann, wie ja Nesbits Werk insgesamt eine Brücke zwischen Viktorianismus und Moderne darstellt.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweise:
Nesbit, Edith: Wings and the Child, or, The Building of Magic Cities. London 1913.
Nesbit, Edith: The Power of Darkness. Tales of Terror. Ed. David Stuart Davies. Ware 2006.
Nesbit, Edith: Long Ago When I Was Young. New York 1987.
Briggs, Julia: A Woman of Passion. The Life of E. Nesbit 1858-1924. London 1987.
Coward, Noël: The Letters of Noël Coward. Ed. Barry Day. New Yor 2009.
Dickerson, Vanessa D.: Victorian Ghosts in the Noontide. Columbia/Missouri: University of Missouri Press 1996.
[1] Nesbits Geschichte hat als Vorlage den Ort Brenzett in den Romney Marshes/Kent, der Gegend, in der auch sie lebte. Im Jahre 2012 suchten Nesbitleser diesen Ort auf und machten dabei folgende Erfahrung: „When we first visited Brenzett the church was locked. We returned a couple of days later to find it opened for cleaning/flower arranging. This was being carried out by a Mrs Dorman, who was pleased to tell us that she shared a name with the housekeeper of the story. Or maybe she was just another of Edith Nesbit’s ghosts sent to allow us to disturb the slumbers of the sleeping knights, who, at first sight were safely lying on their marble bed. But I would not wish to return on All Saints‘ Eve.”
http://booksinwernicke.blogspot.de/2012/10/edith-nesbit-tales-of-terror.html (Zugriff 25.7. 2016)
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