Der MYTHO-Blog gratuliert … Versprengte Nacht – Wolfgang Hilbig zum 80. Geburtstag

„So viel der Guten hab ich überlebt – Erbarmen!
Daß ich mir Jahre nahm die ihnen zur Vollendung fehlten –
so viele Todesstunden überstand ich und aus keiner
hinterblieb ich weise
niemals lernt ich draus auf meiner Bahn.
Nicht ich bin einer jener nachtverwehrten Armen
die tauben Ohrs die Welt verließen schweißbedeckt und kalt
die Oberwelt:
bin keiner dieser schönen allzu früh Entseelten –
ich blieb zurück und nach mir schlug der Wahn …
auch er schlug fehl: ich bin des Zufalls schiere Ungestalt –
und nun müßt
Ihr mich überstehn: erbarmt euch meiner!“

(Wolfgang Hilbig, Der Zufall, Gedicht zu meinem 60. Geburtstag)

Am 31. August 2021 hätte der Schriftsteller Wolfgang Hilbig (1941-2007) seinen 80. Geburtstag begangen und man mag darüber spekulieren dürfen, was er, der wie kein anderer Dichter sowohl im realen Leben wie auch in seinen Texten stets dazwischenstand, ohne in diesem Dazwischen je greifbar zu werden, zu seinem Ehrentag zu sagen gewusst hätte. Sein Gedicht „Der Zufall“ lässt den Zwiespalt erahnen. Vieles ist er gewesen, der in Meuselwitz im Altenburger Land Geborene. Ein Lesender. Ein Schreibender. Ein Suchender. Ein Boxer. Ein Arbeiter. Ein Trinker. Ein Flüchtender. Ein Getriebener. Ein Nachtsüchtiger. Ein Literaturverliebter. Einer, der stets gegen sich selbst angeschrieben hat, aber auch gegen seine Umwelt, gegen das Land, in dem er lebte (die DDR), das für ihn zeitlebens Wurzel seines Schaffens war und das ihm doch gleichzeitig fremd und verhasst blieb; auch nachdem ihm die Behörden die Ausreise in den Westen gestattet hatten. Die wichtigsten literarischen Auszeichnungen der deutschsprachigen Literatur wurden Hilbig und seinen Werken (Prosa, Lyrik, Essayistik) verliehen; dabei bildete doch eines den Mittelpunkt seines Schaffens: die Worte, die Sprache, der „Sinn aller Runen“, den es zu kennen und vor allem zu erkennen galt. „Niemand wußte gut genug, was man wissen durfte, und niemand wußte gut genug zu wissen. […] Niemands Wissen klapperte hölzern und monoton an der Schädeldecke der Erde.“

Viel hat Hilbig zurückgelassen, viel, was zwischen den Zeilen steht, vieles, das sich erst bei mehrmaligem Lesen erschließt und sich dem Mainstream verschließt, der Informationen unmittelbar zugänglich und auf den Punkt gebracht haben möchte. Hilbig zu lesen ist manchmal wie einen Kaktus zu umarmen und im fremdartigen Stacheln gleichzeitig getröstet zu sein, und manchmal ist es einfach wie in einem Fluss zu treiben, von dem man nicht weiß, wohin er einen bringt, und dabei das Herz der Zeit zu spüren.

Man muss nicht viele Worte um Hilbig machen. Es reicht, ihm zu lauschen, und vielleicht ist es genau das, was in all den Nächten an Küchen- und Schreibtischen sein ureigener Antrieb war.

„Und weiter schwimmend durch die Sonneneinfälle der großen Laterna magica aus Wasser. Und in großer Runde über versunkene Gärten und Mühlen, und weiter wie versunkenes Rauschen in großer Runde, und nachts erneut wie der unablässige Umzug untergegangener Eisenbahnen. Alte Abraucherei, alte Abklopferei an den unterirdischen Ufersteinen vorbei, klappernd über die Schwellen, über die Schienenschläge, lärmbedeckte Steckenfechterei, Lärmen erdüberdachter Absteckerei: alte Abdeckerei … Altdeckerei … Alteckerei … Alteckerei … Alterei … Und endlich an einigen untergegangenen Ruinen vorüber, an Germania II vorüber, wo in der Flut die Sternbilder spielen, wo die Minotauren weiden.“

Ein Beitrag von Constance Timm


Zitierte Textstellen:

Wolfgang Hilbig Werke. Bd. 1. Gedichte. hrsg. v. Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. S. Fischer Verlag: Frankfurt, 2008.

Wolfgang Hilbig. Alte Abdeckerei. Fischer Taschenbuch Verlag: 3. Aufl. Frankfurt, S. 2009.


Mehr zu Hilbig und zum Internationalen Wolfgang-Hilbig-Jahr 2021/22 unter:

https://wolfgang-hilbig.de

https://hilbig-jahr-2021.de


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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