Vergessene Götter: Manitu erschuf die Welt

Karl May hat durch seine Romane bei uns die Vorstellung geprägt, alle nordamerikanischen Indianer glaubten an eine zentrale Gottheit namens Manitu. Tatsächlich jedoch kennen die Mescalero-Apachen, der Stamm von Mays fiktivem Häuptling Winnetou, keinen Gott dieses Namens. In einem „ZEIT“-Interview antwortet der Medizinmann Kaydahzinne auf die Frage: „Manitu? ‚Nie gehört. […] Unser Schöpfer heißt Bik’egu’in Dán’“ (Sußebach 2012).

Manitu ist ein Begriff aus den Sprachen der Algonkin-Indianer und bedeutet soviel wie „Geist“. Er taucht erstmalig Ende des 16. Jahrhunderts in europäischen Berichten über das östliche Nordamerika auf und wird manchmal mit „Gott“, manchmal mit „Teufel“ übersetzt. Roger Williams berichtet 1643 von den Narragansett, es sei „ein allgemeiner Brauch unter ihnen, beim Anblick irgendeiner herausragenden Eigenschaft in Männern, Frauen, Vögeln, Tieren, Fischen etc. Manittóo, ein Gott, auszurufen; und wenn sie untereinander von den englischen Schiffen und großen Gebäuden sprechen, vom Pflügen ihrer Felder, und besonders von Büchern oder Briefen, so schließen sie: Manittówock, sie sind Götter“ (zit. in Feest 1998, S. 74).

Von besonderem, wenn auch nicht unproblematischem Einfluss für das Verständnis des Wesens von Manitu war die Dynamismus-Debatte der Zeit um 1900. Manitu wird danach als eine unpersönliche, außerordentlich wirksame Kraft verstanden, die in allen Wesen, Dingen, Tätigkeiten und Erscheinungen enthalten ist. Ähnliche Eigenschaften wurden dem orenda der Irokesen und dem wakan der Lakota zugeschrieben.

Bei den nördlichen Algonkin kam Manitu nur im Singular vor, im Sinne einer „obersten Macht“. Für die südlichen Ojibwa und andere Algonkin-Völker im Gebiet der Großen Seen dagegen waren die Manitus unberechenbare Wesen, die in menschlicher oder nichtmenschlicher Gestalt auftreten und den Menschen helfen oder schaden konnten. Schamanen, die als Mittler zwischen den Geistern und den Menschen fungierten, nahmen mit ihnen Kontakt auf. Träumern und Visionären offenbarten sie sich als Schutzgeister und konnten im Gegenzug für erwiesenen Respekt spezielle Kräfte oder Fähigkeiten verleihen.

Kitchi-Manitu und der christliche Gottesbegriff

Kitchi-Manitu bezeichnet bei den Ojibwa und anderen Algonkin-Stämmen das höchste spirituelle Wesen, das über sämtlichen übrigen Geistwesen steht. Der Name bedeutet wörtlich „Großer Geist“. Es war Kitchi-Manitu, der nach dem Glauben der Ojibwa die Welt erschuf. Kitchi-Manitu ist wohlwollend, bleibt aber eine abstrakte Figur im Vergleich zu anderen spirituellen Wesen der Algonkin. Er ist selten, wenn überhaupt, personifiziert. Ursprünglich hatte Kitchi-Manitu nicht einmal ein Geschlecht, obwohl man mit der Einführung der englischen Sprache und ihrer geschlechtsspezifischen Pronomen begann, Kitchi-Manitu als „er“ zu bezeichnen. Der deutsche Ethnologe Werner Müller geht davon aus, Kitchi-Manitu sei als Höchstes Wesen mit der Summe des der Welt innewohnenden Übernatürlichen gleichgesetzt worden.

Der Begriff Kitchi-Manitu wurde bereits im 17. Jahrhundert von christlichen Missionaren bei der Verbreitung ihrer Lehre benutzt, die damit bei vielen Algonkin-Stämmen Erfolge verzeichnen konnten. In Bibelübersetzungen und Katechismen ist Kitchi-Manitu (oder eine seiner vielen abweichenden Schreibweisen) die Übersetzung für das Wort „Gott“. 

Abb. 1 : Johannes 1, 1-6 in Cree-Schrift, Kicemanito gelb hervorgehoben

Es ist sehr wahrscheinlich, dass der christliche Einfluss direkt oder indirekt auch die Vorstellungen von einem Höchsten Wesen bei den Algonkin mitgeprägt hat. Viele betrachten Kitchi-Manitu und den christlichen Gott heute als ein und dasselbe. Als „Großer Geist“ ist Manitu auch in den panindianischen Sprachgebrauch eingegangen, in dem er eine „indianische“ Version eines persönlichen Schöpfergottes verkörpert, die von dem christlichen Gott aufgrund seiner Zuständigkeit für die Ureinwohner Amerikas unterschieden wird.

Der Ausdruck Matchi-Manitu („Böser Geist“) bezeichnet in vielen Bibelübersetzungen den Teufel. Bei den Mi’kmaq übertrugen katholische Missionare die Bedeutung des Wortes für „Geist“ mntu, der Mi’kmaq-Entsprechung von Manitu, auf den Gegenspieler Gottes. Dies wird als erhebliches Hindernis für eine Wiederbelebung der Mi’kmaq-Kultur betrachtet, da gläubige Stammesmitglieder fürchten, durch Anbetung des Teufels mntu in die Hölle zu kommen und daher eine Rückbesinnung auf ihre kulturellen Traditionen ablehnen.

Schöpfungsgeschichte der Ojibwa

Vor langer Zeit hatte Kitchi-Manitu eine Vision. Er sah den Himmel bedeckt mit Sonne, Erde, Mond und Sternen. Er sah die Erde mit Bergen und Tälern, Inseln und Seen, Ebenen und Wäldern. Er sah Bäume und Blumen, Gräser und Früchte. Er sah alle Arten von Lebewesen laufen, fliegen, kriechen und schwimmen. Er sah Geburt, Wachstum und Tod. Und er sah, dass einige Dinge weiterlebten. Kitchi-Manitu hörte Lieder und Geschichten, er berührte Wind und Regen, er erlebte jedes Gefühl und er sah die Schönheit in jedem dieser Dinge.

Nach seiner Vision schuf Kitchi-Manitu Felsen, Wasser, Feuer und Wind. In jedes hauchte er Leben und jedem gab er ein anderes Wesen und andere Eigenschaften. Aus diesen vier Elementen schuf Kitchi-Manitu Sterne, Sonne, Mond und Erde. Kitchi-Manitu verlieh jedem besondere Kräfte. Der Sonne gab er die Kraft des Lichts und der Hitze. Der Erde gab er Wachstum und Heilung. Dem Wasser gab er die Kraft zu reinigen und zu erneuern. Und dem Wind gab er Musik und den Atem des Lebens selbst.

Auf der neuen Erde schuf Kitchi-Manitu Berge, Täler, Ebenen, Inseln, Seen, Buchten und Flüsse. Alles hatte seinen Platz auf der neuen Erde. Dann machte Kitchi-Manitu die Pflanzenwesen. Es gab vier Arten: Blumen, Gräser, Bäume und Früchte. Jeder Pflanze gab er den Geist von Leben, Wachstum, Heilung und Schönheit. Und er platzierte jede dort, wo sie am nützlichsten wäre und der Erde die größte Schönheit und Harmonie und Ordnung verleihen würde.

Nach den Pflanzen schuf Kitchi-Manitu die Tiere, wobei er jedem besondere Kräfte und Eigenschaften verlieh. Es gab Zweibeinige, Vierbeinige, Geflügelte und Schwimmer. Zuallerletzt schuf Kitchi-Manitu den Menschen. Obwohl der letzte und schwächste von seiner Schöpfung, wurde ihm das größte Geschenk von allen gegeben – die Kraft zu träumen.

Kitchi-Manitu hatte seine Vision zum Leben erweckt.

Sakrale Topographie

Manitu hat den Weg in die Namen mehrerer Orte in Nordamerika gefunden. Der Name des Manitobasees, nach dem die kanadische Provinz Manitoba benannt ist, leitet sich von manitou-wapow (Cree) oder manidoobaa (Ojibwa) ab, was soviel wie „Straße des Manitu“ bedeutet. Dieses Toponym bezieht sich auf ein Gebiet in der Mitte des Sees, das heute unter dem Namen The Narrows bekannt ist. Es heißt, dass sich Manitu in dem seltsamen Geräusch offenbart, das entsteht, wenn die Wellen gegen die Felsen dort schlagen.

Manitoba ist auch die Heimat der Whiteshell Provincial Park Petroforms, von Menschen angeordneten Steingruppen, die als Erinnerung an die Anweisungen dienen, die den Anishinabe vom Schöpfer gegeben wurden. Die Mitglieder des Midewiwin, der Großen Medizingesellschaft der Anishinabe, betrachten das Gebiet mit den Petroformen als Manito Ahbee, den Ort, an dem Gott sitzt. Es ist der Platz, an dem der Schöpfer den ersten Anishinabe vom Himmel auf die Erde herabsetzte.

Abb. 2: Petroformen im Whiteshell Provincial Park, Manitoba, Kanada

Die Insel Manitoulin im Huronsee in der kanadischen Provinz Ontario wurde von den Odawa Mnidoo Mnis („Insel des Manitu“ oder „Geisterinsel“) genannt. Für die Anishinabe war die Insel immer heiliges Gebiet, sie gilt als Heimat von Kitchi-Manitu – als der Ort, von wo aus er das Universum schuf.

Eine Legende, die den Ojibwa zugeschrieben wird, erklärt den Ursprung der beiden Manitu-Inseln und der Sleeping Bear Dunes im heutigen US-Bundesstaat Michigan. Vor langer Zeit versuchte eine Bärin mit ihren beiden Jungen den Michigansee zu überqueren, um einem großen Waldbrand zu entkommen. Die Bärenmutter erreichte das gegenüberliegende Ufer, aber ihre Jungen blieben zurück und ertranken in dem See. Der Große Geist bedeckte sie mit Sand und schuf so die beiden Inseln – North Manitou Island und South Manitou Island. Winde begruben die schlafende Bärenmutter unter dem Sand der Dünen, wo sie bis heute auf ihre Jungen wartet.

Ein Beitrag von Dr. Claudia Roch


Literaturhinweise:

Bender, Herman E. „The Spirit of Manitou Across North America“, in: Dragos Gheorghiu (Hrsg.), Archaeology Experiences Spiritualiy? Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2011, S. 143-177.

Feest, Christian F. Beseelte Welten. Die Religionen der Indianer Nordamerikas. Freiburg / Basel / Wien: Herder, 1998.

Johnston, Basil. Ojibway Heritage. Toronto: McClelland & Steward, 1976.

Sußebach, Henning. „Karl Mays Indianer: Wenn Winnetou das wüsste.“ Die Zeit, 15. März 2012. <https://www.zeit.de/2012/12/DOS-Apachen> (18.01.2021)


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .