„Als die Götter Mensch waren, trugen sie die Mühsal, schleppten sie den Tragkorb. Der Tragkorb der Götter war groß, die Mühsal schwer, übermäßig war die Drangsal. Die großen Anunnaku ließen siebenfach die Igigu die Mühsal tragen. Anu, ihr Vater, war der König; ihr Ratgeber der Held Enlil. Ihr Thronträger war Ninurta, ihr Kanalinspektor Ennugi. Sie fassten die (Los-)Flasche an ihrer ‚Wange‘, warfen das Los, woraufhin die Götter teilten: Anu stieg (sodann) zum Himmel empor, Enlil nahm sich die Erde für seine Untertanen. Die Riegel und die Schlingen des Meeres wurden dem weitsichtigen Enki hingelegt. Diejenigen des Anum stiegen zum Himmel empor, diejenigen des (Grundwassers) Apsu stiegen endgültig hinab. Es waren müßig diejenigen des Himmels, die Mühsal ließen sie tragen die Igigu. Die Götter begannen, Flüsse zu graben – die Wasserläufe der Götter, das Leben für das Land.“ (Als die Götter Mensch waren, Die altorientalische Sintfluterzählung, S. 10)
„Inuma ilu awilum“ – Als die Götter Mensch waren. Die in ihrem Klang so poetischen Eingangsworte aus dem Atramḫasis-Epos, dessen älteste erhaltene Manuskripte bis in die altbabylonische Zeit um 1700 v. Chr. zurückreichen, beschreiben die Schöpfung der Welt, in deren Zuge auch die Menschen erschaffen werden, um den Göttern die Mühsal abzunehmen. Doch nach über tausend Jahren beginnen ihnen die Erdenbewohner überdrüssig zu werden und stören ihren Schlaf. Enlil sendet zunächst die Plagen und im Anschluss die Sintflut über die Erde. Doch gelingt es dem weisen und frommen Atramḫasis, eine Arche zu bauen und einige wenige zu retten. Als der Kult für die Götter durch die Katastrophen schließlich zum Erliegen kommt, beschließen diese, der Menschheit eine weitere Chance zu geben. Aber mit erheblichen Beschränkungen. So kommt u. a. der vorher nicht gekannte Tod in die Welt, denn in der Schöpfung war zuvor festgelegt worden: „Der Gott und der Mensch sollen vermengt werden gemeinsam mit dem Lehm!“
Seit meinem Studienkurs zur akkadischen Sprache vor über zwanzig Jahren sind mir das Epos und sein Beginn im Gedächtnis geblieben, waren sie doch die ersten Worte dieser für uns heute so fernen Sprache überhaupt, die ich gehört habe. Viele Jahrhunderte lang war das Akkadische – zugehörig zu den semitischen Sprachen – nicht nur die Amts- und Volkssprache Mesopotamiens, sondern auch die Diplomaten -und Geschäftssprache des Alten Orients bis nach Ägypten schlechthin, vergleichbar mit dem Latein des Mittelalters oder dem Englischen, der Sprache der modernen Globalisierung. Doch ist es nicht nur die Sprache, die in Vergessenheit geraten ist, auch die mythischen, poetischen und religiösen Zeugnisse jener antiken Zeiten sind – trotz intensiver Bemühungen der Akademiker – heutzutage vielfach unbekannt oder zu bloßen Museumsobjekten degradiert. Das Zweistromland und seine Länder sind dafür medial als Orte des Krieges, des Todes und der Zerstörung umso präsenter. Unglaublich scheint es da fast, dass in dieser Region über 2500 Jahre lang vor allem eines die Kontinuität der stets wechselhaften Geschichte bestimmt hat: die Schrift.
„Alle einwandernden Völker beugten sich dem Gelehrtenwesen, dem Verwaltungswesen, dem Kultgebaren, der städtischen Kultur, einer Zivilisation, die schon die Sumerer bewusst pflegten.“ Neben neuen Kunststilen, neuen Ideen und kulturellen Impulsen waren es auch religiöse Aspekte, die in Mesopotamien einen im wahrsten Sinne des Wortes fruchtbaren Nährboden fanden. „Die Fremden brachten ihre eigenen Götter mit, die zumeist in die schon bestehenden Kulte integriert wurden.“ (Groneberg, S. 14) Die Religionswissenschaft gebraucht dafür den Begriff Synkretismus, was nichts anderes bedeutet als die Verschmelzung von religiösen Vorstellungen und Kulten. „Alte Götter“ wurden auf diese Weise häufig mit neuen Eigenschaften ausgestattet, erhielten mehr Fähigkeit, mehr Befugnisse und spielten sowohl bei Zeremonien als auch in der Anrufung bei Streit, Krankheiten, Unheil, Hochzeiten, Gesundheit etc. eine fast schon dauerpräsente, religiös-gesellschaftliche Rolle. Marduk, Stadtgott von Babylon, ist ein Beispiel solcher einer mesopotamisch-skynkretistischen Gottheit. Der babylonische Schöpfungsmythos „Enuma elisch“ (Übersetzung: „Als oben [der Himmel noch nicht genannt war]“), der zwischen dem zweiten und ersten vorchristlichen Jahrtausends entstanden sein muss, beschreibt nicht nur die Entstehung des Kosmos, sondern auch des Gottes Marduk, der darin zum Herrn aller Götter erhoben wird. Doch diesen Platz wussten auch andere für sich zu beanspruchen. Einer davon war An/Anu.
Wie im Atramḫasis-Epos beschrieben, beruhte die mesopotamische Kosmologie auf den beiden Urelementen Himmel und Erde. Dabei war An (sumerisch) oder Anu (Anum, akkadisch) der oberste Himmel zugedacht. Diesen stellte man sich in Form von Kreisen mit verschiedenen Ebenen vor, die sich durch Tore passieren ließen. Anu galt dabei zunächst als die Personifikation des Himmels selbst und konnte – ähnlich dem Yin und Yang des Daoismus – sowohl männlich als auch weiblich aufgefasst werden, wie eine frühe zweisprachige Auflistung von Götternamen um 2000 v. Chr. belegt. Dort ist Anu in männlicher Gestalt als „Anschar“ belegt und meint „die Gesamtheit des Himmels“. Ihm gegenüber – und doch mit ihm verbunden – ist das weibliche Prinzip „Kischar“, „die Gesamtheit der Erde“. In anderen den Texten wiederum werden An und Antu einander gegenübergestellt oder gelten beide als Nachkommen von Anschar/Kischar. Eine Dualität, die noch im Lehrgedicht „Inannas Erhöhung“ in neubabylonisch-seleukidischer Zeit (um 600 v. Chr.) eine Rolle spielt. An/Anu kann zudem entweder Nachkomme oder Gemahl von Uraš, der sumerischen Erdgöttin, sein. Er ist oftmals sogar mit ihr gleichgesetzt (Black/Green, S. 30). Wie man sieht, ist es mit der Herkunft der Götter des Zweistromlandes nicht immer ganz so einfach. Sie wirken manchmal ungreifbar. Manchmal wie Spiegel. Und manchmal sogar wie die geformten Menschen aus dem Atramḫasis-Epos.
Trotz aller Verwirrnis begriff man An/Anu nicht nur als Personifikation des Himmels, sondern auch als den obersten Himmelsgott des mesopotamischen Pantheons und Vater der mesopotamischen Götter. Ja, er wurde geradezu zum Inbegriff einer Gottheit erhoben. Denn als Gemahl der Erde war er auch Vater und Ursprung der Dämonen, und sein Samen wirkte quasi im Oben (Himmel) wie im Unten (Erde/Unterwelt) fort. (Realenzyklopädie, S. 115) Das Wortzeichen AN (dargestellt in der Keilschrift als ein achtstrahliger Stern) bedeutet denn auch sowohl „Gott“ als auch „Himmel“. Als sumerische Determination (Deut- oder Zusatzzeichen) dingir (in Abkürzung d) erscheint es in Texten zur Kennzeichnung eines beliebigen anderen Götternamens. An/Anu war als Gott im Namen im Zeichen.
Ein An/Anu-Kult ist für die sumerischen Städte Ur, Uruk, Nippur und Der belegt, wo der Himmelsgott (in Uruk und Der) auch als Stadtgott fungierte und dort wohl auch bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. präsent geblieben ist. Ansonsten ist er zwar ein präsenter, aber doch ein relativ ferner, vielleicht sogar unnahbarer Gott. In Hymnen und Preisliedern werden ihm eher verallgemeinernde statt spezifische Eigenschaften zugesprochen. „Da er für die Menschen als Herr der Götter nicht so leicht zugänglich ist, bleibt seine Entrücktheit das Einzigartige, das ihn aus der Reihe der anderen Götter heraushebt.“ (Groneberg, S. 53) Oder wie Blahoslav Hruška es ausdrückt: „Aber obwohl Anu hoch über allen Dingen stand und im Pantheon die hervorragendste Stellung einnahm, konnte er nur im Himmelsbereich regieren.“ (S. 481)
„An, dein erhabenes Wort geht voran, wer sagt dazu
’nein‘?
Vater der Götter, dein Wort ist das Fundament für Himmel
und Erde, welcher Gott wollte dir nicht gehorchen?
O Herr, du bist Herrscher und Berater deiner selbst, was
könnte noch unser Rat sein?“ (Inannas Erhöhung, 7-11, In: Hruška S. 491)
Gemeinsam mit den Göttern Enlil (Sohn des An/Anu, Sturmgott und Herr über die Schicksalstafeln) und Ea/Enki (Fruchtbarkeits-, Regen- und Weisheitsgott) bildete Anu die Trias der mächtigsten und ältesten mesopotamischen Götter. Dies belegen Anrufungen in Riten und Gebeten sowie die Stellung der Drei in der Königsideologie der altbabylonischen Zeit. Die Verleihung der Herrscherinsignien wie Stab und Zepter oblag nur den „großen Göttern“. (Groneberg, S. 56 f.) Darüber hinaus spielte An/Anu in der Astronomie eine nicht unwesentliche Rolle, u. a. in der Keilschrifttafelserie „Enuma Anu Enlil“, welche 70 Tafeln mit ca. 7000 Omen enthält. Diese sind vor allem mit Erscheinungen von Sonne, Mond und Planeten verbunden (u. a. der Weg des Anu, welcher die Fixsterne entlang des Himmelsäquators meint), also jenen Himmelssphären, in denen man sich das Leben und das Wirken von An/Anu vorstellte.
Im Gilgamesch-Epos erschafft er für die Göttin Ishtar den Himmelsstier, ein Fabelwesen, das schließlich von Gilgamesch und seinem Freund Enkidu getötet wird, nachdem der Held eine Vereinigung mit Isthar abgelehnt hatte und sie Rache für die Schmach suchte. Der Stier wird häufig als Tier von An/Anu genannt. Zudem weisen Gelehrte ihm auch die Katze zu. (Reallexikon, S. 117)
Für die Menschen auf der Erde blieb An/Anu allerdings wie schon beschrieben eher ein ferner Gott, der selten künstlerisch dargestellt wurde, geschweige denn eine spezielle Ikonografie oder gar Attribute besaß. Erst in kassitischer (ca. 1475 bis 1145 v. Chr.) und neo-assyrischer Zeit (ca. 911 bis 609 v. Chr.) wurde er entweder mit einer gehörnten Kappe oder Hörnerkrone dargestellt. Auch direkte Gebete an ihn sind eher selten, obwohl er in Riten und Hymnen durchaus Erwähnung fand.
Eine besondere Eigenschaft von An/Anu war es auch, über die „Göttlichkeit“ (hier aufgefasst als Unsterblichkeit, die Mensch und Gott voneinander unterscheidet) zu wachen bzw. diese zu verteilen. Darüber berichtet der Mythos von Anu und dem Urweisen Adapa (ca. 2000 – 1000 v. Chr.): „Die Geschichte handelt von dem Urweisen Adapa, dem ‚Südwind‘ – sehr zum Ärger von Anu – die Flügel bricht. […] Gott Anu wacht über die Vorkommnisse im Himmel. Deshalb nimmt er wahr, dass der Südwind nicht mehr weht und beordert den Verursacher zu sich. Adapa legt Trauerkleider an und hält sich auch in Gegenwart des Gottes Anu an die ihm durch Enki, den Schöpfergott vermittelten Trauerriten, die neben anderem auch Speiseverbote beinhalteten. Anu, der die Befolgung des Trauerritus erkennt, wird milde gestimmt, und bietet dem Weisen die Unsterblichkeit in Form von Brot und Wasser des Lebens an. Der Mensch […] kann das aber nicht verstehen und hält an seiner Trauer fest. Daraufhin lacht Anu ihn aus.“ (Groneberg, S. 57)
Vielleicht kann man sich An/Anu am besten als eine jeder Götter vorstellen, die über alles wacht, die Welt (das Oben und das Unten) zusammenhält, ohne dabei in den Kosmos und in die Schöpfung einzugreifen. Damit wäre er dem transzendenten Gott, den die Juden, die Moslems und die Christen eben „Gott“ nennen, gar nicht so unähnlich. Denn obwohl es Enlil ist, der im Atramḫasis-Epos als Bestrafer der Schöpfung auftritt, so geht doch an einer Stelle hervor, dass auch dieser im Grunde dem Wort des höchsten Gottes unterworfen ist, der sowohl leiten als auch strafen kann.
„Wohin ist (denn) Anu gegangen, der Herr der Anweisungen, dessen Rede die Götter, seine Kinder, gehört hatten? Er, der unüberlegt die Sintflut bewirkt (und) die Menschen zur Katastrophe zusammengebracht hat!“ (Als die Götter Mensch waren, S. 34)
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Literaturhinweise:
Blahoslav Hruška: Das spätbabylonische Lehrgedicht „Inannas Erhöhung“. In: Archiv Orientální 37, 1969, S. 473-522.
Brigitte Groneberg: Die Götter des Zweistromlandes. Kulte, Mythen, Epen. Artemis & Winkler: Düsseldorf/Zürich, 2004.
Jeremy Black/Anthony Green: Gods, Symbols and Demons of Ancient Mesopotamia. An Illustrated Dictionary. British Museum Press 1992.
Reallexikon der Assyriologie, Bd. 1. Erich Ebeling/Bruno Meissner (Hrsg.). Verlag Walter de Gryter: Berlin/Leipzig, 1928, S. 115-117.
Rosel Pientka-Hinz: Als die Götter Mensch waren. Die altorientalische Sintfluterzählung. In: Sabine Frank (Hrsg.). Als die Götter Mensch waren. Eine Anthologie altorientalischer Literatur. Verlag Philipp von Zabern: Darmstadt/Mainz, 2013, S. 10-38.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
„Inuma ilu awilum, ublu dula izbilu schupschikka, schupschik ili rabi.“ Ich habe das so übersetzt: „Als die Götter – menschengleich – sich in Mühe abplagten und die Bürde schwerer Arbeit tragen mussten…“. Der Sinn ist ein bisschen ein anderer, aber ich halte meine Übersetzung für plausibler und verständlicher.
was halten sie vom Buch Enki von Sitchin
und meiner Meinung das Enki/Es, niemand anderes als Jesus ist oder ist diese Auffassung zu abwegig?