Vampire aller Orten: Anmerkungen zu einem Dauerphänomen – Teil 1: Die Untoten betreten die Bühne

Nein, Goethe mochte sich von einem gewissen Punkt an nicht mehr mit Vampiren befassen. Im zweiten Teil seines Faust lassen sich die „Nacht- und Grabdichter“ beim geplanten Mummenschanz am kaiserlichen Hofe entschuldigen, weil sie soeben im interessantesten Gespräch mit einem frisch erstandenen Vampir begriffen sind, woraus eine neue Dichtart sich vielleicht entwickeln könnte.

Der Seitenhieb steht in einer Regieanweisung, Goethe hat verschmäht, sie dem kaiserlichen Herold, der die einzelnen Verkleideten ankündigt, in den Mund zu legen. Als er diese Anmerkung in den 1820er Jahren schrieb, hatten Vampire gerade Einzug in die europäische Literatur gehalten. Eine Mode, die nach einiger Zeit wieder verschwinden würde? Goethe scheint das gehofft zu haben. Das Thema war ihm zuwider, wie ihn alles Schaudervolle letztlich abstieß – es ist freilich höhere Ironie, dass er ein paar Jahrzehnte zuvor mit seiner Ballade Die Braut von Korinth eine erste literarische Bearbeitung eben dieses Gegenstandes vorgelegt und damit auch außerhalb Deutschlands Furore gemacht hatte und also an der Popularisierung des Phänomens Vampire nicht eben unbeteiligt war.

Heute wissen wir, dass die Mode nicht vorübergegangen ist. Vampire haben zwar nicht eben die Hochkultur invadiert, dafür aber umso nachhaltiger die Populärkultur, und das offenbar weltweit. Fürwahr eine erstaunliche Karriere. Im Verlauf von reichlich 300 Jahren haben sie es von einem folkloristischen Phänomen vorwiegend Südosteuropas zu einer nahezu globalen Präsenz gebracht. Vom späten 17. bis ins 18. Jahrhundert waren sie Gegenstand behördlicher Aufmerksamkeit sowie theologischer, naturwissenschaftlicher und juristischer Diskurse, bevor sie dann im späten 18. Jahrhundert ihr Entrée in die Literaturen Europas und Nordamerikas hatten. Dabei haben sie sich auch verändert, ja, manche, wie der britische Literaturwissenschaftler Nick Groom in seiner Untersuchung The Vampire. A New History, vertreten die Meinung, der Vampir sei durch die Konfrontation von Aberglauben und (damals) zeitgenössischem wissenschaftlichen, juristischem und politischem Denken erst geschaffen worden.

In zwei Fortsetzungen will der MYTHO-Blog markante Stationen dieser bemerkenswerten Karriere in den Blick nehmen. Im Mittelpunkt der ersten Folge stehen der Vampirglaube, ethnologisch betrachtet, und die Reaktionen der europäischen Intelligenzia auf dieses Phänomen. Die zweite Folge wird dann den Vampir als literarische Gestalt betrachten.

Dunkle Ursprünge

Die Vorstellung, dass manche Tote nicht wirklich tot sind, sondern nachts aus ihren Gräbern kommen, anderen Menschen das Blut aussaugen, sie durch ihren Biss wiederum zu Vampiren machen und Krankheiten verbreiten können, hat anscheinend viele Wurzeln. Der slawische Anteil daran wird im Allgemeinen als besonders hoch veranschlagt, aber man greift auch weiter. Der amerikanische Slawist Jan Louis Perkowski meint, das Wort „Vampir“ sei vielleicht aus syrischen und slawischen Bestandteilen zusammengesetzt. In ihm stecke der manichäische Gott Bān oder Bām, der es mit Gräbern und Finsternis zu tun habe – in slawischen Sprachen sei das B zum W-Laut geworden – und das slawische pirъ, „Zecherei, Feier“, woraus sich das Wortvampirъ, „Vans Feier“, ergeben habe. Für den Historiker Gábor Klaniczay vereint der Vampir unter folkloristischem Aspekt Eigenschaften des Wiedergängers (Revenant), des klassischen Blutsaugers (stryx), der slawischen Hexe und des Werwolfs. All diese Vorstellungen ergäben das Konzept des Vampirs, das sich in der Frühen Neuzeit in Mitteleuropa und auf dem Balkan herausgebildet habe. Immerhin ist festzustellen, dass der Vampirglaube oder etwas ihm sehr Ähnliches z. B. in Serbien bereits im 14. Jahrhundert belegt ist. Einmal ganz abgesehen von den außereuropäischen Parallelen, die hier außer Betracht bleiben müssen.

In der Tat ist der Vampir eine Art Wiedergänger, d. h. ein Toter, der aus irgendeinem Grunde in seinem Grab keine Ruhe findet und deshalb den Lebendigen erscheint. Genauer gesagt, ist er ein Spezialfall des „Nachzehrers“, eines Wiedergängers, der auf irgendeine Art seine Angehörigen oder andere Menschen nach sich in den Tod zieht, indem er ihnen entweder – eben als Vampir – das Blut aussaugt oder ihnen von seinem Grabe aus die Lebenskraft entzieht, indem er an seinen eigenen Kleidern und Gliedmaßen zehrt, was wiederum auch für Vampire gilt. Das Phänomen schaffte es sogar in den Titel des ersten Kompendiums zum Thema: Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in den Gräbern / Worin die wahre Beschaffenheit derer Hungarischen Vampyrs und Blut-Sauger gezeigt, und alle von dieser Materie bißher zum Vorschein gekommene Schrifften recensiret werden. Das Werk aus der Feder des lutherischen Geistlichen Michael Ranft erschien 1734 in Leipzig, der frühen Hauptstadt der Vampirologie. Doch damit greifen wir vor …

Wer wird zum Vampir? Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens zählt auf: gottlose Menschen, Werwölfe, ungetauft verstorbene Kinder; Tote, in die am 40. Tage ein böser Geist fährt; Leichen, über die ein Tier gelaufen ist; Menschen mit zwei Herzen oder Seelen, deren eine weiter lebt. Dass man es mit einer Vampirleiche zu tun hat, zeigt sich u. a. an der Beweglichkeit ihrer Glieder, der roten Gesichtsfarbe, den geöffneten Augen, und vor allem an zwei Merkmalen: Sie verwest nicht, und sie enthält viel frisches Blut. Knoblauch und Weißdorn sind probate Abwehrmittel, aber es kommt darauf an, den Vampir ein zweites Mal zu töten. Man muss der Leiche einen Pfahl durchs Herz treiben – wobei sie dann brüllt oder quiekt –, ihr den Kopf abtrennen und zwischen ihren Beinen platzieren, die Leiche mit Erde bestreuen, sie an den Sarg nageln oder verkehrt herum hineinlegen, um nur einige Methoden aufzuzählen.

Sporadische Berichte über Vampirismus gab es in Schlesien (1591), Böhmen (1618, Polen (1624) und später aus Ungarn. Später verdichteten sie sich: Kroatien (Istrien, 1672), Slowenien (1689), Polen (1693), Russland (1694), Preußen (1710 und 1721), Nordungarn (heute Slowakei) und Siebenbürgen / Transsilvanien (damals Ungarn, heute Rumänien) in den 1720er Jahren. Da hatte u. a. durch Zeitungsberichte das Thema unter den Gebildeten im westlichen Europa schon die Runde gemacht und das Interesse der Gelehrten gefunden.

Bereits 1679 erschien in Leipzig Philipp Rohrs Dissertatio De Masticatione Mortuorum mit gruseligen Beispielen für das „Grab-Essen“. Sie könnte ganz gut weltweit die erste zum Thema gewesen sein. Nick Groom nennt sie in seinem 2012 erschienenen Werk The Vampire. A New History, eine empirische Studie, die grässliche Details von geöffneten Gräbern enthält, deren „Insassen“ ihre Leichenhemden und Bahrtücher und in einigen Fällen ihre Gliedmaßen und Eingeweide angefressen hatten. Besonders hob Rohr auf die schrecklichen unterirdischen Geräusche ab. Grunzen, Quieken, Schlabbern, Kauen, Stöhnen … Dahinter stecke der Teufel. Dieser könne zwar keine Toten wieder zum Leben erwecken (das kann nur Gott), aber die Vampire seien offenbar von ihm animierte Leichname. Ansonsten beschreibt Rohr noch Abwehrmittel wie Pfählen, Enthaupten usw. Weitere Schriften sollten folgen. Allein von den vier Dissertationen über das Treiben der Vampire, die sich für die Jahre 1732 und 1733 nachweisen lassen, erschienen zwei in Leipzig. Bereits 1725 war hier eine lateinisch geschriebene Untersuchung des bereits erwähnten Michael Ranft herausgekommen. Sein Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in den Gräbern von 1734 stellt die erweiterte Fassung seiner früheren Arbeit dar.

Die Behörden vor allem des Habsburgerreiches, auf dessen Territorium ja seit 1718 viele ehemals vom Osmanischen Reich beherrschte Landstriche lagen – das Banat von Temesvár, die Kleine Wallachei (Moldawien), Belgrad und das nördliche Serbien – versuchten, unautorisierte Graböffnungen, Pfählungen etc. zu unterbinden und schickten Amtspersonen, Militärs und Mediziner, um die jeweiligen Fälle zu untersuchen. Kommissionen bestätigten das Auffinden von unverwesten Leichen mit allen Anzeichen des Vampirismus, die Untersuchungsergebnisse wurden publiziert und diskutiert. Etwa der Fall des serbischen Bauern Peter Plogojowitz, welcher als Toter neun Menschen erwürgt haben sollte und zehn Wochen nach seinem Begräbnis exhumiert, mit einem Pfahl durchbohrt und verbrannt wurde – er soll von frischem Blut förmlich getroffen haben. Ein österreichischer Militärmediziner namens Frombald schrieb 1725 darüber einen Bericht an seine Vorgesetzten und bezeichnete darin in einer lateinisch formulierten Nebenbemerkung die blutsaugerischen Kreaturen als vampyri. Der Bericht erschien im gleichen Jahr noch in einer Wiener Zeitschrift und sollte die Bezeichnung, die heute weltweit gängig ist, populär machen.

Das Thema wurde auch belebt durch immer wieder neue Berichte von zwei regelrechten Vampirismus-Wellen an den Grenzen des Habsburger Reiches, in denen Vampire für den Ausbruch von Krankheiten usw. verantwortlich gemacht und die Leichen Verdächtiger exhumiert und entsprechend behandelt wurden – in den Augen der Autoritäten hingegen Grabschändung, wenn nicht behördlich autorisiert.

Die Intellektuellen und die Untoten

Glaubten die europäischen Gelehrten an die (neu entdeckten) Vampire? Mediziner interessierten sich für Anomalien wie ausbleibende Verwesung (die ganz natürliche Ursachen haben kann und die auch außerhalb der Balkanländer, etwa in England, an Leichen beobachtet worden war, die keiner für Vampire hielt). Angesichts der vielen Zeugenbeschreibungen: Wo war die Grenze zu ziehen zwischen Leben und Tod, wo hörte die Empirie auf und wo begannen Verzerrungen des Beobachteten unter dem Einfluss von Massenhysterie?

Es gab Krankheitsbeschreibungen, zu denen neben vielen anderen Symptomen Beengungsgefühle in der Brust und Alpträume gehörten, die für die Patienten häufig das Bild zurückkehrender Toten hervorriefen. Auch Drogen und Mangelernährung wurden von Ärzten für Vampirphantasien verantwortlich gemacht. Für die Theologen war zunächst der Teufel im Spiel. Freilich hätte es geheißen, ihm zu viel Macht einzuräumen, wenn man ihm die Fähigkeit zur Wiederbelebung von Toten zugebilligt hätte. Er konnte aber das Wirken von Vampiren per Sinnestäuschung vorgaukeln. Oder es blieb im Leichnam etwas an Leben zurück, die Vorstellungskraft, die dann dieses zeitweise Scheinleben bewirken konnte.

Die Kirchen nahmen unterschiedliche Haltungen ein. Die orthodoxe Kirche – und etliche der neuerdings österreichischen Gebiete des Balkans waren orthodox – scheint den Vampirglauben im Großen und Ganzen gestützt zu haben, orthodoxe Priester waren bei Exhumierungen, Enthauptungen und Verbrennungen von Vampirleichen zugegen, was seit 1731 von der Hierarchie ausdrücklich autorisiert wurde. Die katholische Kirche hingegen erklärte letztlich, Vampirismus sei – wodurch auch immer hervorgerufene – Sinnestäuschung. Der französische Theologe Dom Augustin Calmet veröffentlichte 1746 seine Untersuchung über Geistererscheinungen, Dämonen, Gespenster und Vampire, die in schneller Folge mehrere Auflagen erlebte und in ganz Europa rezipiert wurde – die am weitesten verbreitete und wohl am breitesten angelegte Arbeit zum Thema, viel gelesen bis weit ins 19. Jahrhundert, wo vor allem Literaten sie ausschlachteten. Calmet war vorsichtig: Ursprünglich betrachtete er Vampire als eine Art göttlicher Strafe. Aber in der zweiten Auflage seines Buches von 1749 hatte er seine Ansicht geändert: Nun waren sie letztlich doch Phantasie. Wenig später – 1757 – erklärte der hochgelehrte Papst Benedikt XIV., Vertreter eines rationalen Katholizismus, Vampire für Erfindungen, die die Einbildungskraft irreführten.

Protestanten waren geteilter Ansicht. Manche hielten die Existenz von Vampiren für gesichert, andere ignorierten das Phänomen. Im Großen und Ganzen legte man es in nüchtern-protestantischen Kreisen ad acta. Sie habe keine Beweise gesehen, befand beispielsweise die Königlich-Preußische Akademie, und habe keine Anhaltspunkte dafür, dass es in Preußen oder anderen protestantischen Landen auftrete. In ganz Europa, auch in England und Frankreich, wo sich die Aufklärung zu entwickeln begann, diskutierte man es. Skeptiker erklärten das Ganze für Massenhysterie.

Auch Voltaire und Rousseau widmeten dem Thema Beachtung. Die Zeugenaussagen erklärten sie für letztlich irrelevant, weil das, was den Prinzipien der Vernunft widerspräche – und das tun Untote nun einmal – nicht existieren und also auch nicht wirklich beobachtet werden könne. Vampire schienen irgendwie ausgespielt zu haben, jedenfalls unter den Gebildeten des westlichen Europa. Aber – wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Tracy in seiner Einleitung zu Sheridan Le Fanus Erzählungssammlung In a Glass Darkly bemerkt hat -, als die gebildeten Klassen aufhörten, an Gespenster und Hexen zu glauben und begannen, sie stattdessen unterhaltsam zu finden, da schlug die Stunde der Gespenstergeschichte. Und die Vampire hielten Einzug in die Literatur … Doch davon soll im zweiten Teil die Rede sein.

Ein Beitrag von Christoph Sorger

Literaturhinweise:

 Bächtold-Stäubli, Hans / Hoffmann-Krayer, Eduard: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin. De Gruyter 2000.

 Der Brockhaus Mythologie. Gütersloh, München: wissensmedia GmbH, 2010.

Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Herausgegeben von Erich Trunz. Band 3: 16, überarbeitete Auflage (Hamburger Ausgabe). München: Beck 1996.

Groom, Nick: The Vampire. A New History. New Haven, London: Yale University Press 2018.

Sheridan Le Fanu: In a Glass Darkly. Hrsg. von Rober Tracy. Oxford, New York [u.a.]: Oxford University Press 1993.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

 

 

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