Vielleicht sind es die Details, die es verstehen, den Betrachter in Bann zu ziehen: das Mädchen, das seine Handfläche stoisch, fast schon schicksalsergeben, zwei Frauen entgegenstreckt, um ein Geldstück zu erbetteln, Kirchenbesucher, die nach Ende des Gottesdienstes aus dem Eingangsdunkel der im Renaissancestil zwischen 1579 bis 1584 umgebauten Dresdner Kreuzkirche streben oder aber die dunkelbraunen Lasuren der Hausziegel, die dem Gebäude gleichermaßen das Aussehen von Erhabenheit und Verfall verleihen. Es scheint fast, als würde man beim Betrachten Teil der Szenen werden – eine Zeitreise der Gedanken ins Europa des 18. Jahrhunderts. „Zauber des Realen“ – der einleitende Titel zur Ausstellung „Bernardo Bellotto am Sächsischen Hof“ in der Gemäldegalerie Alte Meister des Dresdner Zwingers ist passend gewählt. Aus Amsterdam, Dublin, Hamburg, London, Los Angeles, Stockholm, Warschau etc. und natürlich aus Dresden kommen die ausgestellten Objekte. Der Zauber ist international, so kosmopolitisch wie der Künstler, dessen 300. Geburtstag man im Jahr 2022 begeht, für seine Zeit selbst.
Bernardo Francesco Paolo Ernesto Bellotto wurde am 20. Mai 1722 in Venedig geboren. Sein Vater, Lorenzo Antonio, war Gutsverwalter, seine Mutter Fiorenza Domenica die Tochter des Theatermalers Bernardo Canal und Schwester des Verduten- und Landschaftsmalers Giovanni Antonio Canal (1697-1768). Letzterer nannte sich Canaletto, ein Künstlername, den später auch Bernardo Bellotto führte und der seit dem Mittelalter ein häufig wiederkehrender Beiname der Familie Canal war. Früh offenbarte sich das Talent des Jungen, der als Lehrling in der Werkstatt des Onkels lernte, seine ersten Erfahrungen sammelte und von dort aus begann, seine sozialen und künstlerischen Netzwerke zu knüpfen. Eben diese Netzwerke, vor allem aber die wirtschaftlichen Aspekte, führten dazu, dass er Venedig verließ. Im Jahr 1747 kam Bellotto nach Dresden, an einen Hof, der dank der Förderung durch August den Starken und dessen gleichnamigen Sohn August II. (beide sowohl Kurfürsten von Sachsen als auch Könige von Polen) kulturell florierte und zum Anziehungspunkt „für Kulturschaffende unterschiedlicher Nationalitäten [wurde] – Architektur, Bildhauerei, Malerei, Oper, Literatur und Festivitäten bildeten den Rahmen einer prachtvollen Hofhaltung, die sich mit anderne europäischen Fürstenhöfen und Königshäusern messen konnte“. (Iris Yvonne Wagner, Dem Adel verpflichtet, in: Zauber des Realen, S. 22)
Vor allem seine Veduten, die wirklichkeitsgetreuen Ansichten von Städten wie Dresden, Pirna, aber auch Warschau, Venedig, Verona oder Wien oder Landschaften wie jene mit der Festung Königstein im Mittelpunkt, sicherten Bellotto Ansehen und Einkünfte; zu seinen Förderern zählte u. a. Heinrich von Brühl (1700-1763), Geheimrat und Minister, heutzutage noch immer unvergessen durch die nach ihm benannte Brühlsche Terrasse in Dresden, die ursprünglich Teil der Stadtbefestigung war, im 18. Jahrhundert aber durch Pavillons, Galerien und Bibliotheken dem Zeitgeist gemäß umgestaltet wurde. Bereits ein Jahr nach seiner Ankunft in Dresden entstand jene Vedute, die wohl wie kaum eine zweite für Bellotto und sein Schaffen steht und die bis heute zu den bekanntesten Dresdner Stadtansichten zählt – Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der Augustusbrücke.
Die Vedute ist auch bekannt als „Canaletto-Blick“. Interessant ist neben der farblichen Klarheit und den Details, wie den sich auf den Wasser spiegelnden Silhouetten oder den Schatten der Figuren, welche, so wie die gesamte Ansicht, einer westlich stehenden Abendsonne Rechnung tragen, dass die Frauenkirche im Vergleich zu der sich im Bau befindlichen Hofkirche recht klein anmutet. In der Ausstellung sind diese Größenunterschiede mittels eines virtuellen Bildschirms deutlich gemacht. Ein Detail, das dem Betrachter nicht unmittelbar auffällt, aber für Bellottos Ansichten typisch ist, um durch perspektivische Änderungen mehr räumliche Tiefe für die Szenen zu erzeugen. Vielleicht eines der eindrücklichsten Wiedererkennungsmerkmale, das dazu verleitet, sich den Bildern langsamer und intensiver zu widmen. Entschleunigung scheint den Details geradezu eingeschrieben zu sein, und Details gibt es unzählige zu entdecken – sie scheinen in jedem Zentimeter Leinwand geradezu auf den Betrachter zu warten und wirken dabei wie Standbilder eines Films, der sich via Vorstellungskraft nach Belieben vor- oder zurückspulen lässt. Vor allem die Schatten verstehen zu faszinieren, nicht zuletzt, da sie sich dem Auge erst nach und nach offenbaren, um plötzlich wie selbstverständlich da zu sein. Im Gegensatz zu den mythendurchdrungenen und religiös aufgeladenen Großformaten von Rubens, Rembrandt oder Tintoretto ein Stockwerk höher wirken Bellottos Werke nüchtern und eher klein, aber auf ihre Weise fast schon unheimlich intensiv. Der Zauber liegt hier, wie eingangs erwähnt, im wahrsten Sinne des Wortes im Detail.
Obwohl Bellotto als königlich sächsischer Hofmaler gilt, ist er formal (d.h. urkundlich) doch nie dazu berufen worden, zumindest fehlen dazu bislang die schriftlichen Quellen. „Doch signierte er ab 1748 seine Radierungen mit dem Zusatz ‚peintre royal‘, und wird auch in späteren Schriftstücken als ‚Hofmaler‘ bezeichnet.“ (Ebd. S. 28) Nach verschiedenen Intermezzi in Wien und München kehrte Bellotto 1761 nach Dresden zurück, das vom Siebenjährigen Krieg versehrt war. Ein Umstand, den der Künstler auch in seinen Werken Rechnung trägt, so u. a. in der Verdute Die Trümmer der ehemaligen Kreuzkirche zu Dresden (1765), die auf erschreckende Weise an Fotografien der Ruine der im Februar 1945 zerstörten Frauenkirche erinnert.
Der Siebenjährige Krieg hatte für Belloto auch wirtschaftliche (und soziale) Folgen, kam es doch am Dresdner Hof zu massiven Sparmaßnahmen, zudem verstarb 1763 sein Hauptförderer Heinrich von Brühl. So sah sich Bellotto gezwungenen, die Position eines Zeichenlehrers an der Dresdner Kunstakademie anzunehmen. Auch saßen ihm diverse Gläubiger im Nacken. Der Catalogo de Damni ist eine Dokumentation von Habseligkeiten und Einrichtungsgegenständen, welche der Künstler 1762 anfertigte. Demnach betrug der Schaden, den er durch den Krieg erlitten hatte, etwa 50.000 sächsische Taler, vielfach fanden sich darunter Geschenke des Grafen von Brühl. Aufgrund des Katalogs wissen wir etwa, dass Bellottos Bibliothek aus 515 Titeln in ca. 1100 Bänden bestand, darunter Werke von Torquato Tasso, Horaz, religiöse Bücher, politische Satiren sowie Bände über Kunst und Architektur.
Eine Besonderheit bei der Anfertigung seiner umfangreichen Arbeiten war, dass Bellotto eine Camera obscura als Hilfsmittel verwendete. „Der aus dem Lateinischen stammende Begriff Camera obscura bedeutet ‚dunkler Raum‘, in den durch ein kleines Loch Licht einfällt, sodass auf der gegenüberliegenden Innenwand ein seitenverkehrtes und kopfstehendes Bild projiziert wird. Dieses Prinzip wurde über Jahrhunderte hinweg durch verschiedene Objektive mit diversen Linsen und Bauarten perfektioniert. Man kann die Camera obscura als Vorläufer zum modernen Fotoapparat bezeichnen.“ (Thomas Liebsch, Bellottos Arbeitsmethoden, in: Zauber des Realen, S. 196) Allerdings sind die damit entstandenen Bilder nicht identisch mit dem fertigen Gemälde. Sie dienten vielmehr als Materialsammlung, für Vorzeichnungen, zum besseren Verständnis und zur Übertragung von Tiefen und Perspektiven. Ein weiteres Indiz dafür, weshalb Bellottos Werken eine solch detailverliebte Realität anmutet.
1766 verließ Bellotto Dresden und nahm das Angebot an, am Hof von Warschau zu arbeiten. Er starb dort am 17. November 1780 und hinterließ ein künstlerisches Vermächtnis, das so traumwandlerisch wie real zugleich ist. Eine Einladung, zu staunen und sich inspirieren zu lassen.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Ausstellungshinweis:
Literaturhinweis:
Zauber des Realen. Bernardo Bellotto am Sächsischen Hof. Hrsg. von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Stephan Koja/Iris Y. Wagner. Sandstein Verlag: Dresden 2022.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Ist immer wieder was für die Allgemeinbildung hier;)
Grüße
Hilda