Mit den Übersetzungen von Tausendundeiner Nacht im 18. Jahrhundert gewann das sogenannte Morgenland eine magische Aura, die der aufkommenden Romantik sehr entgegenkam. Aber der Reiz des Orients geht viel weiter zurück, wie die vielen Reiseberichte zeigen, die Bernd Brunner in seinem Jahrhunderte umfassenden Buch Unterwegs ins Morgenland zeigt. Brunner ist bislang hervorgetreten durch reichhaltige und gewitzte Kulturgeschichten zu Mond, Weihnachtsbaum, Bären, Obstgarten, dem Norden oder des Liegens.
Das neue Buch setzt diese Reihe fort: überraschende Einsichten in Selbstverständlichkeiten. In diesem Fall ist es unser abgenutzter Blick auf den Orient, der ins Visier genommen wird. Allerdings ist der Titel etwas irreführend, denn mit Morgenland steht hier hauptsächlich das so genannte „Heilige Land“ im Fokus. Es ist das konfliktreichste Gebiet der Erde, heilig und höchst unheilig in einem Atemzug, auf das sich Kreuzzüge, Pilger- und Forschungsfahrten immer wieder gerichtet haben. Die Frage bleibt bis heute „warum?“ Das anekdotenreiche Buch überlässt den Lesern mögliche Antworten. Im Heiligen Land, so meine Hypothese, wird das Innere des homo sapiens ausgestülpt wie nirgends sonst. Triebe wie Gier, Eifersucht, Konkurrenz, Hass und Macht werden tödlich sichtbar, ebenso Einkehr, Frömmigkeit, Liebe. Die hier erzählten Geschichten von Abenteurern, Exzentrikern, Frommen und Bösen, von Heilssuchern, Fälschern und Missionaren lassen in diese Wurzeln menschlicher Konflikte blicken. Sie werden erst recht greifbar, wenn es um das „Heiligste“ geht, den Gral, das Kreuz, das Grab, den Erlöser, den Propheten. Dabei entstehen Missverständnisse aller Art. Manche von ihnen sind tödlich, andere können produktiv wirken.
Bis zur Entdeckung Amerikas war Jerusalem der Mittelpunkt der Welt, zumindest für die Christen, Ziel auch unzähliger Pilgerfahrten, einschließlich der bewaffneten, die wir „Kreuzzüge“ nennen. Wem die Rückkehr gelang, konnte vielleicht triumphieren mit Reliquien, deren bunten Abklatsch man heute in den Souvenirläden findet. Was für ein schwunghafter Handel mit primären Reliquien wie Körperteile von Jesus, den Aposteln oder Heiligen, aber besser noch solchen der sekundären Kategorie, die durch Berührung (Kontaktmagie) heilig wurden: Kleiderfetzen, ein Bild, das der Apostel Lukas gemalt haben soll oder die berühmten Kreuzessplitter, die sich wundersam vermehrten und das Kreuz zur Höhe des Empire State Building anwachsen ließen. Ein Frommer war so fanatisch, dass er ein Stück vom angeblichen Kreuz abbiss, wie die Pilgerin Egeria im 4. Jahrhundert bemerkte. Das Heilige Land verstreute seine Samen in den christlichen Ländern, so dass es wunderlich dort wieder aufblühte. Engel brachten das Haus der Maria nach Loreto in Italien, in Madrid erblickte man das Neue Jerusalem und in Görlitz baute ein Adliger das Heilige Grab auf, um sich von Schuldgefühlen zu befreien. Protestanten hatten oft ein zwiespältiges Gefühl gegenüber solchen Kulten. Luther sah hier viel „Narrenwerk“ am Spiel: „Denn nach dem Grab, da der Herr innen gelegen hat, fragt Gott gleich so viel, als nach allen Kühen in der Schweiz.“ Ein schwedischer Protestant merkt schon 1711 an, es sei besser, wenn Antiquitäten dort bleiben, wo sie gefunden wurden, denn es sei jetzt „mehr vom alten Smyrna in Oxford als hier vor Ort.“
Brunner berichtet auch über die ersten zionistischen Siedler, die lange vor Theodor Herzl in Palästina ihr Heil und die Zuflucht vor den Pogromen in Europa suchten, über christliche Missionare oder Pilger die zum Judentum konvertieren oder den Islam besser finden. Viele wandten sich auch entsetzt vom Heiligen Land ab. Dafür gab es Gründe, etwa die dauernden Streitigkeiten zwischen Mönchen der verschiedenen Konfessionen oder Prügeleien der Frommen am Heiligen Grab, so dass viele zu dem Schluss kamen, die Muslims seien doch die besseren Gläubigen (und in der Tat halten sie bis heute die Schlüssel für das Grab, weil sie Neutralität wahren). Der erste
afroamerikanische Reisende, der anfangs noch als Sklave eines Rechtsanwaltes mitreist, David F. Dorr, kommt in den 1850ern demütig nach Jerusalem, aber ist so entsetzt von den Absurditäten, die ihm die unwissenden Leute erzählen, dass er nur noch Spott für die „heiligen Leichen und Flecken“ hat. Er probiert auch das Wasser des Jordan und findet, dass es dem Wasser des Mississippi durchaus gleichkomme.
Den satirischen Höhepunkt der Reiseerzählungen verdanken wir Mark Twain mit seinem Buch über die naiven Amerikaner im Ausland (The Innocents Abroad, 1869). Für seine Mutter will er eine Bibel mitgebracht haben, für deren Herstellung Olivenholz vom Ölberg benutzt wurde; ebenso einen Stein vom Grab Salomons. Ein Jahrzehnt zuvor hatte Herman Melville die Amerikanische Kolonie besucht, in der sich die größten Exzentriker tummelten. Die Mehrheit der religiösen Verrückten, so eine amerikanische Zeitung, stamme aus den Vereinigten Staaten, „die so viele und so seltsame Religionen hervorgebracht hat.“ Etwa Warder Cresson, der als Quäker ausgezogen war, um Konsul in Jerusalem zu werden und den Juden eine Heimstatt zu verschaffen. Er kam dort mit einer amerikanischen Fahne und einem Käfig an, in dem sich eine Friedenstaube befand. Bald konvertierte er zum Judentum und verfolgte landwirtschaftliche Projekte. Er war hochverehrt. Am Tag seiner Beerdigung blieben alle jüdischen Geschäfte der Stadt geschlossen.
Nach den vielen Reiseberichten vom Mittelalter bis in das frühe 20. Jahrhundert bleibt ein Eindruck der Ratlosigkeit über das Menschengeschlecht zurück. Wie ein Brennglas bündelt das Heilige Land die Probleme dieser Erde. Die Reisenden machen extrem unterschiedliche Erfahrungen. Die einen werden bekehrt, die anderen finden Religion von nun an widerlich, andere bereichern sich finanziell, werden beraubt oder ermordet, die einen fälschen auf Teufel komm raus, während die anderen Heilsbotschaften verkünden. Melville hielt fest: „Es ist gegen den Willen Gottes, den Osten zu christianisieren.“ Man könne ebenso versuchen, einen Ziegelstein in eine Hochzeitstorte zu verwandeln.
Das Buch zeigt den Ort, an dem der Drang zum Missionieren besonders groß war. Die einen suchen das eigene Heil, die anderen wollen es den Ungläubigen einreden. Hier wollen alle etwas und das sorgt für ewige Spannung. Brunners unterhaltsame Kulturgeschichte hat daher eine dunkle Seite. Sie bricht ab vor den großen Katastrophen des nächsten Jahrhunderts, und zwar mit dem Besuch Kaiser Wilhelms II. im Jahre 1898, dem zweiten Besuch eines deutschen Kaisers seit 670 Jahren. Natürlich pflückt er im Garten Gethsemane einen Olivenbaumzweig – er wird als Reliquie in Berlin sein Ende finden.
Elmar Schenkel
Literaturhinweis:
Bernd Brunner: Unterwegs im Morgenland. Was Pilger, Reisende und Abenteurer erwarteten, und was sie fanden. Berlin: Galiani 2024. 313 S., gebunden, € 28.00.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Dieses „Heilige Land“ ist unheilig! Da fetzen sich die Palästinenser und Israelis. Warum? Da gibt es zwei Söhne des Abraham, nämlich Ismael und Isaak. Wessen Nachfahren sind die Eigentümer vom „Heiligen Land“ – diesem unheiligen Land? Erstgeboren ist Ismael, unehelicher Sohn des Abraham. Danach kam Isaak, ehelicher Sohn des Abraham. Die Palästinenser beziehen sich auf Ismael und die Israelis auf Isaak. Noch unheiliger geht es nicht! Sowieso müsste man die Religionen und Mythologie wahrscheinlich komplett anders lesen, vielleicht geht es insgesamt sogar tatsächlich um unheilig -> https://www.mythologie-antike.com/t23-gott-eosphoros-phosphoros-lichttrager-lichtbringer-morgenstern
Ich kenne das Buch nicht, daher weiß ich nicht, ob der Autor auch den Besuch Kaiser Franz Josephs erwähnt oder ob er so borussophil ist, daß für ihn nur W2 zählt
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