Das Reisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewegt sich jedoch auch in andere Dimensionen. Vernetzung ist eben ein raumzeitliches Phänomen, und so wird auch das Fahren in der Zeit erstmals thematisiert. Die erste Gebrauchsanweisung für eine Maschine, mit der man durch die Zeit reisen kann, schrieb bekanntlich H.G. Wells mit The Time Machine von 1895, auch wenn schon vor ihm das Prinzip Zeitreise bekannt war. Darin wird erstmals eine Art Raumzeitkonzept vorgelegt. Der Zeitreisende macht die Zeit als vierte Dimension wie die anderen räumlichen Dimensionen nutzbar und reist auf dieser Achse in die Zukunft. Er bezieht sich auf eine neuartige Geometrie, auf Forschungen der Physik und Mathematik und erwähnt, dass er ein Modell seiner Maschine einmal in Tübingen gesehen habe. (Er könnte sich vielleicht auf eine Rechenmaschine bezogen haben, die dort Anfang des 17. Jahrhunderts Wilhelm Schickard gebaut hatte.) Vernetzung bedeutet von nun an auch, Zeiten und Epochen in Kontakt zu bringen, und zwar mit einem bemerkenswerten, eigens dafür konstruierten Verkehrsmittel, einer Mischung aus Pegasus und Fahrrad. Seinen viktorianischen Zeitgenossen kann der Time Traveller somit Bericht geben über die Zustände Londons und Englands im Jahre 802 701. Umgekehrt konfrontiert er seine Gastgeber in der Zukunft mit seiner eigenen, viktorianischen Mentalität und den technischen Möglichkeiten seiner Epoche. Wir erfahren auch von seiner letzten Reise an den Rand der Erdzeit und sind somit Zeugen einer extremen zeitlichen Vernetzung. Man muss dazu anmerken, dass die vierte Dimension zu Wells’ Zeit hauptsächlich als vierte räumliche Dimension gesehen wurde. Einer der ersten, der über die Verzeitlichung dieser Dimension nachdachte, war der Leipziger Physiker und Psychologe Gustav Theodor Fechner. In seinem Traktat „Der Raum hat vier Dimensionen“ definiert er diese vierte Dimension als die, durch die der Raum sich selbst bewegt, und das ist die Zeit:
Globalisierung im Sinne einer immer wachsenden Vernetzung von Vorgängen auf der Erde hat eine lange Vorgeschichte und auch ihre Geschichte ist schon einige Jahrhunderte alt. Wenn ich aber gefragt würde, wer als ihr erster Autor zu bezeichnen wäre, so würde ich einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nennen, nämlich Jules Verne. Es gibt kaum ein Gebiet auf diesem Planeten, der nicht von seinen Figuren und Phantasien berührt worden wäre – ob es der Amazonas ist oder Sibirien, Litauen oder der Südpol, Afrika, China oder die Tiefsee und das Innere der Erde selbst. Auch wenn er mit Reisen ins Weltall aufwarten konnte, so geht es doch vorrangig um unseren Planeten. Räumlich gesehen ist Jules Verne also panirdisch breit aufgestellt. Fragen wir nach den Zeiträumen, in denen seine Geschichten spielen, so engen sie sich doch zumeist auf das 19. Jahrhundert ein. Die größte Ausnahme ist der Journalist, der aus dem Jahre 2889 berichtet. Mithin müssen wir ihn wohl eher als räumlichen, denn als zeitlichen Globalisierer betrachten. Er versucht nicht, historische Romane zu schreiben, und auch seine Science Fiction greift nicht weit voraus in die Zukunft. Dennoch lassen sich Zeit und Raum bei ihm nicht trennen. Am deutlichsten wird dies in einem seiner Klassiker, Reise um die Welt in 80 Tagen. Es handelt sich zwar um eine Reise durch den geographischen Raum, aber deren eigentliches Thema ist die Zeit. Die in einem Londoner Club abgeschlossene Wette legt ein zeitliches und finanzielles Netz über das Unternehmen, die Welt in höchstens achtzig Tagen zu umfahren.[1] Während etwa in Reise zum Mittelpunkt der Erde das Ziel ist, das Innere der Erde zu erforschen, während Kapitän Nemo in seinem ozeanischen Aquarium eine politische Agenda verfolgt (oder einst verfolgte), ist hier einzig das Ziel, eine Wette zu gewinnen, nämlich einen Rekord aufzustellen. Und wenn die Zeit geschlagen wird, kommt es zu einer Hoch-Zeit. Diese trägt allerdings selbst mit zum Gewinn der Wette bei.
Es fällt schwer, sich Gedanken über das Zeitliche zu machen, wenn man in ihm befangen ist – mit all seinen Fanggeräten: Computer, Smartphone, ICE, Kurs- und Kochbüchern, die nur schlechtes Gewissen erzeugen. Es gibt auch derzeit die Mode, mit Buchtiteln Druck auf Lebenszeit auszuüben, die einem aufschwätzen wollen, was man alles noch erleben soll, bevor man nichts mehr erleben kann: 1000 Orte, die Sie gesehen haben müssen, bevor Sie sterben, 1000 Bücher, die Sie gelesen haben müssen. Dagegen hätte ich gern das Buch der 1000 Bücher, die Sie nicht gelesen haben müssen, bevor Sie sterben, oder Was muss ich tun, um wieder Analphabet zu werden?
Im Nordwesten Griechenlands, in der Region Epirus, nahe der antiken Stadt Ephyra befand sich ein – bereits im zehnten Gesang der Odyssee erwähntes – Totenorakel. Es lag am Ufer eines Sees, den der Acheron hier bildete, bevor er ins nur wenige Kilometer entfernte Meer strömt. Beim heutigen Dorf Mesopotamos gruben griechische Archäologen in den 1960er Jahren genau hier einen Gebäudekomplex aus, bei dessen ursprünglicher Anlage es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eben dieses Nekromanteio handelt.
Seit Fritz Lang mit seinem Stummfilmepos „Die Nibelungen“ aus dem Jahr 1924 einen Meilenstein deutscher Filmgeschichte begründete, findet das mittelalterliche Epos um Liebe, Leid und Tod des Helden Sigfried und der Burgunder auch in Fernsehen und Kino immer wieder einen Platz. Beispiele hierfür sind etwa der 2-Teiler von Harald Reindl von 1966 mit Karin Dor als Brunhild oder die TV-Verfilmung „Die Nibelungen“ von Uli Edel von 2004, welche den Sagenstoff mit Elementen von Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ verband. Eine sehr viel freiere Interpretation der Geschichte entwickelt die Persiflage „Siegfried“ (2005) mit dem Komiker Tom Gerhardt, in der der Held sich mehr oder minder erfolgreich durch eine Laufzeit von 89 Minuten trottelt und dabei von einem sprechenden Schwein begleitet wird. Noch bunter trieben es, im wahrsten Sinne des Wortes, die Darsteller in „Siegfried und das sagenhafte Liebesleben der Nibelungen“ (1970), wo nicht nur Muskelkraft beim Kampf mit dem Drachen gefragt ist, sondern anschließend auch die Potenz.
Edith Bland (1858-1924), die unter ihrem Mädchennamen E. Nesbit schrieb, ist vor allem als Kinderbuchautorin bekannt geworden. Ihre Werke wurden vielfach verfilmt, übersetzt und neu aufgelegt. Zum einen schrieb sie realistische Kinderbücher, deren Kennzeichen Humor und Sozialkritik sind. Zu ihnen gehören The Wouldbegoods (1901) und The Treasure Seekers (1899), die jeweils auch Fortsetzungen haben und in deren Zentrum eine bestimmte Familie steht. Das Modell lautet im letzteren Fall: die Kinder versuchen der eigenen, verarmten Familie auf die Beine zu helfen, indem sie Geld verdienen. In The Wouldbegoods wollen die Kinder etwas moralisch Gutes tun und enden dabei jedes Mal in einem Dilemma. In The Railway Children (1906) steht Sozialkritik im Vordergrund: Armut der Familie, das Leben an einem kleinen Bahnhof und an der Schiene, aber auch der Einfluss großer Politik, denn die Familie wird einen russischen Emigranten aufnehmen und etwas über die Zustände im Zarenreich erfahren.
Wohin reisen wir? Nach Berlin oder New York oder Sydney vielleicht? Zum Nordpol oder in den Regenwald Amazoniens? Zu den Quellen des Nils, in die Einöde der Wüste Gobi oder nach Feuerland? Vielleicht reisen wir auch „nur“ durch das eigene Leben und träumen währenddessen davon, wie es wäre, durch die Zeit vor unserer Geburt und nach unserem Tod zu wandern, Welten zu entdecken, die wir nur aus Geschichtsbüchern kennen oder solche, die noch gar nicht erfunden worden sind. Mit dem Reisen ist es so eine Sache. Es gibt uns die Gelegenheit, nicht nur andere Orte und andere Menschen, sondern auch uns selbst zu entdecken. Reisen ist dabei immer auch ein Ausbrechen aus den Konventionen des Alltags. Reisen besitzen sowohl einen Anfang als auch (in der Regel) ein Ziel, stellen also eine Verbindung her zwischen uns und dem von uns noch nicht in den Blick Genommenen. Reisen können spontanes Vergnügen sein. Geplanter Zeitvertreib, auch bekannt als Urlaub. Oder eine Notwendigkeit, man denke da beispielsweise an die Pendler, Geschäfts- oder Dienstreisenden. Reisen, das kann Rausch sein, Unbekanntes, Neugier, Hast, Pflicht, eine Möglichkeit, die wir uns auferlegen oder der wir folgen.
Die Wendung von „Jekyll und Hyde“ als Metapher für die Dualität von Gut und Böse, Normal und Seltsam, Rechtschaffen und über die Stränge schlagen, hat sicher jeder schon einmal gehört oder salopp gebraucht, um das Verhalten von jemanden zu beschreiben, welches von der sonst gewohnten Norm dieser Person abweicht. In ihr schwingt die Berührung mit einer ureigenen Frage mit, die am Ende nur jeder für sich selbst beantworten oder nicht beantworten kann: Wer sind wir? Und wenn ja, wie viele? Und sind wir uns dieser „wirs“ eigentlich bewusst?
Zu den zentralen Elementen einer Mythologie der Sinti und Roma gehört der weitverbreitete Kult des reinigenden Feuers, auch im Zusammenhang mit der Sonne, vom Sonnenkönig als Sohn von Himmel und Erde wie auch das symbolträchtige Sonnenrad. Die mysteriöse Herkunft der Sinti und Roma stellt ein weiteres mythologisches Kernelement dar. Erst mit Hilfe des Sprachvergleichs des Romani bzw. Romanes mit anderen, in erster Linie indischen Sprachen, konnte die Herkunft der Sinti und Roma geklärt werden.
Längst entschwunden sind die Zeiten / der Zigeuner, / die gewandert. Ich aber sehe sie, / hurtig wie im Wasser, / stark und durchscheinend. / Man kann es hören, / wie’s wandert, / wie’s Lust hat zu reden. Aber das Arme – es kennt keine Sprache / außer dem Rauschen und Silbergeplätscher. / Nur das Pferd auf der Weide / hört und versteht sein Geraune. / Doch schaut’s nach ihm sich nicht um, / flieht eilends, läuft weiter, / Wo niemand es ausspäht, / das Wasser, das wandert. (Papusza – Bronisława Wajs, 1910-1987)
Das Mittelalter ruft! In der heutigen Episode des MYTHO-Cast beschäftigen sich Elmar Schenkel, Constance Timm und Isabel Bendt mit dem großen italienischen Erzähler Umberto Eco. Obwohl dieser vor allem durch den Roman Der Name der Rose weltweite Bekanntheit erreichte, wirkte der humorvolle Denker als Philosoph und Semiotiker doch über die Grenzen der Literatur hinaus. So hinterließ er der Nachwelt einen faszinierenden Ideen-Kosmos, der sich seine Aktualität bewahrt hat und zum Nachdenken über unsere Zeit anregt.
Viel Vergnügen beim Hören!
Gespräch mit Prof. Elmar Schenkel, Dr. Constance Timm und Isabel Bendt
Im vergangenen Jahr hatte ich für den Mytho-Blog einen Beitrag geschrieben, der sich – ausgehend vom Thema „Mythos Buch“ – mit der bedeutenden Privatbibliothek Salman Schockens beschäftigte. Ich möchte jetzt mit diesem zweiten Beitrag den Bibliophilen, den Unternehmer, den Verlagsgründer und Literaturförderer Salman Schocken etwas näher vorstellen.
„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ heißt es auf der berühmten Radierung von Francisco de Goya. Der Künstler wird schlafend oder träumend und umgeben von unheimlich anmutenden Nachtwesen wie Eule, Luchs und Fledermaus gezeigt; und je nachdem, ob man die Deutung auf den „Schlaf“ oder den „Traum“ richtet, kann das Bild entweder als eine Kritik am Aberglauben oder aber als Ausdruck für Goyas Ringen mit seinen inneren Dämonen (respektive seiner Einbildungskraft) interpretiert werden. In der Ausstellung „Magie – Das Schicksal zwingen“ des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle/Saale steht eine Kopie der Radierung an letzter Stelle des Rundgangs, als eine „Auseinandersetzung zwischen magischem und rationalem Denken“. Zudem prangt der Spruch „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ als eine Art mahnendes und zugleich unheimliches Motto in großer Leuchtschrift über der Ausstellung.
Geschichtsschreibung ist häufig tendenziös. Der Würdigung durch Überhöhung einer Gestalt steht zuweilen die damnatio memoriae gegenüber- das bewusste Löschen aus der Erinnerung. Die Heldentaten des Großen Alexander haben diesen Welteroberer zum Mythos erhoben. Zum schwer erträglichen Mythos dagegen ist der berüchtigte Nero geworden.
Dem einen oder anderen Besucher der Stadt Leipzig werden sie wohl aufgefallen sein, die vielen wunderschönen Verzierungen an den Gebäuden der Altstadt. Wenn man aufmerksam durch die Straßen spaziert, begegnet man unwillkürlich einer reichen Auswahl an mythischen Fabelwesen, Teufelsgestalten und antiken Gottheiten.
In der heutigen Episode des MYTHO-Cast gehen Reiner Tetzner, Elmar Schenkel und Sebastian Helm gemeinsam auf Erinnerungsreise in die Vereinsgeschichte und spüren dabei vor allem auch der Faszination der Mythologie nach.
Gespräch mit dem Gründungsvorsitzenden des Arbeitskreises Dr. Reiner Tetzner, Prof. Elmar Schenkel und Sebastian Helm.
Ein Reisender ist zu Gast in einem prächtigen Anwesen. Er trifft auf einen alten Mann und fragt diesen, ob er dort übernachten dürfe. Der Alte antwortet ihm, er möge dessen Vater fragen. Dieser verweist ihn auf seinen Vater und der wiederum auf seinen Vater. Letztendlich kommt der Reisende zum letzten Vater in der Reihe, dessen Erscheinung so schaurig ist, dass sie ihm einen gehörigen Schrecken einjagt.
„Eine großgewachsene, knochige, weißgekleidete Frau mit einer scharfen Sichel, striff an sonnigheißen Sommertagen des Mittags zwischen 12 und 14 Uhr über die Felder. Diese Gestalt wurde von den Sorben/Wenden „die Mittagsfrau“ genannt. Sie hatte es besonders auf die Leute abgesehen, die während der Mittagsruhe auf dem Feld arbeiteten. Erwischte die Mittagsfrau jene Person, so konnte sich diese nur retten, indem sie eine Stunde lang über Flachsanbau, Flachsernte und Flachsverarbeitung erzählen konnte. Wehe dem, dem dies nicht gelang, der verwirkte sein Leben“.
Auf einer Reise durch den Westen Sloweniens begegnete mir ein schönes Beispiel für die These, dass unsere Sagenwelt oft aufs Engste verbunden ist mit der Landschaft, aus der sie hervorgeht.
Am Rand des slowenischen Triglau-Nationalparkes liegt nahe dem viel fotografierten Bleder See die Vintgar-Klamm. Das Wasser des Flusses Radovna hat hier Steilwände geschaffen, die bis zu 300 Meter hoch sind. Auf einem Pfad durch den Wald entlang des Westkamms findet der Wanderer eine Informationstafel, die die Sage von einer weißen Schlange erzählt:
Sehr lange währte die Abgeschiedenheit der heute im Zuge der italienischen Einigung von 1860/61 zu Italien gehörenden Sardinien. Sie bestimmt viele Eigenheiten der Geschichte, Kulturgeschichte und sprachlichen Entwicklung dieser Mittelmeerinsel. Die weitreichende Isolation ist zweifelsohne ein Grund dafür, dass die reiche, weit in vorchristliche Zeiten reichende Mythologie Sardiniens mit ihren Narrativen, Volksriten und Bräuchen überleben und bis heute eine maßgebliche Rolle in der sardischen Geschichte, Literatur und Kultur spielt. Die Entstehungsgeschichte wie auch die Namensgeschichte Sardiniens ist untrennbar mit den Mythologien unterschiedlicher Völkerschaften und Kulturen verbundenen, deren geheimnisvoller Ursprung oft bis heute ungeklärt geblieben ist.
Joseph Conrad starb vor 100 Jahren, im selben Jahr wie Kafka. Sie könnten sich sogar 1914 am Berliner Anhalter Bahnhof begegnet sein. Welten liegen sie auseinander, Parallelen wird man dennoch finden: Schuld und Angst, die Ankunft des Totalitarismus, die unüberschaubare Welt – auch wenn Conrad seine Figuren auf einem globalen Maßstab zwischen Asien, Europa, Afrika und Amerika ansiedelt. Conrads Werk hat zudem starke mythische Bezüge: der scheiternde Held, das Labyrinth der menschlichen Beziehungen und malayischen Archipele, Verwandlung, Vergötterung und Verrat. Wir bringen zu seinem 100. Todestag am 3. August einen Essay, den Elmar Schenkel schon zu seinem 150. Geburtstag im Jahr 2007 geschrieben hat. Ersichtlich wird, wie hellsichtig Conrad Themen vorweggenommen hat, die uns heute endlos beschäftigen: (Post)Kolonialismus und das Verhältnis Russlands zum Westen.
„Hinter ihren Schwertern fließt Blut.“ (Das Nibelungenlied)
Sommer. Sonne. Spiele. Auch vor Worms macht die Hitze nicht Halt, kein Bollwerk, das die Wärme stoppt; alles ist durchlässig. „Alles fließt“, heißt es in der berühmten Formel des griechischen Philosophen Heraklit (ca. 520 – ca. 460 v. Chr.), pantarhei (altgriech. πάντα ῥεῖ). Oder präzisier (bei Platon überliefert): „Alles fließt [bewegt sich fort] und nichts bleibt“ (altgriech. Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει; Vgl. Kratylos 402A = A6). Und es sind nicht nur die Wärme, der Sommer, die Zeit, die stetig dahinströmen wie der Rhein, nein, es fließt auch das Blut. Bei Amazon Prime einmal mehr fiktiv-brachial in Szene gesetzt durch die neue Roland-Emmerich-Gladiatoren-Serie „Those About to Die“, in Worms dagegen fließt es für den Zuschauer live und erlebbar bei den Nibelungen-Festspielen. Dort, auf der Bühne vor dem Wormser Dom St. Peter, wird in munterer Reihenfolge das (Kunst-) Blut vergossen, weggeschrubbt, untersucht, sich damit beschmiert, darin gewatet, als sei die Erde, der Himmel, jeder Gedanke aus Blut, im Blut, mit dem Blut. Und am Ende – warten keine genähten Wunden, keine geheilten Narben. Keine Versöhnung. Nur Blut. Das einfach nicht aufhören will zu fließen.
Im ersten Abschnitt gingen wir von Nachweisen der Angaben von Zeit von schriftlosen Kulturen aus und ließen uns durch die materiellen Hinterlassenschaften verschiedener Zeiten tragen. Das zweite, wesentlich kürzere Kapitel führt uns zu philosophischen und theologischen Fragen.
Die Reise unseres heißblütigen Helden nähert sich ihrem Abschluss. Er ist weit gekommen und hat viel gesehen. Sein Großvater Akrisios hatte – aus Angst vor seinem prophezeiten Tod – versucht, Perseus aus dem Weg zu schaffen. Doch der Junge überlebte und wurde auf der kleinen Insel Seriphos vom armen Fischer Diktys und seiner Mutter Danae aufgezogen.
Wenn es denn wahr ist, hat Napoleon neben vielem anderen auch etwas sehr wichtiges gesagt: Es gibt Diebe, die nicht bestraft werden und dem Menschen doch das Kostbarste stehlen: die Zeit.
Das ausgehende 19. Jahrhundert war eine Epoche, in der sich die Darstellung antiker Sujets großer Beliebtheit erfreute. Die sogenannte Salonmalerei bot u.a. mit der Darstellung antiker Alltagsszenen Museums- und Ausstellungsbesuchern die Möglichkeit, dem strengen Moralkodex des Viktorianischen Zeitalters zumindest visuell in eine leichte und sinnenfrohe Welt hin zu entfliehen.
Als ich in den 1990ern nach Leipzig kam, entdeckte ich im Park an der Naunhofer Straße in Stötteritz einen menschengroßen Stein mit einem Loch darin – ein sogenanntes Summloch. Man legt (wenn es nicht verdreckt ist) den Kopf hinein, summt sich in eine Stimmlage, bei der der ganze Körper mitzuschwingen beginnt. Der Stein wurde nach einer Idee von Hugo Kükelhaus (1900-1984) gebaut. In Binz auf Rügen fand ich einen weiteren. Kükelhaus war mein nicht-akademischer Lehrer und ich freute mich, auf seine Spuren zu stoßen, etwa auch in Höfgen an der Mulde, in diesem „Dorf der Sinne“. Das Summloch hatte er sich den steinzeitlichen Höhlen von Malta abgeschaut, in denen wohl Initiationen mit Hilfe von Resonanzphänomenen stattfanden. Heute dienen sie dazu, uns wieder in Verbindung mit dem eigenen Körper zu bringen. Leben ist Schwingung, sagte Kükelhaus, und er zeigte es, indem er Schwingungen erfahrbar machte. Das geschah schon in seinen Vorträgen, die oft Stunden dauerten, ohne dass Leute in den Schlaf flüchteten.
Im Jahre 1993 warnt ein chinesischer Wahrsager in Hongkong einen Journalisten davor, dieses Jahr mit dem Flugzeug zu fliegen. Auf keinen Fall solle er das tun, der Asienkorrespondent des Spiegel werde sonst sein Ende finden. Tiziano Terzani nimmt das Orakel ernst, denn zuvor hatte der Wahrsager eine Narbe bei ihm richtig gedeutet als Tat eines Roten Khmer. Dieses Jahr also fährt Tiziano mit der Bahn durch Asien, mit Taxis und Bussen oder er geht zu Fuß. Fortwährend sucht er Wahrsager auf, in Singapur wie in der Mongolei. All dies schreibt er auf in Fliegen ohne Flügel, ein Buch, das durch seine politisch-historisches Wissen und seine lebendige Neugier allerdings sehr beflügeln kann. Auf einer dieser Fahrten nimmt er ein Buch mit, das er schon seit Jahren ungelesen auf dem Regal stehen hatte: Ferdynand Ossendowskis Beasts,Men and Gods (1922, dt. Tiere, Menschen und Götter). So wie alles auf dieser asiatischer Reise orakelhaft und von sinnvollen Zufällen gestreift ist, ist es auch der Griff nach diesem Buch. Es wird ihm bei seinem erneuten Besuch der Mongolei, dem „Land der Dämonen“, wie es damals hieß, zum Reiseführer durch eine halb-imaginäre Welt; Ossendowski ist „mein Freund, das Gespenst“ (Terzani 365-393).
In der heutigen Folge des MYTHO-Cast folgen wir weiter dem Helden Perseus auf seinem Abenteuer. Die Graien hatten ihm zuletzt den Aufenthaltsort ihrer Schwestern, den Gorgonen, preisgegeben und so ist Perseus nun kurz davor, seinen Auftrag zu erfüllen und das Haupt der Medusa zu erringen.
Das Team vom MYTHO-Cast wünscht viel Freude beim Hören!
Wie wichtig ist es doch, bei der Reflexion über Bücher und Texte mit zu bedenken, unter welchen Umständen man sie gelesen (oft auch: nicht) gelesen oder abgebrochen hat. Das ist der eigentliche Geschmack von Literatur: der Blick aus dem Fenster der Bahn, der Kaffee, der Liebeskummer, Ablenkung von Schmerzen, böser Politik oder auf dem Sofa, im Bett, im Grünen. Die Dinge prägen sich anders ein, man kehrt anders zu ihnen zurück in der Erinnerung, sie bleiben stärker haften. Deutlich wurde mir dies wieder einmal bei den griechischen Mythen, die Marie Luise Kaschnitz in ihrem gleichnamigen Buch nacherzählt hat. Ich nahm mir immer eine Erzählung vor, fuhr zu einem Bäcker in der Nähe und las dort, während Kunden Brötchen und Kuchen kauften, ein Frauenstammtisch sich akustisch verbreitete oder ein Mann des Ladens verwiesen wurde, diese Mythen. Es war ein Akt der Versenkung. Vielleicht ahmte ich damit – noch unbewusst und unter ganz anderen, fraglos besseren Umständen – nach, was die Autorin selbst mit ihren Erzählungen versuchte, nämlich sich aus der historischen, politischen und kulturellen Zeit zu verabschieden, für die Dauer einer Reise in seltsame Universen, denn es war Krieg.
Unweit von Detmold steht eines der bekanntesten Großdenkmale Deutschlands – das Hermannsdenkmal. Es reiht sich ein in eine Gruppe von ähnlichen monumentalen Bauwerken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck in Koblenz, das Niederwald-Denkmal nahe Rüdesheim am Rhein, das Kyffhäuser-Denkmal, das Völkerschlacht-Denkmal in Leipzig, das Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica und einige weitere sind Ausdruck des neuen deutschen Nationalbewusstseins jener Zeit, mit dem die – wie es manche Historiker behaupten – „verspätete Nation“ ihre Größe und Bedeutung zeigen wollte.
Handauflegen, Zauberei und oft der Hexerei beschuldigte Wunderheiler erleben vor allem in Zeiten gesellschaftlicher wie individueller Verunsicherung und verspürter innerer Leere ein wachsendes Interesse. Dazu gehören übernatürliche Phänomene wie Magie, Wunderheilung und Wahrsagen, die alle insgesamt eine Art Flucht aus einer immer weniger durchschaubaren realen Welt ins Übernatürliche, Irrationale, Mythische versprechen.
Pandora erfreut sich seit mehr als zweitausend Jahren großer Popularität. Die mythologische Gestalt mit ihrer so bedeutsamen „Büchse“ oder „Box“ ist über die Jahrhunderte in vielfältiger Weise interpretiert worden, so natürlich auch in der Kunstgeschichte.
Wer sich einem universellen Phänomen nähert, tut gut daran, einmal die Erde mit den Augen von Außerirdischen in den Blick zu nehmen. Wahrscheinlich wäre das Element Wasser dasjenige, was sie am meisten verwundern und anziehen würde: Grundlage von biologischem Leben auf der Erde, aber auch eine Substanz, ohne die der Alltag der Menschen nicht zu denken ist – den Durst stillend, reinigend, nährend. Dazu kommen an die 70 physikalisch-chemische Anomalien, die es kennzeichnen, die drei Aggregatzustände, die Oberflächenspannung, die Fähigkeit, zu reinigen und zu lösen, die kein anderer Stoff hat…
Als ich das erste Mal nach Indien kam, sagte man mir, es gebe dort keine Goethe-Institute. Die Häuser zur Vermittlung deutscher Sprache und Kultur hießen dort vielmehr Max-Muller-Häuser. Ich war etwas verdutzt und ließ mir erzählen, dass dieser Muller sehr wichtig für Indien gewesen sei. Wenn nun indische Bekannte nach Deutschland, gar Leipzig kommen, sind sie wiederum sehr erstaunt, ja enttäuscht, dass niemand hier diesen Muller, also Müller kennt! Es gibt halt so viele Müllers in Deutschland, dass man ein Frankfurt am Main damit füllen könnte. Warum hat er sich auch keinen anständigen Doppelnamen wie Müller-Lüdenscheidt zugelegt – wir würden uns alle an ihn erinnern. Der Name hat ihn hierzulande also mehr oder weniger zunichte gemacht, nicht aber in England, wo er leben sollte, oder in Indien, dessen Kultur er liebevoll erforschte. Denn dieser Friedrich Max Müller war einer der ganz großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Er war einer der berühmtesten Professoren für Sanskrit und Religionsgeschichte in Oxford. Königin Victoria lud ihn als Kapazität öfter nach Windsor Castle ein, als sie Kaiserin von Indien geworden war. Ihm wurde auch der Auftrag erteilt, die dritte Strophe der britischen Nationalhymne ins Sanskrit zu übersetzen, er erhielt die höchsten Orden der Wissenschaft.
Auf wenig mehr als einhundert Seiten gelingt es Remco Campert, tief in das Innere eines Mannes zu blicken, der sich einer Selbstbefragung mit offenem Ausgang unterzieht.
Während wir hier unten auf der Erde dem ganz alltäglichen Wahnsinn nachgehen und dabei eher selten den Blick nach oben richten, ist am Himmel aktuell im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los. Zumindest wenn man der Presse glaubt, bei der dieser Tag vom „Teufelskometen“ die Rede ist. Dabei handelt es sich um einen sogenannten periodischen Himmelskörper, welcher sich der Erde alle 71 Jahre annähert und somit beobachtet werden kann. Sein eigentlicher (und wenig reißerischer) Name lautet 12/Pons-Brooks, und mit dem mythischen Höllenfürsten hat er eher die Assoziation gemeinsam, dass zwei helle Spitzen aus der grün leuchtenden Hülle des Kometen hervorlugten; wohl Ursache von Gasausbrüchen auf der Oberfläche.
In der letzten Folge haben wir Perseus kennengelernt. Verstoßen auf Grund der Paranoia seines Großvaters, wuchs er auf der Insel Serifos auf. Dort wurde Perseus vom lüsternen König Polydektes dazu verleitet, die scheinbar unmögliche Mission anzutreten, das Haupt der Medusa zu erringen.
Auch in diesem Jahr ist es wieder soweit: Der erste Sonntag nach dem Frühlingsvollmond steht in den Startlöchern. Und mit ihm Ostern, das höchste und wichtigste Fest der Christen, bei dem die Kreuzigung von Jesus betrauert und seine Auferstehung gefeiert wird. Mit Ostern endet auch die 40-tägige Fastenzeit, und wer der kirchlichen Osterliturgie eher weniger zugeneigt ist, für den gibt es Ostereier, Osterbrot, Osterlamm, Osterreiten, Osterkerzen oder den Osterhasen (in einigen Gegenden auch den Osterfuchs). In Norwegen dienten die bekannten Osterfeuer im Übrigen auch dazu, Trolle zu verjagen, und man durfte auch endlich die Kleidung wechseln (während der Fastenzeit war das nämlich verboten). Zudem entschied der Ostersonntag über das Wetter. Wenn es regnete, bedeutete dies auch für den Sommer nichts Gutes. Murmeltiertag auf Norwegisch. Nur eben an Ostern.
Die Crawford Chroniken Band I . Die Krähen von Greengate
Ich bewundere intelligente und phantasievolle Unterhaltung. Sie zu finden wird nur immer schwieriger. Zumindest für mich. Dabei bin ich bei weitem kein Kostverächter, wenn es um phantastische Unterhaltungsliteratur geht. Meine Regale sind voll davon, und mit jedem einzelnen Buch habe ich wunderbare Stunden verbracht. Doch ich will mittlerweile mehr als die typische Drachenjagd. Betritt man die Abteilung Fantasy in einer der großen Buchketten, wird man erschlagen von einer Fülle an gleichförmigen Geschichten, die sich nur geringfügig in Story und Charakterdesign voneinander unterscheiden.
Follow me, Reader! Who told you that there is no true, faithful, eternal love in this world! May the liar’s vile tongue be cut out! Follow me, my reader, and me alone, and I will show you such a love!
Der Meister und Margarita – Kultklassiker mit Wendungen
Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow ist, wie schon vor zwei Generationen, ein hochaktuelles Meister(und Margarita)-werk. Das bestätigt das starke Andrängen russischer Kinobesucher in russische Kinosäle, um die seit Anfang des Jahres laufende Verfilmung des Buches zu sehen. Die Gesellschaft nimmt die vertraute Linderungen für alte Krankheiten dankbar auf. Denn in großen Teilen, und das muss zuallererst gesagt werden, ist Der Meister und Margarita ein Aufruf gegen den Totalitarismus. Handlungszentrum ist Moskau der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, also mitten in den Beklemmungen des stalinistischen Terrors – Ausflüge in andere Dimensionen und in das antike Yershalaim kommen dazu.
es ist wieder soweit, die Leipziger Buchmesse lockt mit allerlei neuem Lesestoff und literarischen Begegnungen. Zeit, auch beim Arbeitskreis ein wenig in den Regalen zu stöbern und ein paar Buchempfehlungen zu sammeln. Denn Lesen ist eine der schönsten Nebensachen der Welt.
Der Frühling naht. Sogar in der verschnupften Stadtfauna zeigen sich die ersten zaghaften Triebe, Kinder spielen auf den Straßen und Ostern ist nicht mehr weit. Zeit für eine Heldengeschichte, um den Frühjahrsblues abzuschütteln.
Dafür reisen wir wieder zurück in den Mythos des hitzigen Griechenlands und verfolgen die ersten Schritte eines jungen Helden, der sich fest vorgenommen hat, das Haupt der Medusa zu erringen.
Das Team vom MYTHO-Cast wünscht viel Freude beim Hören.
Nach Worms zu gelangen, ist dieser Tage gar nicht so einfach. Gewiss, man reitet nicht mehr zu Pferd, reist mit der Postkutsche oder pilgert perpedes. Doch da ist die Zeit, die sich viel zu leicht und viel zu unnachgiebig auf die Entschlussfreudigkeit auswirkt. Zeit ist Zeit ist Zeit – das gilt auch in Bezug auf den Zug. Ebenfalls nicht zu unterschätzen: das Wetter. Gefolgt von Schwankungen im allgemeinen Wohlbefinden (auch der innere Reiseschweinehund will gut gefüttert werden) oder von anderweitigen arbeitstechnischen Ablenkungen. Beim dritten Anlauf soll es daher endlich gelingen:
„Uns sind in alten Mären Wunder viel gesagt
von Helden, reich an Ehren, von Kühnheit unverzagt,
von Freude und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen,
von kühner Recken Streiten, mögt ihr nun Wunder hören sagen.“(Vs. 1)
Nachdem wir in der letzten Folge schon einen Ausflug auf den verschlungenen Pfaden des Kalender-Jungles gewagt haben, widmen wir uns heute der Perspektive einer Kultur, die gar nicht so weit weg ist. Woher die Wochentage und Monate im slawischen Sprachraum ihre Namen bekommen haben, und wieviel Mythologie sich dahinter verbirgt, hören wir von dem Slawisten und Anglisten Dr. Hans-Christian Trepte in einer Wanderung durch die Jahreszeiten.
Das Team vom MYTHO-Cast wünscht viel Freude beim Hören.
Interview mit Dr. Hans-Christian Trepte, Dr. Constance Timm und Sebastian Helm
Ein Leben ohne Kalender ist wohl kaum vorstellbar. Doch was für ein Kalendersystem genutzt wird, ist kein unverrückbarer Fakt der Welt, sondern von Epoche und Kultur abhängig. Warum haben wir zum Beispiel heute wieder den 29. Februar? Ein Tag an dem man nicht unbedingt Geburtstag haben möchte, denn er kommt in der Regel nur alle vier Jahre vor. Die Historikerin Dr. Constance Timm geht dem Phänomen auf die Spur und gibt uns in der heutigen Folge einen Einblick in die Logik unserer Zeitordnung, die ihre Ursprünge im Römischen Reich und päpstlichen Reformen hat.
Das Team vom MYTHO-Cast wünscht viel Freude beim Hören.
Wir befinden uns im Museum, stehen vor einem Gemälde. Eine seltsame Anziehungskraft geht von diesem Gemälde aus. Es ist, als würden wir förmlich in die dargestellte Landschaft hineingezogen; wir fühlen uns fast wie eine der in Rückenansicht gemalten Personen, welche im Bild die Landschaft betrachten. Wir sehen Berge, Wälder oder auch das Meer, Segelschiffe, Nebelschwaden, Wolken, Himmel und – Licht. Es ist dieses Licht, was die Gemälde Caspar Davids Friedrichs so einzigartig macht, die unergründliche, schwer zu definierende Lichtstimmung, welche seinen Landschaften eine fast schon transzendente Wirkung verleiht.
Es war einmal … Schnee. Schnee ist „das“ Symbol für den Winter. Wir bauen Schneemänner. Wir lieben Schneeballschlachten. Wir laufen Ski. Wir warten auf „weiße Weihnachten“ und sind enttäuscht, wenn uns Petrus den Wunsch (mal wieder) nicht erfüllt hat. Wir fluchen über Schneematsch und schliddern über von feinen Schneeschichten überzuckertes Eis. Und nichts ist schöner, als sich an einem Sonntag mit einem Buch unter die Decke zu mummeln, während draußen sacht die Flocken fallen. Schnee besitzt gefühlsmäßig etwas geradezu verkitscht-heimeliges. Deshalb Vorsicht! Der Roman „Der Schneesturm“ des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin, erschienen 2012 in deutscher Übersetzung im Verlag Kiepenheuer & Witsch, könnte das traute Bild vom mythisch weißen Winter-Wunderland etwas dämpfen.
Was haben Luke Skywalker, Herakles, Buddha und der Froschkönig gemeinsam? Sie gehen auf einen Grundtypus des Helden zurück und folgen den Stationen der Heldenreise, welche der amerikanische Autor Joseph Campbell beschrieben hat. Sein Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ (The Hero with a Thousand Faces), das 1949 erstmals erschien, ist längst zum Standardwerk der Mythenforschung geworden.
„Und wie vor Jahrtausenden erzählt uns jede Nacht der nächtliche Himmel die immer wieder neue Geschichte von dem Leiden der Königstochter Andromeda, er erzählt uns von der Strafe ihrer Eltern und der Erlösung durch den jugendschönen Perseus und all die vielen Geschichten, die bewusster gelehrter Sternglaube und volkstümliche Weiterdeutung vor nahezu 2500 Jahren an den Himmel gezaubert haben.“
(Wilhelm Gundel: Sterne und Sternbilder im Glauben des Altertums und der Neuzeit, Bonn & Leipzig 1922, S. 80)
Begleitend zur vierten Folge unseres Heldenspecials im MYTHO-Cast sollen hier zwei weitere Darstellungen des Herkules vorgestellt werden, nämlich eben jene, die den Halbgott unter Pygmäen zeigen: Lucas Cranachs „Der schlafende Herkules und die Pygmäen“ und „Der erwachte Herkules vertreibt die Pygmäen“ (beide 1551, heute Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden).
Die meisten kennen das Bleigießen, das sich vor allem an Silvester großer Beliebtheit erfreut. Bleistücke, häufig in Gestalt von Kleeblättern, Glücksschweinen oder Schornsteinfegern, werden über einem kleinen Feuer oder einer Kerze erhitzt, geschmolzen und in eine Schüssel mit kaltem Wasser gegossen. Die dadurch entstehenden Formen können anschließend als Gestalt oder als Schattenwurf gedeutet werden und sollen für das neue Jahr Glück oder Unglück weissagen. Bereits bei den alten Römern war diese Art der Divination (Wahrsagung) bekannt. Aber auch Karten sind ein Medium, das gern zur Zukunftsschau verwendet wird. Großer Beliebtheit erfreut sich hier das Tarot. Ein Grund sich dessen Geschichte einmal näher anzuschauen.
Einschneidende gesellschaftspolitische Ereignisse wie auch politische und militärische Konflikte können dazu führen, dass sich die Sicht auf weit zurückliegende legendäre Ereignisse fundamental ändert. Das betrifft auch die Wertung von Heldenfiguren, deren Erzählungen weit in die vorchristliche Geschichte bis ins Sagenhaft-Mythische zurückreichen, die urplötzlich neu interpretiert werden, polarisieren und einer nationalen Vereinnahmung unterliegen. Das trifft im osteuropäischen Kontext gerade auf das Erbe und die Tradition der Kiewer Rus zu, die von Russland, der Ukraine und Belarus für sich in Anspruch genommen werden. Zu den in diesem Zusammenhang anzuführenden Beispielen gehört auch die aus vorchristlicher Zeit stammende slawische Heldendichtung, die im ostslawischen Raum etwa seit dem 11. Jahrhundert entstand und fast immer historische Bezüge zu legendären Ereignisse und Helden aufweist. Zu den bekanntesten literarischen Texten gehört zweifelsohne das „Igorlied“ bzw. das „Lied von der Heerfahrt Igors“ über den missglückten Feldzug des gleichnamigen Fürsten von Nowgorod gegen die Polowzer Fürsten. „Wie wäre es, Brüder, wenn wir anfingen, nach den alten Überlieferungen die schwere Geschichte vom Zuge Igors zu erzählen, vom Zuge des Swjatoslawitsch.“[1] Eine immer wieder gern zitierte Textstelle aus dem „Igorlied“ lautet: „Es ist schwierig für den Kopf / ohne Schulter zu sein / Aber es ist genauso ein Unglück / für den Leib ohne Kopf zu sein.“ Außer Zweifel eine wichtige Aussage, die nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt hat.
On revient toujours à ses premiers amours – man kehrt immer zurück zu den ersten Liebschaften – so bei mir Wilhelm Busch. Beim Aufräumen entdeckte ich Hefte mit Nachzeichnungen vom Lehrer Lämpel, Max und Moritz, Witwe Bolte, Schneider Böck und welche anderen Figuren dieses Universum des 19. Jahrhunderts noch bewohnten. Wilhelm Buschs Bilder, später auch die Texte, waren für mich eine Brücke in diese Vergangenheit. Ich fand die dicken Bände im bäuerlichen Haus meiner Großeltern auf dem Dorf und las in ihnen, während sie sich zum Nickerchen in ihre Gemächer zurückzogen. Es war die größte Stille, die man sich vorstellen kann, die Mittagsstille auf dem Lande. Und in diese stürzten sich Sonderlinge und foppende Affen, alte Junggesellen und dralle Mädchen, Imker und Bienenköniginnen – ein Staat für sich, und doch mit unsichtbaren Banden verknüpft mit diesem Haus, in dem ich solche Comic-Gestalten verschlang. Mit meinen Busch-Kopien wollte ich mir Eindruck verschaffen, vor allem bei einem Mädchen, das als einziges unser Jungen-Gymnasium damals besuchte. Der Versuch ging daneben, aber der Busch, der blieb.
wieder geht ein Jahr zu Ende. Ein Jahr, in dem wir uns in Veranstaltungen und Blogartikel mit den Mythen und den Büchern befasst haben. Beides wird uns auch ins nächste Jahr begleiten. Darüber hinaus haben wir uns im Jahr 2024 auch den Mythen der Macht und der Macht der Mythen verschrieben. Denn gerade die Mythologie mit ihren sinnstiftenden Narrativen, Ritualen, Vorstellungen von Göttinnen und Göttern, dem Entstehen und Vergehen der Welt war im Verlauf der Menschheitsgeschichte neben Kultur, Religion und Sprache immer auch mit der Macht verbunden. Welches Wissen wird geteilt? Welches Wissen bleibt im Verborgenen? Wer ist befugt mit Gott (den Göttern) zu kommunizieren und wie wirkt sich dies auf den Zusammenhalt von Gesellschaften, auf Besitzansprüche und Deutungshoheiten aus?
im zweiten Teil unseres Podcast-Weihnachtsspecials wird es spannend. Gelingt es Ebenezer Scrooge, dem Protagonisten von Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte, durch das Erscheinen der Geister, sein Herz zu öffnen und ein besinnliches Weihnachtsfest zu feiern?
Wir wünschen weiter viel Freude beim Hören und natürlich schöne und mythische Weihnachten.
Das Team vom MYTHO-Cast
Textvorlage geschrieben von Charles Dickens in Übersetzung von Richard Zoosman und Gustav Meyrink aus dem Englischen
Gesprochen von Sebastian Helm
Intro und Outro gesprochen von Sebastian Helm und Constance Timm
zur Einstimmung auf die anstehenden Festtage haben wir in diesem Jahr ein weihnachtliches Hörspecial im Programm. Dabei dreht sich alles um einen kalten, geizigen Mann, der von Geistern geläutert wird, um am Ende den wahren Wert von Weihnachten zu erkennen. Wisst ihr schon, wer gemeint ist?
Dann hört selbst, wie alles seinen Anfang nahm.
Das Team vom MYTHO-Cast
Textvorlage geschrieben von Charles Dickens in Übersetzung von Richard Zoosman und Gustav Meyrink aus dem Englischen
Gesprochen von Constance Timm
Intro und Outro gesprochen von Sebastian Helm und Constance Timm
Die Wochen vor und nach Weihnachten sind geprägt von zahlreichen überlieferten Bräuchen. Ohne dass es heute noch bewusst wäre, geht vieles davon auf vorchristliche Traditionen oder magisches Denken zurück. Das Bleigießen zu Silvester, die Weihnachtsmahlzeit für Haustiere oder auch das Verbot des Wäschewaschens nach Weihnachten und viele andere Bräuche haben ihre Wurzeln in heidnischen/magischen Vorstellungen. Dies gilt auch für die Bräuche und Vorstellungen zu den so genannten heiligen zwölf Nächten. Hierunter versteht man in der Regel den Zeitraum vom 25. Dezember bis zum 6. Januar. Diese Zeit wurde auch – abhängig von der Region – als „Zwölften“, „Rau[c]hnächte“ oder „Wandertage“ bezeichnet. (Zur regionalen Verteilung der unterschiedlichen Bezeichnungen vgl. die Karte bei Beitl/Erich 1974: 919)
In den vergangenen Episoden des MYTHO-Cast (Der trunkene Herkules und Herkules am Scheideweg) sind wir den Abenteuern eines der bekanntesten antiken Helden gefolgt und musste dabei feststellen: Es ist gar nicht so einfach, ein Held zu sein. So auch nachzuhören in unserer aktuellen Podcast-Folge, in der Herakles weitere seiner 12 Aufgaben bestehen muss. Aber was macht einen Helden überhaupt aus?
Mythologen horcht auf, hier wird unsere Profession angesprochen! Was machen wir mit Mythen, was aber machen vor allem sie mit uns? Das ist die Frage, die sich hier das Autorenteam auf vielen Seiten stellt. Ausgangspunkt ist die Heldenreise, wie sie Joseph Campbell weltweit gefunden hat. Nach ihr ist auch das Buch komponiert. Die Kapitel rekapitulieren die Stationen des Helden oder der Heldin – man denke etwa an Frodo in Herr der Ringe oder an Märchenabenteuer: die gewohnte Welt, der Ruf des Abenteuers, die Weigerung, der Mentor, die erste Schwelle, die Proben und Feinde, das Vordringen, die entscheidende Prüfung, der befreiende Schlag, die Rückkehr und Auferstehung, das gewonnene Elixier. Klar, in diesem Buch wird auch nachgewiesen, dass diese Heldenreise maßgeblich auf den Mann geschneidert ist, trotz vieler Wonder Women und anderer Heldinnen. Dagegen bieten die Autorin und der Autor (El Ouassil ist Podcasterin, Kolumnistin und Germanistin, Karig ist Journalist und Schriftsteller) Modelle weiblichen Heldentums an: es sei weniger individualistisch und mehr auf soziales Handeln angelegt.
Nachdem wir bereits den Trunkenen Herkules vorgestellt haben, soll begleitend zu unserer aktuellem Podcast-Folge, in der wir von den Aufgaben des Helden erzählen, ein weiteres Gemälde besprochen werden, welches eine Episode aus dem Leben des Halbgottes Herakles (röm. Herkules) beschreibt: „Herkules am Scheideweg“ von Annibale Carracci, (1596, heute Museo di Capodimonte, Neapel).
Ohne Übertreibung kann dieses Opus – mittlerweile von den Herausgebern in der dritten Auflage hervorragend betreut – als Monumentalwerk bezeichnet werden. Geriet schon die erste Auflage 2008 zu einem Standardwerk, so ist diese dritte Auflage dank etlicher Erweiterungen – es handelt sich um Neuaufnahmen von Lemmata und um das Bedeutungsregister, das das Buch in die Tiefe hinein zu erschließen vermag – die mit 1,7 kg Gewicht wahrhaft schwergewichtige Fortsetzung.
„Wenn man beim Gehen viel denkt, spielt Entfernung keine Rolle mehr.“ (Elmar Schenkel)
Haben Sie schon einmal mit dem Gedanken gespielt, auf Weltreise zu gehen? Wenn ja, welche Länder, Städte oder Landschaften würden Sie wählen? Mit welchem Transportmittel würden Sie reisen? Flugzeug? Schiff? Auto? Zug? Oder gar zu Fuß? Wer sollte sie auf der Reise begleiten? Und wem würden sie gern begegnen wollen? Reisen ist nicht gleich Reisen und Reise nicht gleich Reise. Reisen bedeutet nicht nur metaphorisch einen Fuß vor den anderen zu setzen, sondern auch neugierig zu sein, zu sehen, zu erkennen, sich inspirieren zu lassen, zu reflektieren etc. Der Weg ist das Ziel. Und die Strecke bis zum Ankommen gleicht einer Suche nach dem Unbekannten um uns und in uns.
Den ersten Teil vom mythischen Werdegang des Herakles hören Sie hier:
Begleitend zur aktuellen Folge des MYTHO-Cast soll im Folgenden ein Gemälde von Rubens vorgestellt werden, welches den griechischen Helden Herakles (röm. Herkules) in einer eher ungewöhnliche Szenerie präsentiert. Herakles war der Sohn des Göttervaters Zeus und der Sterblichen Alkmene, der Gemahlin des Amphitryon. Der Halbgott galt als Sinnbild der Stärke und des Mutes und wurde in der Antike kultisch verehrt. Herakles/Herkules zählt zu den bekanntesten Gestalten der griechisch-römischen Antike und dürfte den meisten nicht zuletzt auch durch zahlreiche Verfilmungen ein Begriff sein.
Blau. Es ist diese besondere Farbe, die man nicht so schnell vergisst. Die Farbe, in der sich die Betrachtung eines wolkenlosen Himmels mit der paradiesischen Idylle eines unbewegten Meeres an einem Strand verbindet. Die Farbe, die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt angelockt hat – und vermutlich ab 2037 erneut anlocken wird. Blau. Die Farbe des wiedererstanden Babylon im Vorderasiatischen Museum Berlin.
Es gibt ihn als Frucht, als Öl oder zubereitet als Gemüse, Suppe und Kuchen. Er ist häufig im Garten anzutreffen und am bekanntesten in der Farbe Orange. Er kann ein Gesicht tragen – mal grinsend, mal schaurig. Manchmal glüht er auch von innen heraus. Ganz klar, er ist DAS Markenzeichen von Halloween: der Kürbis (lat. curcubita).
Ursprünglich war der Kürbis vor allem in Mittel- und Südamerika beheimatet. Es gibt ihn noch heute in unzähligen Sorten. In Bolivien fand man Kürbissamen, die auf über 10.000 Jahre zurückdatiert werden konnten. (vgl. Lombardo u. a. In: Nature 08. April 2020) Zusammen mit Mais und Bohnen zählt der Kürbis zu einer alten Anbautradition, die sich Milpa oder „Die drei Schwestern“ nennt und noch heute von den Maya betrieben wird. Neben dem Kürbis zählen hierzu der Mais und die Bohne. Alle drei werden gemeinsam angebaut und bilden auf diese Weise eine Symbiose: Der Kürbis verhindert aufgrund seiner großen Blätter die Austrocknung und Erosion des Bodens, der Mais dient den Bohnen als Rankhilfe und die Bohnen wiederum versorgen den Mais mit Stickstoff. Das System dient nicht nur dazu, die Artenvielfalt zu erhalten, sondern stand und steht für die Maya auch in direktem Bezug zur Kosmologie – so wurden nach dem Schöpfungsmythos Popol Vuh die Menschen von den Göttern aus Maisbrei erschaffen.
Wirft man einen Blick auf die weltweiten Pflanzenmärchen, fällt auf, dass Geschichten über Bohnen und Kürbisse auch in Afrika, Asien und Europa vorkommen – hier spielt die Verbreitung des Flaschenkürbis (lat. lagenaria siceraria) eine Rolle. Durch Untersuchungen der DNA von Kürbissamen gelangte man zu dem Schluss, dass dieser ursprünglich aus Afrika stammte und durch die Meeresströmungen u. a. nach Mittel- und Südamerika, aber auch nach Asien gelangte. Die Keimfähigkeit der Samen kann bis zu einem Jahr erhalten bleiben. Früheste Verbreitungsgebiete waren demnach Mexiko, Japan und Peru (vgl. Kristler u.a. 2014; Hirst 2019)
Auch in Ägypten und von dort aus im Mittelmeerraum war der Flaschenkürbis heimisch. Der griechische Arzt und Schriftsteller Diokles erwähnt ihn im 4. Jh. v. Chr. Im 1. nachchristlichen Jahrhundert erwähnt ihn der römische Gelehrte Plinius der Ältere als Behältnis von Flüssigkeiten. Getrocknet und ausgehöhlt diente er auch als Ritualgegenstand zum Bannen von Geistern. Zudem spielte er noch heute als Instrument (Rassel, afrikanische Jägerharfe) eine Rolle. Und bis weit ins Mittelalter hinein wurde der Flaschenkürbis sogar als Gemüse angebaut.
Kürbissamen kamen auch in der Heilkunde ein wichtiger Stellenwert zu, so u.a. bei Prostatabeschwerden. Darüber hinaus wird Kürbisöl gern und häufig bei der Zubereitung von Speisen verwendet.
Seit dem 16. Jahrhundert werden Riesenkürbisse auch in Europa angebaut. Auch bei der Geschichte von Jack o’Lantern, der klassische Halloweengeschichte, spielt er Kürbis eine Rolle (es gibt mit dem Jacko’Lantern-Kürbis mittlerweile sogar eine eigene Sorte).
Der Trunkenbold Jack soll vom Teufel geholt werden, kann diesen aber zweimal überlisten und der Teufel muss ihm zudem schwören, dass Jack nie in die Hölle kommt. Als Jack schließlich stirbt und an der Himmelspforte klopft, bekommt er da aber keinen Einlass und man schickt ihn zur Hölle. Da aber steht er ebenso vor verschlossener Tür. Da es aber im Zwischenbereich von Himmel und Hölle sehr kalt, dunkel und windig ist, bekommt der Teufel Mitleid und schenkt Jack eine Stück Kohle aus dem Höllenfeuer. Jack steckt die Kohle in einen ausgehöhlten Kürbis (in einer Version der Geschichte ist es eine Rübe), den er als Wegzehrung bei sich trägt und wandelt seitdem mit seiner Laternen als verdammte Seele am Vorabend von Halloween durch das Dunkel.
Mit einem Kürbis und einen Licht kann es also gelingen, die Geister und den Teufel fernzuhalten. Klingt gruselig? Doch es geht noch gruseliger. Denn in einem Pflanzenmärchen aus Westafrika ist von einem gefräßigen Kürbis die Rede. Es handelt von einem kleinen Mädchen namens Furaira, das unbedingt einen kleinen Kürbis haben will. Ihre Mutter Watapansa lehnt zunächst ab, aber auf Drängen des Vaters, und weil die Kleine so verzweifelt weint und sich so sehnlichst den Kürbis wünscht, geht diese und holt den Kürbis. Mit ungeahnten Folgen, wie man in der Geschichte nachhören kann.
Seien Sie also ein wenig misstrauisch, wenn Ihnen ein Kürbis entgegengrinst.
Allen Leserinnen und Lesern Happy Halloween!
Das Team vom MYTHO-Blog
Das Märchen „Der gefrässige Kürbis“ finden Sie zum Nachlesen in: Pflanzenmärchen aus aller Welt. Ausgewählt und illustriert von Djamila Jaenike. 2. Aufl. Mutabor Verlag: Trachselwald 2020.
Wir danken dem Mutabor Verlag für die freundliche Genehmigung.
L. Kistler, A. Montenegro, B. D. Smith, J. A. Gifford, R. E. Green, L. A. Newsom, B. Shapiro: Transoceanic drift and the domestication of African bottle gourds in the Americas. In: Proceedings of the National Academy of Sciences. 2014
Umberto Lombardo, José Iriarte, Lautaro Hilbert, Javier Ruiz-Pérez, José M. Capriles, Heinz Veit: Early Holocene crop cultivation and landscape modification in Amazonia. In:Nature. 2020.
In den nachvedischen Texten Bṛhadāraṇyaka Upaniṣad (BĀU), Chāndogya Upaniṣad (ChU) und Aitareya Āraṇyaka (AĀ), alle grob um 600 v. Chr. entstanden, wird die herausragende Stellung des Atems gegenüber anderen Lebensfunktionen (Hörsinn, Sehsinn, Verstand, …) auf verschiedene Weise und in Form kleiner Geschichten aufgezeigt. Alle diese Rangstreitfabeln sind unterhaltsam. Und einige von ihnen enthalten methodisches Wissen, das in neuem Gewand in den Schriften des Mathematikers und Ökonoms Lloyd Shapley (Wirtschafts-Nobelpreis 2012) und des Soziologen Richard Emerson wieder auftaucht.
Vom Ostmittelmeerraum rund um Griechenland haben sich zahlreiche Märchen über ganz Europa verbreitet. Aus mythischen Erzählungen und der griechischen Mythologie haben sich Symbole, Beziehungen und Motive im heutigen europäischen Volksmärchen niedergeschlagen. Angelehnt an die These, das Märchen sei die kleine Schwester des Mythos, weisen die ‚archaischen‘ Märchen im Sujet eine deutliche Verbindung zu Mythen, Ritualen und Stammesbräuchen auf. Besonders in den Tiermärchen haben sich die für mythische Trickstergeschichten charakteristischen Motive niedergeschlagen. Die Zaubermärchen erzählen von den Ehen mit mythischen Wesen, die beispielsweise vorübergehend ihre tierische Haut abstreifen und menschliche Gestalt annehmen, wie im Märchentyp ATU 400[i]Mann auf der Suche nach der verlorenen Frau oder ATU 425 Amor und Psyche. Mythische Motive und Parallelen zu Jenseitswanderungen des Mythos finden wir auch in Märchen über den Besuch anderer Welten zur Befreiung von Gefangenen wie in ATU 301 Die drei geraubten Prinzessinnen.
Voi che pel mondo gite errando vaghi di veder meraviglie alte et stupende – Ihr, die ihr durch die Welt auf vagen Reisen umherirrt, die hohen und erstaunenden Wunder zu sehen…
das Buch ist tot, es lebe das Buch! Oder wie der schottische Historiker Thomas Carlyle (1795-1881) es ausgedrückt hat: „In den Büchern liegt die Seele aller gewesenen Zeit.“ Bücher ermöglichen uns nicht nur gegenwärtige Reisen in Vergangenes und Künftiges, sondern verstehen es auch, unsere Fantasie anzuregen, die Welt oder uns selbst infrage zu stellen, fordern es geradezu heraus, dass wir uns in ihren rationalen wie irrationalen Gedankengebäuden verlieren oder entführen uns in emotionale Labyrinthe.
Die Volksmärchen ranken sich häufig um entzückende Bräute, die in Pflanzengestalt erscheinen, aus ihr er- oder aus einer Pflanze emporsteigen. Metamorphosen von Mensch zu Pflanze und Pflanze zu Mensch finden sich in den Märchen weniger häufig als Tierverwandlungen, dennoch sind sie weltweit anzutreffen. Pflanzenbraut wie Tierbräutigam sind immer Teil einer Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau, in der der menschliche Partner eine aktive Rolle bei der Erlösung und der damit einhergehenden Zurückgewinnung der menschlichen Gestalt einnimmt. Allein in den Begrifflichkeiten Pflanzenbraut und Tierbräutigam stoßen wir auf einen großen, wenn auch nicht ausnahmslosen Unterschied – nämlich, dass Tierverwandlungen in Märchen häufig Männer betreffen, während die Pflanzenverwandlung fast immer das weibliche Geschlecht betrifft. Beispiele wie die Schwanjungfrau oder der in einen Baum verwandelte Jüngling aus Grimms Die Alte im Wald gehören zu den selteneren Ausnahmen. Ein weiterer großer Unterschied zu den Tierbräutigamerzählungen und zugleich Merkmal der Pflanzenverwandlungen im Märchen ist, dass letzteren meist keine Verfluchung, Strafe oder böswillige Verwünschung durch Gegenspieler wie Dämonen, Hexen oder den Teufel vorausgehen.
In der aktuellen Folge des MYTHO-Cast dreht sich alles um den Schriftsteller Edgar Allan Poe ( 1809-1849) und seine dunkle Poesie. Dazu werden wir uns auch seinem berühmten Gedicht „Der Rabe“ widmen.
Stille. Pause. Gestern gingen wir durch ein Labyrinth, es war überwachsen vom Maigras. Über uns thronte ein Schloss und weiterhin der Himmel. In der Mitte eine Blechskulptur an einem toten Geäst: der Minotaurus. Man bewegte sich hintereinander gehend durch das hohe Gras. So entstand im Gehen das Labyrinth. Aber die Art des Schreitens! Einen Fuß vor, dann mit dem hinteren nochmal auf die Ferse zurück. Pause. Kurz, aber stark, denn sie richtet den Blick nach oben, ins Blaue oder Bewölkte, der Atem geht anders. Das Ziel muss immer zum Verschwinden gebracht, Zukunft durch Gegenwart unterbrochen werden. Eine kurze Wippe rückwärts und schon öffnet sich eine kleine Tür. Der Atem, das Aufblicken erschaffen einen Raum, für den ich noch kein Wort habe, nur das zeitliche: die Pause.
Der Wunsch, die Zukunft zu kennen, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst, und bis heute ist dieses Verlangen nach dem Wissen um zukünftige Ereignisse ungebrochen. Dafür liefern Wettervorhersagen, Wirtschafts- und Gesellschaftsprognosen sowie Horoskope tagtäglich reiches Beweismaterial. Kenntnisse über Ereignisse in naher oder ferner Zukunft durch prognostische Praktiken zu erlangen, sich dieses Wissen zunutze zu machen, um andere übervorteilen zu können bzw. sich dem Gelingen eigener Vorhaben zu versichern, ist ein gesellschafts- und zeitübergreifendes Phänomen.
„Den göttlichen Wahnsinn aber teilten wir nach vier Göttern in vier Teile und eigneten den weissagenden Wahnsinn dem Apollon zu, den der Weihen dem Dionysos, den dichterischen den Musen, den vierten aber der Aphrodite und dem Eros, und den Wahnsinn der Liebe nannten wir den besten.“ (Platon, Phaidros)
Die dichotomische Einteilung in schwarze, böse, unheilbringende und in helle, weiße, erlösende Mächte ist zweifelsohne für die Magie in zahlreichen Märchen, Legenden und Sagen unterschiedlicher Provenienz typisch. In der Magie, vom Persischen „Magh“ bzw. Maghdi“ abgeleitet, geht es ursprünglich um das „Können“, um die „Macht“ bzw. Machtausübung mit Hilfe von Naturkräften und Technik. „Können“ und „Macht“ bildeten dementsprechend auch die Grundlage für eine Art Universalwissenschaft (Astronomie, Astrologie und Medizin). Die christliche Kirche sah die Magie dagegen zunehmend kritisch, verdammte sie als einen willkürlichen Eingriff in Gottes Willen, stellte sie als einen schädlichen Trug von Dämonen an den Pranger, verurteilte sie als eine teuflische, sündhafte Vorstellung und lehnte sie als ein Vergehen bzw. Verbrechen kategorisch ab. Die Grenzen zwischen einer der Weißen Magie, die dem göttlichen Willen entsprechend verborgene Naturkräfte erschließen und nutzbar machen sollte und einer Schwarzen Magie, bei der die Kräfte der Natur gegen Gott ausgespielt werden würden, sind nicht immer leicht und eindeutig zu ziehen.
Wieso faszinieren uns Mythen? Warum sollten wir uns intensiver mit ihnen auseinandersetzen? Und : Lebt unsere Gesellschaft momentan in einem Mythos (oder mehreren)? Der Anglist und Schriftsteller Elmar Schenkel hat auf letztere Frage die folgende Antwort gegeben:
Es ist August und die Sternschnuppen sind los. Neben den Quadrantiden (Januar), den Leoniden (November) und den Geminiden (Dezember) zählen die Perseiden, die jährlich im Zeitraum vom 17. Juli bis 24. August am nächtlichen Himmel zu sehen sind, zu den bekanntesten Meteorstürmen. Dass wir dieses Phänomen beobachten können, hat mit dem jährlichen Sonnenumlauf der Erde zu tun. Auf ihrem Weg kreuzt oder gerät unser Planet regelmäßig in die Nähe von Asteroiden- oder Kometenbahnen. Gas- und Staubpartikel der Himmelskörper sind dann als Sternschnuppen am Nachthimmel sichtbar. Je nachdem,, wo der Radiant liegt, jener Punkt der den scheinbaren Anfang der Sternschnuppen markiert, leitet sich der Name des Schwarms ab. So haben die Perseiden ihren „Ursprung“ im Sternbild Perseus.
Mit der mythologische Gestalt des Titanen Prometheus verbinden die meisten von uns hauptsächlich drei Aspekte: den Menschenschöpfer, den Feuerbringer und vor allem den drakonisch Bestraften, weil er es gewagt hatte, sich gegen Zeus aufzulehnen.
Begleitend zur ersten Folge des MYTHO-Cast, dem Podcast unseres Vereins, beschäftigt sich dieser Text mit der künstlerischen Darstellungen des gefesselten Titanen – ein beliebtes Motiv vor allem in der Malerei der Barockzeit. Zahlreiche bildende Künstler interpretierten den gepeinigten Prometheus, darunter Gregorio Martínez y Espinosa (Spanien, 1547-1598), Dirck van Baburen (Niederlande, 1595-1624), Jusepe de Ribera (Neapel, 1591-1652), Theodoor Rombouts (Flandern, 1597-1637), Gioacchino Assereto (Italien, 1600-1649), Salvator Rosa (Italien, 1615-1673) und Luca Giordano (Italien, 1634-1705). Zwei prominente Kunstwerke dieses Sujets sollen an dieser Stelle näher vorgestellt werden.
Roger Caillois (1913-1978) ist hierzulande nur wenigen bekannt. In Frankreich sind seine Werke recht verbreitet und es erscheinen immer wieder Bücher oder Texte aus dem Nachlass. Auf Deutsch sind unter anderem seine poetisch-mythologischen Studien zu Steinen erschienen, zum Kraken, zur Dissymmetrie, das einflussreiche Die Spiele und die Menschen, eine Autobiographie und ein Buch über Patagonien. Caillois stand den Surrealisten nah und war Mitbegründer des Collège de Sociologie in Paris, das Untersuchungen zum Heiligen und zur Irrationalität überhaupt vorantrieb. Er wählte 1939 jedoch das Exil in Argentinien, von wo aus er den französischen Widerstand gegen die deutsche Okkupation publizistisch unterstützte. Hier lernte er auch Jorge Luis Borges kennen, den er nach dem Krieg in Frankreich und Europa bekannt machte.
„Es gibt Bücher zum Verkaufen und Bücher zum Aufbewahren. Was letztere angeht, so tritt man der Bibliophilie bei wie einer Religion: fürs ganze Leben“ – Varo Borja – (S.65)
Es gibt zwei Gründe, warum die meisten Menschen Bücher besitzen: entweder zur Unterhaltung am Abend oder weil sie berufsbedingt mit Büchern zu tun haben. Und dann gibt es noch jene, die ihre Schwiegermutter für eine seltene Erstausgabe ihres Lieblingsautors verkaufen würden. Solche Leute sind das Klientel von Lucas Corso, dem Hauptprotagonisten in Der Club Dumas von Arturo Pérez-Reverte. Denn Corso ist Bücherjäger. Und er ist der Beste in seinem Job.
Am Sternenhimmel sind bei idealen Bedingungen (d.h. ohne die in Mitteleuropa häufige Lichtverschmutzung) mit bloßem Auge mehrere Tausend Sterne zu erkennen. Wie archäologische Befunde zeigen, hat der Mensch schon früh in der Kulturgeschichte Interesse für die Astronomie, d.h. für die Gegebenheiten des Sternenhimmels, entwickelt. Die sogenannte Himmelsscheibe von Nebra ist wohl eines der bekanntesten Beispiele hierfür.
In der vergangenen Woche hatte ich das Vergnügen, der Fachtagung der Europäischen Märchengesellschaft im Rheinland-Pfälzischen Vallendar beizuwohnen. „Zauberpflanzen – Pflanzenzauber“ stand auf der Agenda. Ein Thema, dem man nicht nur in Märchen, sondern auch in der Mythologie auf die Spur kommen kann, und vielleicht ist es kein Zufall, dass der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie gerade in Leipzig gegründet wurde, in „Libzi“, dem Ort der Linden (sorbisch „lipa“ > Linde). Linden galten bei Germanen und Slawen als heilige Bäume. Ihre herzförmigen Blätter symbolisierten und symbolisieren die Liebe, oft wurde aber auch unter Linden Gericht gehalten. Nach Seuchen- oder Kriegsjahren stiftete man Friedens- oder auch Kaiserlinden und unter Dorflinden tauschte man Nachrichten aus, hielt Brautschau oder spielte zum Tanz auf. Von Lindenblättern weiß man, dass sie das Gemüt beruhigen. Früher glaubte man gar, dass sie böse Geister und Dämonen fernhielten. Beste Voraussetzungen also, sich in ein magisch-botanisches Abenteuer zu stürzen und vor allem die Kräuter, welche in Mythen und Märchen die ewige Jugend verheißen oder Verstorbene vom Tod zurück ins Leben holen, ein wenig näher unter die Lupe zu nehmen.
Im Leben gibt es eine Geographie, die unsere eigene Geschichte, unsere Schwerpunkte und Interessen widerspiegelt. Manche Orte sind nur mit bestimmten Lebensphasen verbunden. Wenn die Menschen verschwinden, sterben oder Freundschaften sich auflösen, die mit diesen Orten verbunden sind, dann verschiebt sich die seelische Geographie. Lange war für mich Freiburg zentral oder ein Ort in Großbritannien (westlich von Birmingham), russische Namen auf der Landkarte – dann endet das Studium, Freunde verlassen die Welt oder ein bis dato geliebtes Land überfällt das Nachbarland. Aus ist’s mit den Reisen dorthin. Seit 25 Jahren bin ich immer wieder nach Pondicherry gefahren. Wenige Kilometer entfernt davon liegt Auroville, eine Siedlungsstadt, die als Zukunftsvision vor gut 65 Jahren entstand. Dort wohnt mein Vetter (mit seiner indischen Frau) seit einem halben Jahrhundert und arbeitet als Architekt und Archäologe. Ohne ihn wäre ich wohl nicht nach Indien gegangen, schon gar nicht so oft. Für mich ist das international aufgestellte Auroville, in einem großen Wald gelegen, immer ein Anlaufpunkt gewesen, vor allem auf meiner ersten Reise 1998. Indien ist für den unvorbereiteten Europäer eine große Nummer: verwirrend, rasend, schön, arm und selig, stinkend, schlechte Luft, Hupsinfonien, überwältigende Tempel, wunderbare Menschen und seltsame Gockel.
In den Mythologien Mesoamerikas gilt der Nagual oder Nahual als persönlicher Schutzgeist, der in tierischer wie pflanzlicher Form in Erscheinung treten kann. Diese Schutzgeister können bei einigen Menschen auch Schrecken auslösen. Der französische Historiker, Ethnologe und Archäologe Abbé Charles Étienne Brasseur de Bourbourg (1814 – 1874) sowie der US-amerikanische Ethnologe und Archäologe Daniel Garrison Brinton (1837-1899) wollten im überlieferten Mythos einen „Nagualismus“, eine geheime Untergrundbewegung erkennen, die dem Kolonialismus gefährlich werden könne und die Zerstörung der christlichen Gesellschaftsordnung zum Ziel habe.
Der jüdische Kaufmann und bibliophile Intellektuelle Salman Schocken (1877 – 1959) gehörte in der Zeit der Weimarer Republik zu den bekanntesten Persönlichkeiten im öffentlichen Leben Deutschlands. Von seinem Aufstieg vom Handelsvertreter zum Leiter eines riesigen Konzerns, seinem Werdegang als Verfechter des Zionismus, dem besonderen Verhältnis zu Sprache und Literatur, der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland und seinem Leben im Exil nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht sein Lebensweg für ein bedeutendes und paradigmatisches Stück deutsch-jüdischer Zeitgeschichte. Soweit Salman Schocken im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland heute aber noch präsent ist, kennt man ihn lediglich als den erfolgreichen und innovativen Geschäftsmann, der nicht zuletzt durch seine modernen Kaufhausbauten (zum weitgehend erhaltenen Chemnitzer Haus existiert inzwischen umfangreiche Literatur) in Erinnerung geblieben ist.
Unzählige Dichter haben das sagenhafte Vineta besungen, so u.a. Heinrich Heine, Ferdinand Freiligrath, Theodor Fontane, Erich Kästner, Selma Lagerlöff und viele andere. Auf unterschiedliche Art und Weise wird Vineta als Metapher, Motiv, oder literarischer Topos immer wieder gerne aufgegriffen, weitergedichtet, fortgeschrieben und neu interpretiert. „Vineta – das geheimnisvolle Atlantis der Ostsee“ ist neben der Literatur auch zu einer beliebten Werbe-Ikone geworden. So gibt es u.a. ein Kinderspiel, bei dem die Spieler die Rolle wütender nordischer Götter übernehmen, die versuchen Vineta auf vielfältige Weise zu versenken.[1]
Vor einigen Jahren, es war um die Maienzeit, durfte ich zu einem Universitätsseminar, das sich dem modernen Neuheidentum widmete und von der Wicca-Forscherin Dr. Britta Rensing (Die Wicca-Religion, 2007) geleitet wurde, einen Vortrag über das Book of Shadows beisteuern, das in der neopaganen Religion namens Wicca eine große Bedeutung hat. Als ich zu Beginn in die Runde fragte, worum es sich bei diesem Buch der Schatten handeln könnte, kamen die verschiedensten Ideen zu Tage: die Bibel der schwarzen Magie, eine Dämonologie der Schattenwelt, die heilige Schrift des Neopaganismus, der theologische Kanon des modernen Hexentums und, und, und. Die Ideen trafen zwar nicht recht zu, waren aber vollkommen plausibel, schließlich hatten ja so einige okkultistische Strömungen der Moderne Schriften hervorgebracht, die ihrer Anhängerschaft als spirituelle „Richtschnur“ (altgr. Κανών; kanón) dienten – etwa die Satanic Bibel (1969) von Anton Szandor LaVey, dem Begründer der Church of Satan, oder das Liber AL vel Legis („Buch des Gesetzes“, 1909) von Aleister Crowley, dem „Godfather“ des modernen Okkultismus. Das Book of Shadows sorgte für Irritationen und Diskussionen: War Wicca nun tatsächlich eine „Buchreligion“, die ein Konvolut normativer Texte für eine konzeptuelle Religionspraxis bereitstellt? Nach und nach wurde klarer, dass sich Wicca ebenso wie das Buch der Schatten den klassischen religionswissenschaftlichen Kategorien entzieht und es hier besonders wichtig ist, einzelne Elemente differenziert zu betrachten. Denn bei dem Book of Shadows handelt es sich keineswegs um eine „Wicca-Bibel“, sondern um ein ganz besonderes religiös-magisches Textgenre, in dem kollektive Tradition und individuelle Erkenntnis zusammengeführt werden und sich, wie ich meine zu erkennen, das frühromantische Paradigma der Sympraxis offenbart.
Am 13. Mai 2023 starb die Schriftstellerin und Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff. Sie debütierte im Jahr 1994 mit dem Prosaband „36 Gerechte“. Es folgten weitere Prosa-Werke wie „Pong“ (1998), „Consummatus“ (2006), „Blumenberg“ (2011) oder „Von oben“ (2019), hinzu kamen zahlreiche Essays, Gespräche, Hörspiele und ein Theaterstück („Vor dem Gericht“, 2012 uraufgeführt im Nationaltheater Mannheim). Dass Lewitscharoff eine große Bewunderung für den spätmittelalterlichen Dichter Dante Alighieri hegte, belegen eindrucksvoll der Roman „Das Pfingstwunder“ und der im Dante-Jahr 2021 im Insel Verlag erschienene Essay „Warum Dante?“.
Die Edda. Vielen ein Begriff, doch wenige haben sie gelesen. Der Gründungsvorsitzende des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie, Reiner Tetzner, hat sie nicht nur gelesen, sondern auch aus dem Original ins Deutsche übersetzt. Im Rahmen einer Lesung aus seinem Buch: „Germanische Göttersagen“ in der Leipziger Stadtbibliothek entführte er das Publikum in die verschneite Mythologie des klirrenden Nordens. Der Titel der Veranstaltung lautet: „Die Edda – das Heilige Buch der Germanen“. Die ersten Auseinandersetzungen finden dabei schon kurz nach Beginn statt. Was bedeutet „heilig“, und wer sind diese Germanen überhaupt, wenn der Begriff eine Fremdzuschreibung des Römischen Reiches ist? Es wird präzisiert: vordergründig wird der Blick auf den skandinavischen Raum gerichtet. Na gut. Aber worum geht es in der Edda? Kann sich der Zuhörer darunter eine Art Bibel für Wikinger vorstellen?
Neben „Gott ist tot“ und der Peitsche für Frauen wird Nietzsche mit einem weiteren Motiv assoziiert, mit dem er sich im wahrsten Sinne des Wortes groß machte: dem Übermenschen. Zarathustra wird zum Propheten dieser Figur:
Träume in Bildern – Die Sandman-Graphic Novel Reihe von Neil Gaiman
„Wenn er künftig einen weniger frivolen Gegenstand wählte und sich noch ein bisschen mehr zusammennähme, so würde er Dinge machen, die über alle Begriffe wären.„
So urteilte Goethe über die ihm zuvor so wohl noch nie begegneten Bildgeschichten Rodolphe Töpffers, der als Vater des modernen Comics gilt. Comics haben von dort einen weiten Weg zurückgelegt und sind heute ein ganz eigenes kreatives Medium. Sie vereinen Gestaltungselemente der bildenden Kunst mit dem Sequentiellen des Films und der Tiefe des geschriebenen Wortes. Zusätzlich haben sich auch eigene Erfindungen beigetragen wie die Sprechblasen oder das onomatopoetische „PENG“. Obwohl ihre Ursprünge, wie der Name erahnen lässt, eher im Reich des Witzes liegen, gibt es heute eine Vielzahl von Themen, die in ihnen behandelt werden. Graphic Novel hat sich dabei als Begriff für eben die Comicbücher herauskristallisiert, welche sich eher komplexeren beziehungsweise erwachseneren Themen widmen. Und was könnte erwachsener sein, als die Träume und Alpträume der Menschen?
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Die Eröffnung von Thomas Manns Romanwerk „Joseph und seine Brüder“ spiegelt in Worten das, was sich 1922 im ägyptischen West-Theben abspielte, auf präzise und fast schon ein wenig sarkastische Weise wider. KV62 – das 62. Grab im Tal der Könige war das Ziel des britischen Archäologen Howard Carter (1874-1939). Es sollte die Krönung seiner Karriere darstellen und sowohl die „Tutmania“ auslösen als auch Gerüchte, Ängste und Fantasien über Gräber, Mumien und Flüche beflügeln.
Bestimmt hat jeder von uns diesen Satz schon einmal von Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen vernommen, wenn jene verwundert neue Seiten oder Verhaltensweisen an uns feststellten, die ihnen suspekt erschienen. Mit diesen Fragen wird auch scherzhaft der Vermutung Ausdruck verliehen, dass wir quasi über Nacht gegen ein fremdes Wesen ausgetauscht worden sind, welches nur vorgibt, der oder die Angesprochene zu sein.
endlich ist es wieder soweit! Nach drei Jahren Wartezeit heißt es wieder „Lesen frei“ zur Leipziger Buchmesse. Sich ins Getümmel der Neuerscheinungen werfen. Altbekannte und neue Autorinnen und Autoren kennenlernen. Autogramme und Werbetaschen jagen. Sich durch volle Messehallen und Buchhandlungen kämpfen. Oder einfach nur die unzähligen Flüsse aus Worten genießen. Bereits in der vergangenen Woche haben wir uns ganz philosophisch, mythisch und astronomisch mit Friedrich Nietzsche und Elmar Schenkel auf die Lektüre eingestimmt und uns zu den Sternen aufgemacht. In dieser Woche wollen wir beweisen, dass Bücher eine durch und durch irdische Angelegenheit sind. Oder doch nicht? Von erzählenden Häusern wird dieser Tage die Rede sein, von Wechselbälgern, von wiederentdeckten Mumien und last but not least vom legendären Sandmann – dem Hyd’schen Zwilling des allseits beliebten Sandmännchens. Denn Bücher haben durchaus eine dunkle Seite. Und dabei sind sie irdischer denn je. Quod esset demonstrandum. Und nun viel Freude beim Lesen.
schreibt der fünfzehnjährige Nietzsche an seine Mutter, als diese zu Verwandten in den Südharz reist. Danach stellt er eine Liste auf mit den Dingen, die Franziska doch bitte schicken möge: Teelöffel, Oblaten, Kakao, Wäsche, Schlittschuhe. So schnell geht die Reise zwischen den Sternen und dem Alltag hin und zurück. Nietzsche hat sie immer wieder durchmessen. Der Aufstieg und der Absturz, die Melancholie und die Euphorie lagen nah beieinander. Er glaubte nicht an Astrologie und verachtete den Okkultismus. Aber die Sterne richteten ihn auf, spielerisch nahm er ihren Einfluss an. Vor allem aber standen sie für die Sinnenferne, der Blick in das Schwarze des Alls verkleinerte den Menschen ins Unendliche. 1873, da war er keine dreißig Jahre alt, schrieb er einen Essay, der wegweisend für die Nietzsche-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg werden sollte: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“. Er beginnt wie ein Science-Fiction-Roman (zum Beispiel Douglas Adams‘ Per Anhalter durch die Galaxis):
Was ist er nun, der Mythos? Schon häufig hat der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie diese fast schon Frage aller Fragen aufgetan. Ohne eine befriedigende Antwort zu finden. Ein Mythos ist eine Erzählung, eine Vorstellung vom Anfang und vom Ende und vom Dazwischen der Welt. Göttinnen und Götter, zumindest aber überirdische Wesen wie zum Beispiel Fabeltiere und Helden, können darin vorkommen. Mythen erzählen von Verwandlungen in Tiere oder Pflanzen, von heiligen Bäumen oder Orten, denen eine besondere Macht innewohnt. Und sie berichten von den Menschen bzw. sie lesen sich zumeist gar als Berichte für den Menschen. Ein Mythos kann Verortung bedeuten, das skelettale Konstrukt einer Ordnung, die ständig vom Chaos bedroht wird oder gar aus diesem hervorgeht.
„Wie Sie wissen kann man sich in Bibliotheken – besonders in verschwundenen – leicht verirren.“ (Hinweis für Bibliotheksbenutzer, In: Luciano Canfora, Die verschwundene Bibliothek)
Am Anfang war das Wort, lautet der Beginn des Johannesevangeliums
in dem u. a. von der Schöpfung der Welt und des Menschen, dessen bewusst inszenierter oder geduldeter Verführung sowie der Vertreibung aus dem Paradies die Rede ist.
Wort – Schrift – Was verstehen wir eine Bibliothek
Blicken wir zurück ins Altertum, wie etwa ins Alte Ägypten wird es mit der „Bibliothek“ und wie wir sie uns in der Vorstellung imaginieren schon schwieriger.
„Das, was die abendländische Kultur jahrhundertelang dem Buch zuschrieb – Wissen in sich aufzunehmen und an Lesekundige oder auch Befugte nach Bedarf wieder abgeben zu können – wird im alten Ägypten durch Tempel erfüllt, an dessen Wänden Ritualtexte oder solche mit geschichtlicher Bedeutsamkeit aufgeschrieben wurden.“ (Zinn, S. 90)
Literaturhinweise:
Fayza M. Haikal. Private Collections and Temple Libraries in Ancient Egypt. In: Mostafa El-Abbadi/Omnia Mounir Fathallah (Hrsg.). What Happened to the Ancient Library of Alexandria? Library of the Written Word 3, Brill: Leiden 2008, S. 39-54.
Luciano Canfora. Die verschwundene Bibliothek. Das Wissen der Welt und der Brand von Alexandria. Rotbuch: Hamburg 1998.
allmählich scheint sich nun doch in diesem Jahr der Winter hinfortzuschleichen und den wohligeren Gedanken an den Frühling Platz zu schaffen. Grund genug, um sich bei allen Lesehungrigen, Bibliophilen, Kulturinteressierten und Neugierigen für die nun schon beinahe fünf Jahre währende Treue zu bedanken. Der MYTHO-Blog ist für uns eine Herzenssache, aber er wäre nichts ohne Sie! Daher haben wir anlässlich des 280. Beitrags ein wenig in unserem beachtlich gewachsenen Archiv gekramt und ein paar historische und mythische Fakten über das Osterfest zusammengetragen.
Halten Sie also nach dem Osterhasen Ausschau und starten Sie gut in den Frühling!
Am Freitag dem 17. März 2023 begab sich der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie auf Exkursion ins ferne Berlin, um durch die ethnologische Sammlung des Humboldt Forums Einblicke in noch ferner liegende Kulturregionen zu bekommen. Wie sich jedoch herausstellen sollte, war dabei das eigentlich Hauptausstellungsstück der Besucher selbst.
Briefe sind immer eine im wahrsten Sinne des Wortes „ansprechende“ Form der Wissensvermittlung gewesen. Sie haben nicht die Prätention, alles zu wissen, sondern beschränken sich auf den subjektiven Ausschnitt der bereisten Welten. Doch bleibt die Frage, für wen sie geschrieben wurden, wessen Neugier befriedigt, wessen Erwartungen unterlaufen, wer überrascht werden sollte. Sind es private Mitteilungen oder solche, die mit einem Auge in die Öffentlichkeit schielen, mithin auf Veröffentlichung?
Magst du die Nacht? Im ersten Moment eine einfache Frage, oder? Vielleicht doch nicht? Gewiss könnte man die Antwort auf ein simples Ja oder Nein reduzieren, doch würden beide Worte ein wenig trostlos im gesprochenen oder geschriebenen Raum stehen. Die Nacht mit ihren Herausforderungen und Geheimnissen, ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, kurzum ihrem Dazwischen, hat sich ein „Mehr“ geradezu metaphorisch auf den Leib geschneidert, vielleicht eher auf den Leib schneidern lassen. Denn rein naturwissenschaftlich und biologisch betrachtet, ist die Nacht erst einmal nichts anderes als das Dunkel, die Gegenseite des Tages, die Zeit des Schlafs und der Träume, der Entschleunigung, der körperlichen Ruhe und Regeneration. Darüber hinaus wird sie aber auch mit Furcht und dem Tod in Verbindung gebracht.
„Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa“. So heißt ein 1997 erschienenes Buch des italienischen Historikers Paolo Rossi, das zu Beginn konstatiert; „Es gibt in Europa keinen bestimmten Ort, an dem jene komplexe historische Realität entstand, die wir heute als moderne Wissenschaft bezeichnen. Europa selbst ist dieser Ort“. Und dann ist von Polen wie Kopernikus, Engländern wie Newton, Franzosen wie Fermat, Deutschen wie Kepler, Holländern wie Huygens und Italienern wie Torricelli die Rede, die im 16. und 17. Jahrhundert agierten. Diese europäische Reihe lässt sich über Darwin und Einstein fortsetzen, was zusammen zu der Ansicht führt, „die modernen Wissenschaften“ sind „allein ein Produkt Europas“ (auch wenn seit dem Zweiten Weltkrieg die USA vielfach führend sind). Doch „diese Geschichte ist ein Mythos“, wie der britische Historiker James Poskett in einem Buch darstellt, das im englischen Original „Horizons“ heißt, was der deutsche Verlag mit „Neue Horizonte“ übersetzt hat. Das Attribut soll wohl darauf hinweisen, dass Poskett die Geschichte der Wissenschaften neu erzählt, und tatsächlich fügt er den alten Narrativen – ein Lieblingswort des Autors – zwei wichtige Ergänzungen hinzu.
Im Jahre 1808 veröffentlichte der vormalige Leipziger Student Friedrich Schlegel (1772-1829) die Monographie „Über die Sprache und Weisheit der Indier“. Diese Schrift lenkt das deutsche und europäische Interesse verstärkt auf Altindisch oder Sanskrit und gehört damit zu den Geburtshelfern der Indologie und der Indogermanistik. Hierbei meint Altindisch Vedisch oder klassisches Sanskrit. Die ältesten vedischen Texte sind im Rigveda überliefert und stammen von 1500-1000 vor unserer Zeitrechnung. Klassisches Sanskrit wird dem Zeitraum 500 vor bis 500 nach unserer Zeitrechnung zugeordnet.
Bei den Ausgrabungen des römischen Heilbades von Badenweiler im Jahr 1784 hat man insgesamt recht wenige Funde geborgen. Einige der bedeutenden Entdeckungen hat der Geometer von Weißensee in seinen detaillierten Grabungsplan vom August 1784 aufgenommen. So weist vor dem westlichen Teil der Südfront eine mit Bleistift eingetragene Inschrift „viele Kohlenreste viele Glasscherben im Schutt“ aus. [1] In der Tat lassen sich Fensteröffnungen anhand von Glasfunden und Fenstersprossen nachweisen. [2] Ebenso erweist eine Beischrift im westlichen Vorhof den „Fundort aller Steininschriften“, zu denen auch jene Fragmente gehören, die wir im Laufe der Bearbeitung der Funde dem Weihestein der DIANA ABNOBA zuweisen konnten. [3] Schließlich erzählt eine weitere Notiz auf dem Grabungsplan unmittelbar außerhalb der Nordwand des Thermalbades von dem „Fundort d. Beschriftung auf Silberplatte u. a Gegenstände“. [4] Die Pläne, die im Zuge der Ausgrabung dieses exorbitant gut erhaltenen Badgebäudes erstellt wurden, sind alle gesüdet. Sie haben – nicht zuletzt dank der Fülle der Beischriften – hohen dokumentarischen Wert. Im Zuge der Grabungen und der Neuaufnahme des Bestandes [5] in den Jahren 1979 bis 1982, durchgeführt vom Verfasser als Vorbereitung zu einem generellen Schutz der Ruine, [6] entstanden die neuen, fotogrammetrisch erstellten Pläne, [7] die in etlichen Details von den früheren Gesamtaufnahmen abweichen, die aber vor allem eine recht andere Baugeschichte [8] sichtbar werden ließ, als in dem Werk von Hermann Mylius dargelegt. Doch das ist nicht das Thema dieses Beitrags.
Vor einiger Zeit lief uns ein löwenfarbiger Kater zu. Morgens steht er aufgereckt an der Terrassentür und verlangt nach Milch, lungert manchmal auf einem Stuhl herum, aber ansonsten durchstreift er die Wildnis bürgerlicher Wohnstätten. Inzwischen hört er auf den Namen Mircea – so haben wir ihn getauft –, da seine früheren Besitzer Rumänen waren. Ich dachte mir, es ist ein guter Name für eine Katze, die zwischen den Häusern lebt, insbesondere weil Mircea der erste Name ist, den ich mit Rumänien verband. In meiner Jugend las ich viele Bücher von Mircea Eliade, der 1907 in Bukarest geboren wurde und 1986 in Chicago starb. Ich las sie, da ich Romanistik studierte, auf Französisch, und sie gaben mir eine gute Grundlage für die Sprache, zumal sie nicht idiomatisch erschwert waren. Eliade hatte sie auf Französisch geschrieben, wie er überhaupt ein Sprachengenie war (Sanskrit, Bengali, Griechisch und noch einige andere). Er lebte nach dem Krieg 15 Jahre in Paris, wo er seinen internationalen Ruf als Religions- und Mythenforscher etablierte, unterstützt von Georges Dumézil und anderen. Dort war er auch Teil der rumänischen Exilgemeinde, zu der etwa Emil Cioran oder Eugène Ionesco gehörten.
Mythen als Erzählungen über das Verhältnis von Menschen und Göttern und anderen höheren Mächten spielen in der Regel im religiösen, aber auch im vor-aufgeklärten oder im esoterischen Bereich eine wichtige Rolle. Weit weniger vermutet man sie heute im politischen Raum.
Die Deutschen, und nicht sie allein, besitzen die Gabe, die Wissenschaft unzugänglich zu machen. – Johann Wolfgang von Goethe
Vor weit mehr als 100 Jahren verkündete Werner von Siemens in Berlin, „das naturwissenschaftliche Zeitalter“ habe begonnen, denn „die bis dahin nur im abgeschlossenen Kreise der Fachgelehrten betriebenen Naturwissenschaften seien nun dem öffentlichen Leben zugänglich und dadurch dienstbar.“ Der Industrielle glaubte also nicht nur an die Nutzbarkeit von Wissenschaft, sondern auch an ein allgemeines Verständnis für sie, und er träumte von solch einer Kulturentwicklung der Menschen. Nun hat Siemens zwar in dem ersten Punkt recht behalten, wie die heutige Größe des Unternehmens zeigt, das seinen Namen trägt, doch ansonsten tippte er daneben. Viele Beobachter haben nämlich den Eindruck, dass wir von den Lehren der Wissenschaft heute weiter entfernt sind, als es die mittelalterlichen Bauern von der Theologie ihrer Jahre waren.
Die Vorliebe für Sagen und Legenden mit regionalem Bezug ist schon immer groß gewesen. In den letzten Jahren ist auch das Interesse am vorchristlichen Glauben, an einer weitgehend verschwundenen vorchristlichen Mythologie gestiegen, die lange Zeit verdrängt, verschwiegen und vergessen war. Es handelt sich dabei um Kulturen und mythische Überlieferungen von Völkern, die im Zug der gewaltsamen Christianisierung mit Feuer und Schwert auf dem historischen Gebiet der „Germanica Slavica“, also jener Gebiete zwischen Saale, Elbe und Oder von slawischen Stämmen bewohnt waren. Von ihnen ist heute allein nur noch das kleine Volk der Sorben in der Lausitz übriggeblieben.
Am Donnerstag, den 12. Januar 2023, erreichte der Komet mit dem etwas beschwerlichen Namen C/2022 E3 (ZTF) den sonnennächsten Punkt (Perihel). Bis Mitte Februar 2023 wird er dann von der Erde aus sowohl in den Morgenstunden via Teleskop oder Fernglas sowie am Nachthimmel nahe des Polarsterns zu sehen sein (eventuell sogar mit bloßem Auge). Zwar wird er laut den Astronomen nicht an die Helligkeit des Kometen Neowise aus dem Jahr 2020 heranreichen, dafür handelt es sich bei diesem Exemplar aber um einen langperiodischen Kometen, der das letzte Mal vor etwa 50.000 Jahren der Erde so nahegekommen ist (lange vor dem Aussterben der Neandertaler). Grund genug, zum Himmelsphänomen „Komet“ Dr. Patrick McCafferty von der Universität Leipzig zu befragen; er hat sich sowohl mythologisch als auch kulturanthropologisch mit dem Thema befasst.
Es mutet wie ein Blick ins Inneres eines Gehirns an, eine Verflechtung von abertausend Nervenzellen, von denen jede einen eigenen Namen trägt – aber keinen beliebigen Namen. Die Wesen der griechischen Mythologie sind hier versammelt (Götter, Halbgötter, Sterbliche) und warten darauf, von Forschenden und Interessierten gefunden und mitsamt ihren verwandtschaftlichen Beziehungen näher unter unter die Lupe genommen zu werden. Auch Handlungsorte und Geschichtenstränge der mythischen Gestalten lassen sich nachvollziehen – ein Klick genügt. Entscheidet man sich beispielsweise für das Stichwort „Herakles“, wird die schier überwältigende Auswahl schon fundierter und verwandelt sich in eine Pusteblume mit dem Helden als Mittelpunkt. Der gute alte Göttervater Zeus bringt es gar auf ein Gebilde, das mit ein wenig Fantasie Ähnlichkeit mit einem Vogel aufweist, während die Verflechtungen bei Achilles (Stichwort: Achilleus) fast schon karg wie eine Mücke daherkommen.
Ich gebe zu, ich träume viel von Büchern. Sie sind Bestandteil meiner Tag- und Nachtträume. Tagsüber lenken sie mich zu Handlungen, die man auch Buchhandlungen nennt. Seltener zu Bibliotheken, denn mit meinem Traum von Büchern ist unweigerlich ein, wenn auch flüchtiger, Besitz verbunden. Bücher in Bibliotheken sind wie E-Books. Man darf sie nur ansehen oder aus einer Wolke herunterrufen, um sie später wieder hinaufzuschicken. Oft wird man dabei von anderen beobachtet. In Bibliotheken muss man die Ruhe bewahren, man darf nicht herumspringen, essen oder trinken. Das ist nicht die Welt des Buches, die ich in den Träumen vorfinde. Dort wird es von der Sonne vergilbt, Rauch bläst aus seinen Seiten, Regen fällt auf die Bindung, es wird vom Wind wie eine Möwe getragen, die Buchstaben verwehen wie Asche und formieren sich neu.
ein weiteres Jahr findet seinen Abschluss, und obwohl es in der Welt alles andere als zauberhaft zuging und weiterhin zugeht, hat sich der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie dennoch daran versucht, „sich der Magie [zu] ergeben“. Und so haben wir diese, verstanden als eine durch rituelle Handlungen und vor allem durch geheimes Wissen bewirkte Beeinflussung von Mensch, Natur und Kosmos, im ethnologischen, historischen, kulturellen, archäologischen, philosophischen und literarischen Kontext zu ergründen versucht.
Ein Interview mit dem Weihnachsmuffel Prof. Dr. Joachim Schwend
Was nervt dich an Weihnachten am meisten?
Es ist vor allem der Konsumterror und der Trubel, der in den Wochen lange vor Weihnachten schon herrscht. Überall mehr oder weniger hässlicher Weihnachtsschmuck, Weihnachtsmänner, das ewig gleiche Gedudel in den Geschäften, zu viele Menschen auf kleinem Raum und dann noch mit Nikolausmütze und immer viel Glühwein.
Kaum jemand ahnt, dass die Sherlock Holmes Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle voller Anspielungen sind – zu sehr ist man durch die Spannung und die Figur des Detektivs und seines Adlatus Dr. Watson abgelenkt. Doch auch Nietzsche hat in diesen Geschichten seine Visitenkarte hinterlassen. Seit 1886 wandte der erfolglose Augenarzt Doyle seine neue Rezeptur an, die er während leerer Praxisstunden zu Papier brachte. Er erfand, mit Hilfe von Vorbildern wie Poes Dupin, den distanzierten, desillusionierten und zugleich so genauen Beobachter als Detektiv, den Pfeifenraucher und Rationalisten mit Rauschgiftneigung und einer Vorliebe für Richard Wagner, den Inbegriff des englischen Gentleman, kurz: er erfand Sherlock Holmes.
„Wollte Odin seine Gestalt wechseln, dann lag sein Körper wie schlafend oder tot da, er selbst aber war ein Vogel, ein wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange“. (Snorri Sturluson: Heimskringla)
Der germanische Zauberer
Vermeintlicher Forschungsstand ist freilich, dass den nordisch-germanischen Völkern so etwas wie „Schamanismus“ weitestgehend fremd war. Allenfalls ein paar „Spuren“ (Buchholz) oder „Züge“ (Lichtenberger), die „seltsam schamanisch“ (Eliade) bzw. „schamanoid“ (Simek) seien, ließen sich in der nordischen Mythologie finden. In meinem Buch Schamanismus bei den Germanen vertrete ich die gegenteilige Position, dass nämlich die nordisch-germanische Kultur und Religion ganz wesentlich vom Schamanentum gekennzeichnet und geprägt war.
Aus Richtung Gythio kommend, durchquerten wir eine kleine Ortschaft am Fuße des Gebirges. Ein Dutzend Häuser links und rechts der Straße, an einem Abzweig ein größeres Anwesen, ein Wohnhaus mit Nebengebäuden und einem Innenhof. Aus dem Hof rief uns ein Mann an, der dort gesessen hatte. Auf die Frage, wohin wir gingen, antworteten wir wahrheitsgemäß: Auf die andere Seite des Gebirges, nach Kardamili. Ungläubiges Erstaunen war die Reaktion. Eine schwarz gekleidete alte Frau bekreuzigte sich. Man bat uns in den Hof, ließ uns Platz nehmen und eine zweite, an einem Stock sich nur mühsam vorwärts bewegende uralte Frau schlurfte ins Haus, um uns Kaffee zu kochen. Der Mann sprach ein wenig Deutsch. Er habe, so erzählte er uns, vor längerer Zeit in München gearbeitet, im Restaurant eines Bekannten. Er versuchte uns von unserem Vorhaben abzubringen, verstand nicht, warum wir nicht mit einem Auto fuhren. Als er begriff, dass es zwecklos war, beschwor er uns, wenigstens die Straße zum nächsten Ort zu nehmen, nicht auf dem Wanderweg zu gehen, der nicht der kürzeste Weg sei. Da dieser Weg direkt hinter seinem Gehöft abzweigte, blieb uns nichts übrig, als vorläufig tatsächlich weiter auf der Straße zu gehen. Wir brachten es nicht fertig, den wohlmeinenden Rat der Leute auszuschlagen.
Er mag heute umstritten sein aus vielerlei Gründen – aber sein Werk und seine Person faszinieren weiterhin. Rudolf Steiner war einer der reichhaltigsten Geister des Jahrhunderts – Visionär, Wissenschaftler, Pseudo-Wissenschaftler, Philosoph, Philologe und Guru, gewollt wie ungewollt. Ratgeber in Lebensfragen wie in Landwirtschaft oder Medizin, teils mit zweifelhaften, teils mit beachtlichen Erfolgen.
Auf der Ostseite der Mani angelangt, hatten wir uns noch einmal nach Süden gewandt, um in die große Bucht von Kotronas zu gelangen. Kotronas war in der Antike ein wichtiger Hafen, jedenfalls bis Gythio ihm den Rang ablief. In der byzantinischen Zeit geriet Kotronas jedoch in Vergessenheit, wie es heißt, auch wegen der häufigen Pirateneinfälle in der Gegend. Weitgeschwungen ist diese stille Bucht; der kleine Ort zieht sich entlang der Straße den Hang aufwärts. Einige hundert Meter höher liegt auf einer Bergkuppe das Kloster Sotiros. Es wird nicht mehr bewohnt, liegt still und verlassen auf der kargen Kuppe des Berges. Braun und grau sind hier die vorherrschenden Farben, es gibt kein Grün, kaum Vegetation. Mühsam gestaltet sich der lange Weg aus der Bucht herauf, kein Baum, kein Gesträuch, keine Felshöhlung bietet Schatten, um eine Pause einzulegen. Erst hinter den Klostermauern finden wir Schutz vor der gleißenden Sonne. Sotiros heißt Rettung. Vielleicht Rettung vor Angreifern für die Bewohner der Bucht, ein letzter Rückzugsort vielleicht. Wie Schießscharten muten die schmalen Fensteröffnungen an, von denen man Bucht und Meer weithin überblicken kann. Wir sind wegen der Fresken in der Klosterkirche heraufgekommen. Anastasia, die wir vor einigen Tagen kenngelernt hatten, hatte gesagt, dass wir hier etwas Außergewöhnliches zu sehen bekommen würden.
Der zweite Teil des Artikels über das Leben des Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim schließt unmittelbar an die Ereignisse von Teil 1 an. Agrippa ist immer noch in Lyon am französischen Hof und hofft weiterhin auf die Gunst seines Protegés, Louise von Savoyen. Diese lässt ihn allerdings durch eine Intrige am Hof endgültig fallen und er muss erneut auf Wanderschaft gehen, um sein Überleben zu sichern.
Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535) zählt wohl zu den schillerndsten Gestalten der Magiegeschichte. Sein unstetes Leben, teils bedingt durch die feindlich gesinnte Umgebung, teils durch eigenen Antrieb, steht über das Einzelschicksal hinaus für eine Zeit des geistigen und kulturell-gesellschaftlichen Umbruchs. Der in vielen verschiedenen Künsten versierte Nettesheimer muss, wie manche seiner Zeitgenossen, wirtschaftlichen Reichtum und tiefe Armut erleben, genießt höchste Fürstengunst und fällt wieder in Ungnade. Als gelehrter Philosoph mit humanistischen Zügen verteidigt Agrippa vehement seine naturphilosophischen Ideen und gesellschaftskritischen Ansichten gegenüber seinen Gegnern – ein Charakterzug, der ihn zusammen mit seinem bereits zu Lebzeiten zwiespältigen Ruf; ein Schwarzkünstler und Hexenmeister zu sein, mehrfach in Lebensgefahr und an den Rand der Existenz bringt. Die Beschäftigung mit Magie genießt eben, wie so vieles andere in seinem Leben, einen zwiespältigen Ruf.
Ein wahres Monument der Weltgeschichte befindet sich unmittelbar im Leipziger Umland: Eine der wohl ältesten, historisch bedeutendsten, aber auch eindrucksvollsten Büchersammlungen Mitteldeutschlands hat ihren Sitz in Zeitz – um genau zu sein, in der Stiftsbibliothek, welche seit 2005 im Torhaus des Schlosses Moritzburg ihr Zuhause findet. Zur Bibliothek, wie sie heute aufgestellt ist, gehören drei Teilsammlungen: 1. die historische Stiftsbibliothek, welche sich auf die bischöfliche Bibliothek des Spätmittelalters sowie die Privatbibliothek des Bischofs Julius von Pflug aus Naumburg aus dem 16. Jahrhundert beruft; 2. die sogenannte „Domherrenbibliothek“, welche im Spätmittelalter die Dienstbibliothek des Zeitzer Kollegiatstiftes St. Peter und Paul darstellte; 3. die Überbleibsel der einstigen Gymnasialbibliothek, welche in den 1950er Jahren in die Sammlung der modernen Stiftsbibliothek aufgenommen wurden.
Sie haben es gewagt. 21 Jahre nach Der Herr der Ringe: Die Gefährten und 10 Jahre nach dem ersten Teil von Der Hobbit ist es ausgerechnet der alles andere als unumstrittene Versandriese Amazon, der, ausgestattet mit einem Budget von 1 Milliarde Dollar (zum Vergleich: die Produktionskosten der ersten drei Filme beliefen sich jeweils auf 93 bzw. 94 Millionen Dollar, schon das gigantische Summen) und mittels der erworbenen Rechte auf die Anhänge der Herr der Ringe-Bücher mit der ersten Staffel von „Die Ringe der Macht“ eine weitere Tür in das Tolkien-Universum aufgetan hat.
Nimm von einem Dreiweg eine dreieckige Scherbe, indem du sie mit der linken Hand aufhebst. Schreibe auf sie mit Myrrhentinte und verbirg sie:
„Astraêlos, Chraêlos, zerstört jedes Zaubermittel, das sich gegen mich, NN, richtet! Denn ich beschwöre euch bei den großen und furchtbaren Namen, vor denen die Winde erschauern und die Felsen beim Hören zerreißen!“ (Zauberzeichen) [PGM XXXVI, 256-264, 4. Jahrhundert, Griechisch. Übersetzung nach Preisendanz 19742, 171.]
Mit dem Begriff „Papyri Graecae Magicae“, zu Deutsch: „griechische magische Papyri“, wird eine moderne Zusammenstellung antiker Texte bezeichnet, die der Philologe Karl Preisendanz zwischen 1928 und 1931 erstmals veröffentlichte. Es handelt sich dabei nicht um eine ursprünglich antike Textsammlung. Zeitlich überspannen die einzelnen Texte einen Zeitraum von rund 800 Jahren, beginnend mit dem ersten Jahrhundert vor Christus bis hin zu den spätesten Texten aus dem siebten Jahrhundert nach Christus. Ihr geographischer Ursprung ist Ägypten, wobei die allermeisten Papyri aus dem Antikenhandel stammen und ihr genauer Fundort nicht bekannt oder überprüfbar ist.
Seit jeher ist der Mensch fasziniert vom „Oben“, dem Blick zu den Wolken, zur Sonne, zum Mond oder zu den Sternen. Das Oben scheint unendlich. Und ungreifbar. Ein weiter Raum, der unsere Vorstellungskraft anregt, und vielleicht war und ist es genau das, weshalb das Oben seit jeher mit dem Sitz von Göttern, dem Reich der himmlischen Heerscharen oder aber mit dem Paradies assoziiert wurde. Alles Gute kommt von oben. Alles Schlechte lauert in der Tiefe, der Unterwelt, der Hölle, dem Reich fernab des Lichts. Schon im Schamanismus finden wir die Dreigeteiltheit des Kosmos in Ober- und Unterwelt, verbunden durch die axis mundi (die Weltenachse), symbolisiert etwa durch den Weltenbaum, einen heiligen Berg oder auch eine Trommel. Auf der Tabula Smaragdina (Smaragdtafel), der grundlegenden Schrift der Alchemisten, heißt es: Quod est inferius, est sicut (id) quod est superius, et quod est superius, est sicut (id) quod est inferius – Das Unten ist wie das Oben, und das Oben ist wie das Unten.
Näher rückten die Berge an das Meer heran, der schmale Küstensaum löste sich auf, und hoch und immer höher schraubte sich die enge Straße den Berg hinauf. Der südliche Ausläufer der Mani besteht aus steil ansteigenden Hügeln mit sanft gerundeten Kuppen, dazwischen gibt es kaum flaches Gelände, nur vereinzelt noch schmale Buchten. Auf einer der Bergkuppen liegt Vathia. Liegt nicht, sondern steht aufrecht. Turm neben Turm, dicht an dicht, festgekrallt, schweigend, weißgrau und verlassen. Vathia ist ein Geisterdorf, nur zwei, drei Häuser am Rand der Siedlung sind noch nicht verlassen.
Wir kennen alle die Bibelgeschichte von Adam und Eva, dem „Sündenfall“ und die darauf folgende Vertreibung aus dem Paradies, der bald darauf der erste Mord in der Menschheitsgeschichte folgt und Kain seinen jüngeren Bruder Abel erschlägt. Was lernen wir aus der Geschichte? Welche Konsequenzen ziehen wir aus den Unzulänglichkeiten der ersten Menschen, die, vertrieben aus einem paradiesischen Dasein, sich selbst überlassen, für sich selbst und ihren Nächsten Verantwortung tragen mussten?
als am 5. September 2018 unser Blog zum ersten Mal mit drei einführenden Artikeln online ging („Willkommen beim MYTHO-Blog“; „Der wahnsinnige Wissenschaftler und das Scheusal: Zweihundert Jahre ‚Frankenstein'“; „9 Monate Irland – Eine Exkursion in Folklore“), war nicht abzusehen, wie die Resonanz darauf verlaufen würde bzw. wie lange wir es überhaupt schaffen könnten, regelmäßig Artikel zu veröffentlichen. Nun sind vier recht turbulente Jahre vergangen, und es ist uns gelungen (nicht allein auch aufgrund unseres Gastschreiberprojekts), jeden Freitag einen Artikel online zu stellen. Es erscheinen abwechselnd Themen aus Mythologie, Kulturgeschichte, Literatur sowie Religionsgeschichte, aber auch Reiseimpressionen, Buchrezensionen und Ausstellungsberichte werden vorgestellt. Auf 250 Texte hat es unserer Blog schon gebracht. Daher möchten wir, wie jedes Jahr, unseren getreuen Leserinnen und Lesern Danke sagen und diesen Dank auch an unsere Autorinnen und Autoren (darunter bekannte Namen wie Ernst Peter Fischer, Sibylle Lewitscharoff, Clemens Meyer, Bruno Binggeli, Elmar Schenkel, Jörg Jacob, André Schinkel etc.) weitergeben, die unsere Seite bereichert haben und bereichern.
Als mich die Anfrage erreichte, für diesen Blog einen Beitrag zum Jahresthema „Magie“ zu schreiben, hatte ich zunächst vor, mich mit einem speziellen Thema dazu auseinanderzusetzen. Dies wäre, anknüpfend an meine Interessen, möglicherweise die Topografie gewesen. Genauer: sogenannte magische Orte. Oder zumindest das, was häufig und gern derart bezeichnet wird. Doch mir wurde bewusst, dass ich mich zunächst mit dem Begriff des Magischen auseinandersetzen musste. Mit dem, was man allgemein als Magie und als magisch definiert. Denn die Begriffe werden derart überstrapaziert, dass sie kaum noch etwas bedeuten können. Jedwede Naturlandschaft wird mit dem Zusatz magisch versehen. Von magischer Schönheit und Anziehungskraft wird gesprochen, von magischen Stränden, der Magie des Südens oder in tautologischer Steigerung von der zauberhaften Magie des Südens und was der Beispiele mehr sein könnten. Was aber hat es auf sich mit der Magie und dem Magischen? Wodurch wird jemand zum Magier, zur Zauberin, was braucht es, um einen Ort, eine Landschaft zum magischen Ort zu machen? Zaubersprüche und überlieferte Plätze, an denen besondere Kräfte wirksam werden können, sind Jahrtausende alt und auch in der Gegenwart gibt es zahlreiche Menschen, die der Magie Bedeutung zumessen. Was aber sind die entscheidenden Faktoren, die etwas bzw. jemanden qualifizieren, den Zusatz Magie und magisch für sich in Anspruch zu nehmen?
Bertolt Brecht hatte 1938 im Exil ein Gedicht über den daoistischen Meister Lao Tse geschrieben, der selbst nach Westen gezogen sein soll: „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“. Auf dem Weg wurde der Meister von einem Zöllner aufgehalten, der ihn bat, für ihn seine Lehre aufzuschreiben. In gewisser Weise war Laozi (oder Lao Tse) tatsächlich in den Westen geritten. Für die deutschen Emigranten in der Nazizeit war dieses Gedicht ein Signal, ein Trost. Wie ein Lauffeuer ging es durch die Lager der Flüchtenden, wie Hannah Arendt schrieb. Es deutet auch auf eine längere Beschäftigung nicht nur Brechts mit dem Daoismus und China überhaupt hin.
„Einen so heißen Sommer, wie nun vor hundert Jahren, hat es seitdem nicht wieder gegeben. Kein Grün war zu sehen; zahmes und wildes Getier lag verschmachtet auf den Feldern.“ Man könnte meinen, der Beginn von Theodor Storms Märchen „Die Regentrude“ träfe auf die Sommer der letzten Jahre zu. Nun gehen und fahren wir zwar nicht an Tierkadavern vorüber, wenn wir den Urlaub antreten oder unseren Alltagsverpflichtungen nachgehen. Aber zu oft fallen uns die von der Sonne vertrockneten Grasflächen auf, hören wir Nachrichten von brennenden Wäldern, sehen wir Bilder von Flussbetten, die einer Mondlandschaft gleichen. Im Januar ging ich am Rhein spazieren, den wir wie kaum einen zweiten mit Schifffahrt, Geschichte oder Romantik verbinden. Mit unaufgeregtem Selbstverständnis strömte das Wasser in Richtung Nordsee. Die aktuellen Bilder von sinkenden Pegeln wirken im Vergleich zu diesen Erinnerungen beinahe surreal. Und surreal ist es auch an der Ahr (wie auch an der Elbe und an jedem anderen Fluss), die derzeit streckenweise zur einem Rinnsal verkommen ist, wiewohl deren Flut im Jahr 2021 Tod und Zerstörung gebracht hat.
Vor dem Lorbeer stehen und Daphne verehren. Ehre oder Hohn? Der Nymphe mit dem wilden Haar gedenken, die nicht sein durfte, ohne verbraucht zu werden – „Dir verbietet deine Schönheit, das zu sein, was du sein möchtest, und deine Erscheinung widersetzt sich deinem Wunsch“[i]. Erst als Rinde ihre Brust verhüllt, die Füße in der Erde verwurzeln und das Haar sich zu Laub auswächst, ist Daphnes Widerwille gebrochen. Erst als Daphne von Götterhand in eine Pflanze verwandelt ist, gelingt es dem von Liebe und Gier gebeutelten Apollon, sich ihrer zu bemächtigen und das Objekt der Begierde zu verwerten. Die Leier soll sie ihm verzieren und seinen Gesang bezeugen, zum Kranz soll sie werden, um sein Haupt zu bedecken. Zum Symbol verkürzt bleibt nicht mehr viel von Daphnes Wut. Vielmehr rechtfertigt ihre neue Form nun die fortwährende Missachtung ihres einstigen Willens, auf dass sie Apollon und seinen menschlichen Ebenbildern nun für immer dienen mag, Widerspruch fortan unmöglich. Vor dem Lorbeer stehen und Daphne gedenken, Ehre oder Hohn?
Was hat der Sommer 2022 mit der Waage der Maat aus dem altägyptischen Totengericht gemeinsam? Er scheint nicht ins Gleichgewicht kommen zu können, steigt auf in Anfällen unerträglicher Hitze, um sogleich in fast herbstlich anmutende Kühle zu stürzen. Ähnliches beobachtet man derzeit im sozialen Miteinander, in der Gesellschaft und vor allem im europäischen oder gar weltweiten Geschehen dieser Tage – das Auf und Nieder der Extreme wirkt gefühlt bewusster, bedrohlicher und bedrückender denn je. Es will kein Gleichgewicht auf der Waage aufkommen, keine Begegnung „der Mitte“.
Vielleicht sind es die Details, die es verstehen, den Betrachter in Bann zu ziehen: das Mädchen, das seine Handfläche stoisch, fast schon schicksalsergeben, zwei Frauen entgegenstreckt, um ein Geldstück zu erbetteln, Kirchenbesucher, die nach Ende des Gottesdienstes aus dem Eingangsdunkel der im Renaissancestil zwischen 1579 bis 1584 umgebauten Dresdner Kreuzkirche streben oder aber die dunkelbraunen Lasuren der Hausziegel, die dem Gebäude gleichermaßen das Aussehen von Erhabenheit und Verfall verleihen. Es scheint fast, als würde man beim Betrachten Teil der Szenen werden – eine Zeitreise der Gedanken ins Europa des 18. Jahrhunderts. „Zauber des Realen“ – der einleitende Titel zur Ausstellung „Bernardo Bellotto am Sächsischen Hof“ in der Gemäldegalerie Alte Meister des Dresdner Zwingers ist passend gewählt. Aus Amsterdam, Dublin, Hamburg, London, Los Angeles, Stockholm, Warschau etc. und natürlich aus Dresden kommen die ausgestellten Objekte. Der Zauber ist international, so kosmopolitisch wie der Künstler, dessen 300. Geburtstag man im Jahr 2022 begeht, für seine Zeit selbst.
Diese Bäume dulden einen geringeren Himmel nicht, diese Steine verweigern sich dem fremden Schritt, diese Landschaft ist hart wie das Schweigen
(Jannis Ritsos)
Aus der Bucht von Limeni schlängelte sich die Straße in Serpentinen den Berg hinauf. Kein Panoramablick auf die Stadtlandschaft öffnete sich, unvermittelt waren wir schon mittendrin, Häuser links und rechts der Straße, eine Tankstelle, einstöckige Flachbauten mit Geschäften. Wir hatten Areopoli erreicht, die Stadt des Ares. Weder Stadtmauern noch Wehrtürme waren zunächst zu sehen, unspektakulär gestaltete sich unsere Ankunft und enttäuschend zivil zeigte sich das Hauptquartier des alten Kriegsgottes. Die Ortschaft war wesentlich kleiner als ich erwartet hatte, doch gilt sie als das Herz der Inneren Mani. Ursprünglich hieß die Stadt Tsimova, doch nach dem Aufstand gegen die türkische Fremdherrschaft, der 1721 unter Mavromichalis hier seinen Anfang nahm, wurde sie umbenannt. Für Ares, den Liebhaber blutiger Gemetzel, konnte sich in der Antike keine Stadt erwärmen, erst hier auf der Mani der Neuzeit fand der Kriegsgott des hellenistischen Pantheons mit Areopoli endlich doch noch eine Heimatstadt.
Die Gipfel sind unsere Wächter (Tibetisches Sprichwort)
Sie kannte dieses Buch, wahrscheinlich bewunderte sie es, aber vor allem stachelte es ihren Ehrgeiz an. Sie wusste, dass dieser James Hilton nie dort war, worüber er schrieb. Sie wollte ihm, dem erfolgreichen Bestsellerautor, voraus sein. Sie wollte zeigen, dass sie erlebt hatte, was er nur ansatzweise für seinen Roman Lost Horizon ausgeweidet hatte: die Magie Tibets.
Fragt man, welche Autoren im 20. Jahrhundert eine neue Mythologie erschaffen haben, so denkt man zuerst an J. R. R. Tolkien (Mittelerde) und George Lucas (Star Wars). Als dritter im Bunde sei hier H. P. Lovecraft genannt, dessen Werk zwar nicht so massiv in das Alltagsbewusstsein wie die anderen beiden eingedrungen ist und wohl auch nicht ganz so vielen Leuten bekannt sein dürfte, aber dennoch weit mehr Kreise als nur eine breite Leserschaft angezogen hat. Die eher bedeutungslosen Verfilmungen will ich nicht erwähnen, aber es gibt etliche Spiele [1], die in Lovecrafts Welt angesiedelt sind, und im World Wide Web sind auf seinen Geschichten basierende Meme omnipräsent.
“Sie hexten im Himmel, sie hex[ten] auf der Erde.“ (Auszug Gira-Hymnus – Übersetzung Schwemer, Abwehrzauber, S. 21)
Die Welt, das Leben, unser Denken, Handeln und Fühlen, all unsere Bewegungen und auch unsere Worte – gesprochene wie geschriebene, solche mit und ohne Absicht, Wissen, Zerstreuung oder Erkenntnis erlangen zu wollen – all dem ist ein grundlegender Schlüssel zu eigen, welchem wir uns nur selten bewusst sind: die Wiederholung. Bei Wiederholung denkt man vielleicht an die Jahreszeiten, an Geburtstage, an wiederkehrende Sportereignisse, an das freitägliche Gespräch in der Kneipe oder an den regelmäßigen Austausch beim Lesekreis, vielleicht stellt man sich auch einen mittelalterlichen Benediktinermönch im klösterlichen Skriptorium vor, wie er Handschriften für die hauseigene Bibliothek illuminiert oder abschreibt.
Einige Mythen, dazu gehören auch die Verschwörungsmythen, sind besonders hartnäckig. Sie behalten ihre Wirksamkeit bis heute und können durchaus politische Handlungen bewirken. Zu ihnen gehört u. a. der Mythos von der Kiewer Rus, der Kosaken-Mythos wie auch der Mythos vom russischen und ukrainischen Brudervolk, von ihrer „unverbrüchlichen Freundschaft“. In Folge des Kosakenaufstands unter Bogdan Chmelnizki/Chmelyzkyj (1595-1657), der Russland einen Vertrag anbot, sollte die Ukraine ein autonomer Teil Russlands werden. Ein Teil der Kosaken wollte allerdings lieber der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik angehören, in der sie sich größere Freiheiten versprachen.
Im Jahr 1813 schrieb Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) die Ballade „Der Totentanz“, was vielleicht Zufall oder aber Vorsehung gewesen sein mag, ist 1813 doch als Jahr der Völkerschlacht bei Leipzig, der bis dato größten Schlacht der Weltgeschichte mit ca. 100.000 Toten und Verwundeten, in die Geschichte eingegangen. Nun sind die Verse keine explizite Kritik an Krieg, Krankheit und Elend, sondern lesen sich vielmehr wie eine gruselige Geschichte davon, was uns am Ende alle vereint und was seit der Aufklärung mehr und mehr in Vergessenheit geraten zu sein scheint: die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. In Goethes Werk erheben sich die Toten zur Geisterstunde aus ihren Gräbern und finden sich gemeinsam und unabhängig von Rang, Namen und Stand zum Tanz zusammen. Der noch lebende Türmer wird durch eigenes Verschulden Teil des makaberen Geschehens und kann dem Spuk erst durch den Glockenschlag der ersten Stunde nach Mitternacht entrinnen. Mit den Toten sollte man eben keinen Spott treiben.
An Bord eines Schiffes ein rätselhafter Mensch, der sein Gedächtnis verloren hat. Ein Neurologe interessiert sich für sein Schicksal: woher kommt er, was ist mit ihm geschehen, kann man seine Erinnerungen zurückholen? Eines Tages spielt der Mann ohne Gedächtnis, Conway heißt er, Chopin am Klavier und nun kehren allmählich die Erinnerungen zurück; er beginnt zu erzählen. Eine lange Geschichte tut sich auf: Ein Flugzeug wird in Nordindien/Afghanistan entführt, an Bord vier Amerikaner und Briten, darunter eine Missionarin. Der Entführer ist allem Anschein nach ein Tibeter. Es kommt zu einem Crash auf einer unbekannten Hochebene des Himalayas. Die vier überleben und machen sich auf den Weg, zu einer Siedlung zu finden. Nach vielen Strapazen kommen ihnen Menschen entgegen und nehmen sie mit in eine abgelegene Klosterwelt. Der Jüngste möchte so schnell wie möglich wieder in die Zivilisation zurück. Die Missionarin sieht hier eine Chance für den Glauben und Konversionen und vertieft sich zu besserem Verständnis in die Kultur und Sprache des Landes. Conway lernt den Lama kennen, die Mönche, die Bibliothek, die die wichtigsten Werke der europäischen Philosophie und Literatur, Werke Asiens und des Westens in vielen Sprachen sowie unveröffentlichte Kompositionen von Chopin enthält, und dies mitten in der einsamen Bergwelt Tibets.
Der Frankfurter Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno verstand bekanntlich Kultur als Verblendungszusammenhang[i]. Die Ethnologie als die Kunde von fremden Kulturen hat sich gegen dieses pejorative Verständnis menschlicher Kollektiväußerungen gerne gesträubt, auch wenn ihre Tresore von Nachrichten aus aller Welt schon früh überquollen mit Belegen, wie die Menschen, verteilt in Raum und Zeit, sich offensichtlich immer gegenseitig etwas vormachten. Dem Bann ihrer eigenen Produktion erlagen dann zuletzt auch die fremden Betrachter und Chronisten. Sträubten sich Ethnographen aber gegen diese Vereinnahmung durch den fremden Zauber, gelangten sie schnell zu hochnäsigen, „eurozentristischen“ oder lange genug rassistischen Aburteilungen.
Glauben Sie an Engel? Oder anders formuliert: Glauben Sie an Engel, ohne dass sie vielleicht glauben? Engel begegnen uns oft und meist dann, wenn wir nicht mit ihnen rechnen. Beim Museumsbesuch zum Beispiel, wenn sie – wie die berühmten Engel zu Füßen von Raffaels Sixtinischer Madonna – voll Anbetung oder aber einfach nur knabenhaft verträumt nach oben schauen. Ganz sicher in den Altarbildern oder als Teil von Schnitzereien biblischer Szenen in Kirchen. Engelfiguren, Engelkarten, Engelketten können wir in Souvenirläden, im Online-Handel oder auf Weihnachtsmärkten erwerben, sie aufstellen, sie sammeln oder als Schutz- und Glücksbringer bei uns tragen. Es gibt Engeltarots, Engelbücher, Engelfilme – man denke hier an den Kultfilm „Stadt der Engel“ aus dem Jahr 1998 mit Nicolas Cage, in dem sich ein Engel in eine Sterbliche verliebt – und sogar Engelserien wie jüngst „Lucifer“ auf Amazon Prime, die Engelleben, Engelleiden und Engellieben in allen Zügen preisen und auskosten. Mit vollem Erfolg beim Publikum. Wir sind fasziniert von Engeln, vielleicht, weil wir uns immer wieder neu von ihnen faszinieren lassen, ja, sie mit neuen Augen entdecken können. Engeln wohnt etwas Spirituelles, Beruhigendes, aber auch Kreatives – Ästhetisches wie Ätherisches – inne. Wie etwa, wenn in Dantes Göttlicher Komödie Beatrice – die große Liebe des Dichter, die in gewisser Weise selbst als ein lichtumflutetes, engelhaftes Wesen erscheint – dem Jenseitsreisenden über die neun Chöre der Engel, die sämtlich zum Gottespunkt (dem Ursprung allen Anfangs und allen Endes) streben, aufklärt:
Das Meer war noch grau und stumpf, die Luft frisch, ein wenig kühl. Aus dem nächsten Dorf war das Krähen der Hähne zu hören. Das Einrollen der Schlafsäcke, das Umziehen und Packen – es dauerte eine gute halbe Stunde, bis wir bereit waren zum Aufbruch. Die Klippen rückten schon bald immer enger an den Steilhang heran, kein Wanderweg schien mehr weiterzuführen. Wir mussten bergauf zu den Dörfern Thalamos und Platano gehen. Denn dort oben verlief die Straße, die weiter nach Süden führte, nach Areopoli und dann bis zum Kap Tenaro, unserem vorläufigem Ziel. Zwei, drei Stunden gingen wir auf einem schmalen Pfad aufwärts, unterbrochen nur von einer kurzen Rast an einer Kapelle. Der Weg wurde nach einiger Zeit noch schmaler, zweigte sich auf in mehrere Fußpfade, brachte uns schließlich in ein kleines Tal, dessen Ende von dichtem Gestrüpp versperrt war. Erst nach einigem Hin und Her fanden wir einen neuen Pfad, der am Rand des Tales wieder weiter aufwärts führte. Unvermittelt standen wir nach kurzer Zeit an einem staubigen Feldweg, der uns bis nach Thalamos führte.
Will man sich mit dem Thema Verschwörungsmythen näher beschäftigen, erscheint es sinnvoll, zunächst zu klären, was eigentlich eine Verschwörung ist. Der Duden definiert eine Verschwörung als „gemeinsame Planung eines Unternehmens gegen jemanden oder etwas (besonders gegen die staatliche Ordnung)“ (www.duden.de). In der Tat enthält diese sehr kurze Bestimmung schon wichtige Elemente dessen, was eine Verschwörung ausmacht, nämlich erstens, dass sich mehrere Akteure zusammentun, um zweitens gegen jemanden oder gegen eine Institution/Ordnung etc. zu handeln. Dennoch ist eine solche Definition unvollständig, weil sie (mindestens) drei zentrale Aspekte unberücksichtigt lässt:
“Schatzhauser im grünen Tannenwald, Bist schon viel hundert Jahre alt; Dein ist all Land, wo Tannen stehn, Lässt dich nur Sonntagskindern sehn.“
Es war einmal … Die Ahnung eines dichten Waldes. Stille. Der Alltag nur eine vage Ahnung der Wirklichkeit. Und in der Stille Gekicher. Mal von hier, mal von dort. Eine finstere Kulisse und in der Mitte, sich langsam bewegend, ein weißes Männlein mit spitzem weißen Hut, bei dem man nicht umhinkommt, an die Kopfbedeckung eines Zauberers zu denken. Näher und näher kommt die Gestalt, die geisterhaft wirkt vor der Düsternis der irrealen Bäume; ein sich bewegender Lichtpunkt von Ferne, ummalt von einem schon fast schmerzlich grellweiß ausgeleuchtetem Rahmen, der an die aufgeschlagene Seite eines elektronischen Buches erinnert. Und die erste Frage ist bereits beantwortet, bevor sie sich stellt: Es ist Magie im Spiel in den kommenden neunzig Minuten.
Die Religion treibt die Menschen in die Ferne. Sie wollen einen Glauben weitertragen bis an die Ränder der Erde und stoßen dabei auf anderen Glauben, andere Verehrungen, andere Götter. Die Reisen in die Ferne haben natürlich auch oft einen politischen Hintergrund. Im 13. Jahrhundert will das christliche Europa Kontakt aufnehmen zu den nur vage bekannten Mongolen. Könnten sie dem Abendland nicht beistehen im Kampf gegen den Islam? Aber was heißt „vage bekannt“? Die Mongolen dehnten fortgesetzt ihr Imperium aus, ihre Heere waren bis nach Europa vorgedrungen. Im April 1241 wurde das deutsch-polnische Heer bei Liegnitz /Schlesien geradezu zermalmt. Den Kopf des getöteten Herzogs Heinrich steckten die Mongolen auf eine Lanzenspitze und hielten ihn den Christen als Schreckensbild hin. Zur selben Zeit erlitt ein weiteres christliches Heer in Ungarn eine krachende Niederlage. Und es sah so aus, als wäre dies nur der Anfang einer beispiellosen Zerstörung: der Untergang des Abendlandes insgesamt stand bevor! Doch plötzlich wendeten sich die Asiaten nach Süden Richtung Ungarn und dann zurück nach Südrussland. Niemand wusste, warum.
Hören wir den Begriff „Slawen“, denken die meisten vermutlich an Gebiete wie Tschechien, Polen, die Länder des Balkans oder an Russland, kurzum, man assoziiert damit in gewisser Weise den „Osten“. Wobei es „den Osten“ als konkreten Ort ebenso wenig gibt wie „die Slawen“ als eine einheitliche Ethnie. Allenfalls lassen sich Letztere als regionales Unterscheidungsmerkmal in Süd-, Ost- und Westslawen unterteilen. Dabei sind es die kulturellen und mythologischen Zeugnisse der westslawischen Stämme der Germania Slavica, die man zwischen den Flüssen Elbe und Oder respektive dem Kap Arkona auf Rügen und den Lausitzen (Oberlausitz/Niederlausitz) verorten kann, denen der Slawist Hans-Christian Trepte im unter dem Buchstaben „S“ erschienenen Band der Reihe „Kleines Mythologisches Alphabet“ eine intensivere Betrachtung widmet.
Seit dem Mittleren Reich, also ungefähr seit dem 21. Jahrhundert vor Christus, sind aus Ägypten kurze mythologische Erzählungen überliefert, die als Beschwörungsformeln zur Bewahrung und Wiederherstellung der Gesundheit eingesetzt wurden. Wir nennen sie heute „Historiola“, auf gut Deutsch „Geschichtchen“. Ein solches heilbringendes Geschichtchen entstand aus dem Mythos von der List der Isis. Die frühesten Quellen zu diesem Mythos stammen aus der Arbeitersiedlung Deir el-Medina auf dem Westufer Thebens, südöstlich des Tals der Könige. Datiert werden sie in die sogenannte Ramessidenzeit zwischen dem 13. und 11. Jahrhundert vor Christus.
Unendlich und geheimnisvoll Durchströmt uns süßer Schauer – Mir deucht, aus tiefen Fernen scholl Ein Echo unsrer Trauer. Die Lieben sehnen sich wohl auch Und sandten uns der Sehnsucht Hauch.
Novalis, Hymnen an die Nacht VI, 9
Ich erinnere mich an einige Sternstunden der Germanistik, ich war damals noch nicht lange eingeschrieben an der halleschen Alma mater und verdanke sie meinem Dozenten Rüdiger Ziemann, bei dem ich neben Seminaren zu Goethe und Nietzsche auch eines zu Novalis belegte. Es waren spärlich besuchte Seminare, schon zu Beginn der neunziger Jahre galt die Lyrik auch im akademischen Bereich als verrufenes Zauberzeug.
Der gewählte Titel geht auf zwei literarische Werke zurück: 1. Das Volksbuch des österreichischen Schriftstellers Johann Nepomuk Vogl (1802-1866) mit dem Titel Twardowski, der polnische Faust. Ein Volksbuch aus dem Jahr 1861 und 2. auf Pan Twardowski oder Der polnische Faust (1981) von Matthias Werner Krus (1919-2007). Der „polnische Faust“ könnte dabei nahelegen, dass mit Pan Twardowski lediglich ein polnisches Pendant zum deutschen Faust entstanden sei und damit ein Kulturtransfer von West nach Ost seine Bestätigung finden würde.
Zuerst noch nahe am Meeressaum, dann bald schon immer höher und kurvenreicher führt die Straße von Kalamata nach Süden. Sie windet sich zwischen Meer und Bergen, vorbei an massigen Felsklötzen, die bewachsen sind mit dichter Maccia und Zypressen. Soweit man blicken kann, sind die Niederungen von unermesslich vielen Olivenbäumen bedeckt. Wir fuhren bald schon hoch über dem Meer und schauten zurück auf die Bucht von Kalamata. Das weiße Häusermeer verschwand rasch aus unserem Blickfeld, immer weiter aufwärts führend zwängte sich die Straße durch wildzerklüftete Felslandschaften, die in ein verblüffend üppiges Grün getaucht waren.
Marayin – Die spirituelle Welt der Ureinwohner des Arnhemlands, Australien
Dieses Buch bildet den Auftakt zu der Reihe Kleines MythologischesAlphabet der Edition Hamouda, einer, wie von einem der Herausgeber im Vorwort beschrieben, essayistisch-spielerischen Reihe, die sich passend zu den einzelnen Buchstaben des Alphabets mit Mythologien beschäftigt.
Wendepunkte am Golf von Neapel. Ein Roman über Nietzsche, Meysenbug und ein Bildungsexperiment
Lasst uns in diesen bitteren Tagen in den Süden fahren, in die Vergangenheit von 1876/77, nach Sorrent am Golf von Neapel, Blick auf Capri, mit der mütterlichen Freundin Malwida von Meysenbug und ihren drei „Söhnen“ – einem Studenten, einem Doktor der Philosophie und einem Professor der Altphilologie aus Basel. Geben wir deren Namen hinzu: Albert Brenner, Paul Rée und Friedrich Nietzsche.
Phönix aus der Asche? Von den Verwicklungen einer Auferstehung
Den meisten fallen Klassiker wie „Krieg und Frieden“ oder „Anna Karenina“ ein, wenn von Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828-1910), auch bekannt als Leo Tolstoi, die Rede ist. Sein 1899 unter dem Titel „Woskressenije“ (Auferstehung) erschienener dritter und letzter Roman, der als Fortsetzungsgeschichte den Weg in die Öffentlichkeit fand, stieß in der literarischen Welt seiner Zeit zwar auf ein breites Echo und wurde nachfolgend mit zahlreichen Übersetzungen, Verfilmungen sowie Theater- und Hörspieladaptionen gewürdigt, doch steht das Werk bis heute im Schatten seiner berühmten Vorgänger. Zu Unrecht.
mit Bestürzung haben wir die Nachricht aufgenommen, dass die Leipziger Buchmesse auch in diesem Jahr ausfallen muss. Lesen, Bücher entdecken, das bedeutet, einen der mächtigsten Schlüssel überhaupt in Händen zu halten, einen, den man zwar nicht sehen kann, der aber die Tore zur Fantasie, zur Erkenntnis und damit in gewisser Weise auch zu unserer Seele und zu unserem Ich aufschließt. Nie war die Kultur und vor allem auch die Literatur wichtiger als in diesen Tagen. Literatur öffnet nicht nur Welten, sie ist auch in der Lage, Brücken zu bauen, wo Gräben unüberwindlich scheinen. Sie ist, was uns alle verbindet.
Die Schriftstellerin Gertrude Stein hätte es nicht treffender beschreiben können: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Doch was hat es wirklich auf sich mit der Rose, der erstmals von der antiken griechischen Dichterin Sappho benannten „Königin der Blumen“? Sie ist real: Wir können sie berühren, den Duft riechen, Blütenblätter, Farben und Gestalt mit unseren Augen erfassen. Wir können sie im Blumenladen kaufen, im Garten züchten oder in der freien Natur bewundern. Rund zweihundertfünfzig Arten sind nachgewiesen und wer sich wissenschaftlich mit ihnen beschäftigen mag, ist in der Rhodologie trefflich aufgehoben. Dennoch bleibt die Rose ein Mysterium.
Magie ist ein äußerst umfänglicher Themenkomplex, in dem mit unterschiedlichster Perspektive unterschiedlichste inhaltliche Aspekte näher betrachtet werden können. Das zeigt schon die erste Literaturrecherche oder ein Blick in die bisherigen Blog-Beiträge des Jahres. Eine Erörterung der dabei zentralen Begrifflichkeiten und Konzepte ist in einer solchen Situation zwar von entscheidender Bedeutung, doch kann das im vorgegebenen Rahmen an dieser Stelle kaum sinnvoll erfolgen. Deswegen möchte ich mich hier bescheiden und – gemäß des Titels – auf die begrenzte Themensetzung der parallelen Denkstrukturen von Magie und Technik fokussieren. Der Beitrag will dabei keinesfalls die Phänomene Technik und Magie gleichsetzen oder Magie vorschnell als eine Vorstufe von Technik und Wissenschaft (oder auch Religion) verstehen, wiewohl hierzu durchaus Ansatzpunkte vorhanden wären (vgl. Cassirer, bspw. 1994, S. 265). Vielmehr geht es darum, ähnliche Impulse und Denkmuster zu benennen, die sowohl der Magie als auch der Technik zugrunde liegen.
Können wir überhaupt von einer allgemeinen slawischen Mythologie sprechen? Eine solche Frage ist kompliziert und nicht einfach zu beantworten, steht sie doch in einem Zusammenhang mit der Frage, ob es die Slawen als solche überhaupt gibt. Gehen wir allerdings von der Bejahung dieser These aus, dann können wir auch die Existenz einer allgemeinen slawischen Mythologie postulieren, die der Ausdifferenzierung in die drei slawischen Gruppen, Ost-West- und Südslawen und ihren mythologischen Glaubensvorstellungen vorhergehen.
Zwerge, Drachen, Zauberer und eben auch Trolle nehmen in den Geschichten des dritten Teils der Sagas aus der Vorzeit eine bedeutende Rolle ein. Und er trüge zu Unrecht den Untertitel Trollsagas, wenn diese mythischen Damen (es sind meist weibliche Trolle) nicht eine gewichtige Rolle bei der Erfüllung eines Heldenschicksals in den Sagas einnehmen würden. Ohne die Hilfe von Grid und ihrer Tochter Hild, ohne Brana und Mana, um nur ein paar zu nennen – die Helden der in diesem Band gesammelten Sagas wären ziemlich schnell am Ende ihrer Reise gewesen. Schließlich sind es deren Zauberkünste, Ratschläge und magischen Gegenstände (Schwert, Ring, Umhang), welche den Helden die Bewältigung ihrer Taten endgültig ermöglichen. Ihre Rolle in den Trollsagas ist also eine positive und helfende – von der sehr variablen Attraktivität ganz abgesehen.
Was ist Magie? Ist sie das Tor zu dem, was wir jenseits unserer Sinne und unserer Vorstellungskraft vermuten? Unsere ureigene Manipulation und Projektion von Wünschen, Ängsten und Träumen in einem? Die treibende Kraft für das, was greifbar scheint und doch ungreifbar bleibt – das Versprechen nach dem Möglichen, der Sehnsucht nach Erkenntnis, an welcher sich der Goethische Faust fast schon verzweifelt abmühte? Oder ist Magie ein Mittel der Ordnung, das unserer von Augenblick zu Augenblick neu erlebten und wahrgenommenen Welt Strukturen verleiht mithilfe von Amuletten, Bildern, Ritualen und nicht zuletzt dem (schriftlichen und gesprochenen) Wort?
Als Goethes Faust im frühen 19. Jahrhundert erkennen wollte, was die Welt im Innersten zusammenhält, und er mit zunehmender Frustration bemerken musste, dass sein normales Denken nicht an das ersehnte Ziel kommen kann, hat er sich der Magie ergeben und auf engen Kontakt mit dem Teufel eingelassen. Magie klang damals und klingt heute stets so, als ob da etwas Verbotenes passiert, weshalb es wahrscheinlich keine gute Idee des amerikanischen Wissenschaftsautor Arthur C. Clarke war, in den 1960er Jahren darauf hinzuweisen, dass jede einigermaßen fortschrittliche Stufe der technischen Entwicklung schon lange nicht mehr von Magie zu unterscheiden ist, wobei Clarke an den Laser, die ersten integrierten Schaltkreise und die fortschrittlichen Medientechnologien dachte.[1] Zum Glück haben die Menschen nicht die Finger von den mit ihrer Magie lockenden Dingen gelassen, wie man es sonst tut, wenn etwas verboten ist.
Woher kommen wir? Die Frage entscheidet auch darüber, wohin wir gehen, wer wir sind, was wir wollen und können. Und was das Ganze eigentlich soll. Seit es Bewusstsein gibt, hat sich das Wesen homo sapiens diese Fragen gestellt. Ohne Fragen gäbe es Bewusstsein gar nicht und es kann nur da sein als fragendes. Ich frage, also bin ich (vielleicht). Dass man keine klaren Antworten auf solche Fragen geben kann – wie auf den „Sinn des Lebens“ – führt dazu, dass wir etwas umständlicher werden müssen. Wir müssen Umwege suchen, um den Fragen entweder aus dem Weg zu gehen oder sie doch einzukreisen. Erzählungen können beides.
In Regenfällen versinkt Nordgriechenland. Bilder und Namen überfluteter Ortschaften huschen durch die Nachrichtenkanäle. Mantoudi, Achladi, Agia Anna. In der Region Evia und an der Grenze zu Albanien soll die Lage dramatisch sein. Immer mehr und immer südlicher ziehen Regenfronten über die Schaubilder der Wettervorhersagen. In Athen jedoch ist es bei meiner Ankunft in den ersten Oktobertagen noch trocken und warm. In meiner Unterkunft nimmt mich Sergej in Empfang, ein Ukrainer aus Mariupol im Camouflage-Anzug. Er läßt mir kaum Zeit, meinen Rucksack abzusetzen, beginnt unverzüglich, mir Athen zu erklären: Wie man wohin gelangt, was man gesehen haben muss und was nicht. Sergej spricht unentwegt über dies und das, allein über meine Mitbewohner in seiner Unterkunft, düstere Gestalten, die schweigend umherschleichen und einem Dostojewski-Roman entsprungen sein könnten, bewahrt er Stillschweigen. Vom Dach des Hauses aus zeigt er mir die Akropolis, führt mich danach zu einem Kaffeehaus am Rande eines Parks. Hier treffe ich Stefanos, den Freund, mit dem ich schon früher auf Kreta und in Griechenland gereist bin. Gemeinsam wollen wir dieses Mal die Mani durchwandern, jene karge und legendäre Halbinsel, die der Schriftsteller Patrick Leigh Fermor so unnachahmlich beschrieben hat. Zum südlichsten Zipfel des Peloponnes, zum Totenorakel der alten Spartaner und zum Kap Tenaro wollen wir, wo sich den mythischen Überlieferungen nach einer der Hadeseingänge befinden soll.
Einige der bekanntesten Themen der Hebräischen Bibel (des Alten Testamentes) sowie der talmudischen und rabbinischen Schriften zu hinterfragen, ob in ihnen nicht auch ein mythischer Kern stecke, hat sich Alexander Rauch mit seinem Buch Mythos im Judentum vorgenommen, das 2021 in der Reihe „Kleines Mythologisches Alphabet“ des Leipziger Verlages Edition Hamouda erschienen ist.
In den Mythen vieler Völker und Kulturen spielen bestimmte bedeutungskräftige Zahlen (Symbolzahlen) und Zahlverhältnisse eine wichtige Rolle. Warum aber wird seit alters her bestimmten Zahlen besondere Bedeutung zugeschrieben? Sehr verkürzt gesagt, gibt es dafür zwei Motive: Entweder kommt diesen Zahlen aus ihren mathematischen Eigenschaften heraus eine besondere Rolle zu oder es gibt äußere Faktoren in der Lebenswelt, die mit einer bestimmten Zahl verknüpft sind. Man kann also von innerer Auszeichnung auf Grund mathematischer Eigenschaften (eine Zahl besitzt z. B. besonders viele Teiler, was für das Rechnen günstig ist) einerseits und von äußerer Auszeichnung (eine Zahl referiert auf ein naturgegebenes Faktum, z. B. die Zahl der Finger, die Zahl der Tage eines Mondumlaufes) andererseits sprechen.
Nichts scheint so fern wie die Magie, nichts so nah. Auf der einen Seite das Mittelalter, Ägypten, die Orakel und Zaubersprüche in fremdem Kauderwelsch, das ganze Abakadabra der geistigen Vernebelung. Der Glaube, Dinge durch den Geist bewegen zu können … Halt, da ist schon die andere Seite, die Nähe allen magischen Denkens. Wer glaubt, durch richtiges Denken die Wirklichkeit verändern zu können, denkt schon magisch. Von den Blicken in die Horoskope will ich gar nicht reden, aber doch von kleinen Alltagshandlungen, die magischen Charakter haben. Zum Beispiel sich einen Guten Morgen zu wünschen. Durch das Aussprechen dieses Wunsches soll der Morgen ja ein guter werden. Und die vielen anderen Wünsche, Hals- und Beinbruch, ich drück dir den Daumen. Sie müssen alle ausgesprochen werden. Die Sprache selbst also bürgt für die Anwesenheit der Magie. Denn sie rückt das, was fern ist, zum Beispiel die Vergangenheit oder ein anderes Land, in unser Bewusstsein. Das nennt man auch Telekinese. Die Sprache vollbringt es, wie die Musik, durch Schwingungen, freundliche, aufbauende, erfrischende wie auch runterziehende, deprimierende, sinnlose. Höhere Magie und niedere. Wie Magie baut Sprache auf Ritualen auf. Es gibt Wortfolgen, Konjunktionen, die verbinden, es gibt Objekte und Subjekte, Syntax und Regeln generell. Interessant ist, dass das Wort für Grammatik, lat. grammatica sich in Französisch in grammaire und grimoire spaltet, also Grammatik und Zauberbuch. Auch im Mittelenglischen hat grammarye eine Zauberkomponente, die sich im Glamour wiederfindet.
wieder einmal neigt sich ein Jahr dem Ende entgegen und fordert uns heraus, Rückschau zu halten, uns zu besinnen, den Blick auf manches gelungene oder ungelungene Detail zu lenken und dabei gleichermaßen unseren Blick dem Unbekannten zuzuwenden, das uns erwartet. Vielleicht ist man sich an keinem Tag der Übergänge und Zusammenhänge, dem Bangen und Hoffen, der Erfahrungen und der Möglichkeiten so sehr bewusst wie am 31. Dezember, wenn ein Großteil der Welt bereit ist, das Alte umarmend loszulassen und das Neue mutig willkommen zu heißen. Keine Zeit auf den Uhren des Lebens scheint so gegenwärtig zu sein.
Es war ein Tag, wie ihn Weihnachtsmänner lieben: draußen war es kalt, die Fensterscheiben trugen Eisblumen, der Kamin im Haus verbreitete wohlige Wärme und aus dem Stall hörte man das Schnaufen der Rentiere, die gerade frisches Heu bekommen hatten. Ich saß im Schaukelstuhl, neben mir auf dem Tisch dampfte Glühwein und vor mir lagen die Listen mit den Geschenken, die für die Kinder zusammengestellt und für die Bescherung in Säcke gepackt werden sollten. Alles lief normal und gemütlich – Weihnachten konnte ruhig kommen.
Zweifellos wäre es unterkomplex, würde man versuchen, die gesamte Göttliche Komödie auf nur einen Aspekt, wie den psychologischen, zu reduzieren. Viele Ebenen treffen in diesem monumentalen Werk aufeinander und viele Deutungen bieten sich an und scheinen gerechtfertigt. Aber doch wird der psychologischen Dimension fast zu wenig Beachtung geschenkt. In einer der populäreren Sekundärlektüren zu Dante, Kurt Flaschs „Einladung, Dante zu lesen“, gibt es zumindest keinen dezidierten Abschnitt, der sich ausschließlich mit diesem Themenbereich beschäftigt. Andere Faktoren, wie politische Interessen, wirtschaftliche Interessen, historische Zufälligkeiten mit ihren Konventionen wie Genres und intellektuellen Diskursen, lösen die Psyche zwischen sich auf und machen sie zu einem Geist. Jedoch Geist im Sinne von Schemen, Gespenst, nicht im Sinne von spiritus. Eine rein zufällige Form, die sich nur unter einem bestimmten Blickwinkel zeigt, aber nicht aus sich selbst heraus ist. Die Illusion eines Blickes auf den Flügeln eines Schmetterlings, bloße Funktion der natürlichen Auslese.
Der Sohn eines Chirurgen besaß ein scharfes Besteck: die Sprache. Mit ihr spießte er sein Leben lang seinen Erzfeind auf, eine Legion eigentlich: die Dummheit. Wie später Karl Kraus war er der Phrase auf der Spur, der dümmlichen Wiederholung des Ewig-Bekannten, dem eitlen Zitat und der Ehre heischenden Banalität. „Ehre entehrt“, war eine seiner öffentlichkeitsfeindlichen Devisen. Er lebte zurückzogen an der Seine, in der Normandie, mit seiner Mutter. Er sah aus, wie man sich einen Normannen oder Kelten vorstellte: lang hängender Schnurrbart, gewölbter Leib, ein Riese (1,83 in einer Zeit, da der Durchschnitt für Männer bei 1,66 lag).
Wie so oft in den Geschichten, fängt alles bei einem großen Festgelage in der Hallen eines nordischen Häuptlings an. Die Männer sitzen in Reihen auf langen Bänken an den Tischen, die sich unter der Last der Speisen biegen. Vor Kopf thront der Häuptling im Kreise seiner engsten Vertrauten. Nur jene Krieger, die sich den meisten Ruhm erworben und die wertvollste Beute gemacht haben, erhalten einen Ehrenplatz an seiner Tafel. Mit ihnen plant er zukünftige Raubzüge und berät über politische Entscheidungen. Es geht heiter und vor allem laut zu. Die Männer essen und trinken ausgiebig, es werden Witze erzählt und aus den uns bekannten Trinkhörnern fließt der Met in Strömen. Dann zu späterer Stunde erhebt sich aus ihrer Mitte der Skalde, und die Krieger, mittlerweile recht angeheitert, verfallen zwar nicht in Schweigen, doch immerhin kehrt genug Ruhe ein, dass die meisten im Raum ihn hören können. „Hört meine neueste Dichtung, ruhmreicher Herr!“, beginnt der Skalde und seine dunkle volle Stimme ertönt im Raum. Er ist Isländer und die, das weiß jeder, sind die besten Skalden. „Ich will euch erzählen von den alten Tagen, von ruhmreichen Schlachten und großer Beute. Aus der Zeit, als Island noch nicht besiedelt war“. Als seine Worte langsam verhallen, wird es stiller in der Halle, die Krieger auf den hinteren Bänken recken die metschweren Köpfe und lauschen seinen Worten, als der Skalde beginnt zu singen …
Von all den Legenden, die die geistige Welt des Mittelalters prägten, ist die Legende – oder sagen wir, der Mythos – vom Priesterkönig Johannes eine der nachhaltigsten gewesen. Im 12. Jahrhundert lief durch Europa die Kunde von einem mächtigen christlichen Herrscher im Osten, der seinen Glaubensbrüdern im Kampf gegen den Islam zu Hilfe kommen würde. Presbyter, d. h. Ältester bzw. Priester, nenne er sich, weil an seinem Hof eine Unzahl weltlicher und geistlicher Würdenträger Dienst tue, unter denen er sich durch einen Akt paradoxer Bescheidenheit auszeichne, wo er doch Herr aller Herren und in Wahrheit der mächtigste Monarch der Welt sei. In seinem Reich herrschten wahrhaft paradiesische Zustände: Überfluss an allem, kein Verbrechen, keine Unmoral; Krankheiten könnten wundersam geheilt werden, Quellen schenkten Jugend und langes Leben.
Meine diesjährigen Beiträge, die dem Thema Musik im religiösen bzw. philosophischen Kontext gewidmet waren, sollen an dieser Stelle mit einem dritten Text zu einem gleichsam ternärem Ganzem Abschluss finden. Dies war weniger geplant, als dass es sich aus Nachtlektüre von Übersetzungen diverser chinesischer Erzählungen bzw. philosophischer Texte ergab, welche interessantes Material zu Tage förderte. Darunter war „Frühling und Herbst“, das gemeinhin unter der Verfasserschaft von Lü Bu We (3. Jh. v. Chr.) geführt ist (wahrscheinlich versammelte er aber „a team of scholars to produce this work“, Stock in Bohlman, S. 397). Dieses Werk kann allgemein als eine Art Kompendium bezeichnet werden, in dem maßgebliche Bräuche und ethisch-moralische bzw. politische Vorstellungen seiner Zeit versammelt sind. Darunter sind nun auch einige sehr interessante Ausführungen zur Musik zu finden, die gut zur Komplementierung der rauschlastigen anderen beiden Beiträge geeignet erscheinen. Ich bin kein Sinologe und kann nicht anders, als mich dem Thema mit einer gewissen Unbedarftheit zu nähern. Das betrifft eventuell die Art der verwendeten Ausgaben oder die notwendigerweise begrenzte Kenntnis der Forschung. Irrtümer mögen mir deswegen verziehen und gern angezeigt werden. Dem Grundgedanken, dem ich dabei folge, sollte das jedoch keinen Abbruch tun.
Die Entdeckung der altsteinzeitlichen Höhlenkunst in Europa
Dass wir heute von den europäischen Höhlenkünsten des Jungpaläolithikums (etwa 45.000 – 11.000 v. d. Z.) wissen, ist im Grunde einem Hund und einem Kind zu verdanken: Es war das Jahr 1868. Modesto Cubillas Pérez, ein Jäger aus dem spanischen Kantabrien, streifte wie üblich mit seinem Hund durch die Ländereien, doch blieb der wilde Vierbeiner diesmal zwischen Felssteinen hängen und sein Herrchen musste ihm zu Hilfe eilen. Pérez fiel bei seiner kleinen Rettungsaktion auf, dass sich hinter den Steinbrocken noch eine Höhle zu verbergen schien. Von seiner Beobachtung berichtete er einige Jahre später dem Besitzer dieses Landstreifens und Privatarchäologen Marcelino Sanz de Sautuola. Sautuola ließ den von Felsen versperrten Eingang öffnen, warf einen Blick in die Höhle und stufte sie aus archäologischer Perspektive als uninteressant ein. Nachdem er aber auf der Weltausstellung 1878 in Paris die Neuentdeckungen eiszeitlicher Funde bestaunte, ging er erneut in die Höhle und fand zu seiner Freude auch nach einer Bodengrabung tatsächlich Stein- und Knochenwerkzeuge, die er einer frühen Menschheitsperiode zuordnen konnte. Als Sautuola ein weiteres Mal, diesmal gemeinsam mit seiner fünfjährigen Tochter, die Höhle betrat, übertraf das, was sich offenbarte, alle Erwartungen: Die kleine Maria schaute zur Decke – nicht auf den Boden des Archäologen – und erblickte dort die kunstvolle Ausgestaltung mit zahlreichen Tierabbildungen, die etwa 15.000 Jahre alt sind. Die Rede ist von der Altamira-Höhle (vgl. Vollkommer 2000, 38f.).
Stanisław Lem, vor 100 Jahren im damals polnischen Lemberg (heute ukrainisch Lviv) geboren, wird in diesem Jahr weltweit geehrt. Das polnische Parlament (Sejm) hat das Jahr 2021 zum Stanisław-Lem-Jahr erklärt. In diesem Jahr wird auch das erste Lem-Videospiel, The Invincible, erscheinen. [1] Im Jahre 2013 war bereits der nach Lem benannte polnische Forschungssatellit im Rahmen des internationalen BRITE-Projekts in eine Erdumlaufbahn geschickt worden. Ohne die Klischeevorstellung vom „Leseland DDR“[2] zu bemühen, möchte ich dennoch die Behauptung wagen, dass es in der DDR nur sehr wenige Menschen gab, die keinen Text von Lem gelesen bzw. die keine Verfilmung eines seiner literarischen Werke gesehen hatten. Wie bei vielen anderen Texten der polnischen Literatur spielte auch bei der Lektüre Lems die Herkunft und der Lebenslauf zunächst eine eher zweitrangige Rolle. Das, was eigentlich zählte, war das Genre Science-Fiction bzw. Utopie oder Fantasy. Lem war weltweit zu einer „Science-Fiction-Ikone“[3] avanciert bzw. wurde dazu gemacht:
„Dies ist kein Märchen. Und es ist auch kein Traum. Sondern eine Lebenswende“ [1]
Viel ist in 700 Jahren geschrieben worden über Dante Alighieri (1265-1321), den florentinischen Dichter und Gelehrten, der dem Minnesang in der poetischen Prosa und in den Versen der „Vita Nuova“ (Das Neue Leben) huldigt, die Philosophie im Werk „Convivio“ (Gastmahl) zu Wort kommen lässt und seine nach dem Vorbild des Aristoteles entworfene Politiktheorie in der „Monarchia“ beschreibt. Berühmt und auf seine Weise berüchtigt wurde er indes durch sein Hauptwerk, die „Commedia“ (Komödie), heute zumeist unter dem Titel „Divina Commedia“ (Die Göttliche Komödie) bekannt, wobei das „Divina“ auf eine Anmerkung des Schriftstellers Giovanni Boccaccio (1313-1375) zurückgeht; eine ganz ureigene und zugleich seltsam zeitlose Reise in eine Anderswelt, die wir fürchten und deren wahre Gestalt sich unserer Erkenntnis entzieht. In seiner Dichtung durchmisst Dante das gesamte physische und geistig-seelische Universum des Mittelalters und hat es in einem gewissen Sinne innovativ neu erschaffen. „Niemand verlieh der Verbindung des Schöpfungssystems auf dieser Welt mit demjenigen im Jenseits einen vollkommeneren Ausdruck als Dante. Aus der Hölle steigt man in die intermediäre, zeitlich begrenzte Welt auf. Dort erhebt sich der Purgatoriumsberg zum Himmel, gekrönt vom irdischen Paradies, das nicht mehr in einem verlorenen Winkel des Universums, sondern auf seiner ideologischen Ebene, der Ebene der Unschuld zwischen der höchsten Läuterung im Purgatorio und dem Beginn der Glorifizierung im Himmel, liegt.“ [2]
Der Schamanismus war ein wichtiger Bestandteil des Lebens der Tlingit im Südosten Alaskas. Jeder Clan hatte seinen eigenen Schamanen, der als (Ver-)Mittler zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Welt diente. Sowohl Männer als auch Frauen konnten Schamanen werden. Die Eignung dazu konnte sich bereits in einem frühen Alter zeigen. Manchmal zwang man sogar Personen, gegen ihren Wunsch Schamane zu werden, weil sie eine zufällige Begegnung mit einem Geist gehabt hatten. Eine Berufung konnte nicht zurückgewiesen werden, da dies Krankheit oder Tod zur Folge hatte.
Es ist nicht zu leugnen: Die Göttliche Komödie ist eine herausfordernde Lektüre. In Auszügen hatte ich sie bereits im Laufe meines Studiums gelesen, aber niemals einen Teil vollständig, geschweige denn alle zusammen. Zudem weisen mein Wissen und mein Verständnis, was die vielschichtige mittelalterliche Politik in Europa und die Feinheiten christlicher Symbolik betrifft, deutliche Lücken auf. Mein Interesse reicht in fernere Zeiten zurück, zu den Monumenten und Hinterlassenschaften der verschiedenen Völker, die lange vor der Zeit der Römer oder der Geburt Christi die Britischen Inseln bewohnten.
Die Nordischen Mythen und Sagas sind in der modernen Populärkultur wieder in den Blickwinkel des Publikums gerückt. Spätestens seit dem großen Erfolg der Fernsehserie Vikings (2013-2020) begeistert diese Thematik nicht mehr allein die Fans der Mittelalter- und Reenactmentszene, sondern stößt auf ein breites Interesse bei der abendlichen Unterhaltung. Nordische Sagas und Mythen sind, zumindest zeitweilig, wieder en vouge geworden. Und die Geschichte des Dänenkönigs Ragnar Lothbrok ist, wenn auch historisch hoch umstritten, nicht nur sehens-, sondern auch lesenswert! Die ideale Gelegenheit also, um sich ein Buch über die Helden der isländischen Vorzeit zur Brust zu nehmen und -„Ad fontes!„, wie die Angehörigen der Historikerzunft zu sagen pflegen – in die Welt der Wikinger einzutauchen. Denn die Sagas aus der Vorzeit zeigen: Ragnar ist nicht allein. Heldenfiguren, ob historisch oder fiktional, gibt es viele in der nordischen Sagaliteratur.
„Ich, ihr Bürger, bin körperlich tot, aber in dem Wohlwollen und der Freundlichkeit, die ich euch gegenüber empfinde, bin ich lebendig. Ich bin, nachdem ich mich an die gewandt habe, die unter der Erde die Herren der Dinge sind, hier bei euch nun zu eurem Nutzen. Und so rufe ich euch, da ihr ja meine Mitbürger seid, jetzt auf, nicht furchtsam oder verschreckt zu sein, nur weil unerwartet ein Geist anwesend ist. […] Freilich verzeihe ich euch, daß ihr angesichts eines so merkwürdigen Anblicks nicht wißt, was ihr recht tun sollt. Wenn ihr mir zudem ohne Furcht gehorchen wollt, werdet ihr von eurer gegenwärtigen Furcht ebenso befreit wie von der bevorstehenden Katastrophe. Doch wenn ihr zu einer anderen Auffassung gelangt, bange ich um euch, daß ihr wegen eures Mißtrauens uns gegenüber in ein unheilbares Unglück stürzen werdet. Weil ich euch schon zu meinen Lebzeiten wohlgesonnen war, habe ich auch jetzt in diesem meinen unerwarteten Erscheinen vorhergesagt, was für euch vorteilhaft ist. […] Es ist mir nämlich nicht gestattet, lange zu bleiben, wegen derer, die unter der Erde die Herrscher sind.“ (Phlegon von Tralleis, Das Buch der Wunder, S. 19 f. )
Bereits seit 2016 erscheint im Leipziger Verlag Hamouda die Reihe „Kleines Mythologisches Alphabet„. Diese schön gestaltete Buchreihe orientiert sich an den Buchstaben des Alphabets Mythologica. Von A wie Australien (bereits erschienen) bis Z wie Zauber sollen mythische Hinter- und Untergründe aufgedeckt und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden.
Der italienische Dichter Dante Alighieri (1265-1321) gehört unbestreitbar zu den Großen der Weltliteratur. Seine La Divina Comedia, den meisten in unserem Sprachraum bekannt als DieGöttliche Komödie[1], gilt als Meisterwerk der italienischen Dichtkunst und prägte maßgeblich die Entwicklung der italienischen Sprache. Die darin geschilderte Jenseitsreise Dantes, der in Begleitung des antiken römischen Dichters Vergil das Inferno, das Purgatorio und schließlich mit seiner großen Liebe Beatrice das Paradiso durchwandert, ist zumindest vom Namen her den meisten Menschen ein Begriff.
„O Fortuna, velud luna statu variabilis, semper crecis aut decrecis, vita detestabilis! nunc obdurat et tunc curat ludo mentis aciem, egestatem, potestatem dissolvet ut glaciem.“
O Fortuna, veränderlich wie die Phasen des Mondes, nimmst du immer zu oder ab, verabscheuungswürdig in deinem Wandel! Jetzt lähmt sie, dann beflügelt sie wieder, ganz nach Laune, den Schwung des Geistes, läßt bittere Armut und Herrschergewalt schwinden wie Eis.
(Carmina Burana, 17)
Ein Wechsel von Regen und Sonnenschein begleitet mich auf der Reise gen Süden, als wollte mich das Wetter, das sich seit jeher dem menschlichen Zutun zu entziehen versteht, auf das Wochenende einstimmen. Eine schwer in Worte zu fassende Ruhe liegt in der Septemberluft, die nach Wiesen, Weite und Land duftet. In der Ferne künden Blitze, die sich in den Wolken verfangen zu haben scheinen und meinen Weg durch die Dämmerung begleiten, von spätsommerlichen Gewittern. Es ist ein magischer Moment, einer von denen, die allzu leicht ins Vergessen gleiten, sobald man von hohen Häusern umschlossen ist und die dann allenfalls noch in der Vorstellung existieren. Ich bin in Benediktbeuern etwa eine Stunde Fahrzeit von München entfernt; die Zeit hier draußen scheint anders zu laufen, nicht langsamer, aber gelassener, als sei sie sich ihrer eigenen Vergänglichkeit und vor allem ihrer Geschichte bewusst.
Die Göttinger Romanistin Franziska Meier legt mit diesem Band die Vorträge einer Ringvorlesung über die Rezeption Dantes vor. Der Ansatz ist komparatistisch und so kann ein großer Teil europäischer Literaturen abgedeckt werden, einschließlich der argentinischen Stimme von Jorge Luis Borges, einem der größten Dante-Verehrer der Moderne. Es ist eine gute Idee, nicht nur Dante-Spezialisten einzuladen, sondern eben Kulturvergleicher und -kenner. Bei einem so breiten Thema wird man immer nur mit Proben rechnen können, Bohrungen an einzelnen Stellen der kulturellen Landschaften.
Im Jahre 1860 hörte der französische Archäologe Lenormant in Eleusis von einem über hundertjährigen griechisch-orthodoxen Priester eine Legende, die folgendermaßen begann: „Die heilige Demetra war eine alte, barmherzige und gutmütige Frau aus Athen, die ihre wenigen Mittel darauf verwendete, armen Leuten zu helfen. Sie hatte eine Tochter mit Namen Kyrà Phrodíte (Frau Aphrodite), die über alle Maßen schön war; kein anderes Mädchen hat man seitdem so hübsch gesehen. Ein türkischer Aghas [niedrigster Titel eines türkischen Militär- oder Zivilbeamten] aus der Gegend von Souli [Ort in Epirus, einer Region in Westgriechenland an der Grenze zu Albanien], ein sehr böser und in der Magie bewanderter Mann, erblickte einst die Jungfrau, als sie ihr goldenes, bis auf die Erde reichendes Haar kämmte, und verliebte sich in sie. Er wartete eine Gelegenheit ab, mit ihr zu sprechen, und als diese ihm gegeben wurde, versuchte er, sie zu verführen.
Viele Menschen befinden sich immer noch in der außerordentlichen Situation, gerade wesentlich mehr Zeit zur Verfügung zu haben als sonst. Was also tun? Herumsitzen und sich von schlechter Laune regieren lassen? Keine gute Idee. Falls Sie das Werk noch nicht kennen sollten, hätte ich eine Empfehlung – beschaffen Sie sich Dantes Meisterwerk, die Divina Commedia. Vermutlich sind etliche von Ihnen im Italienischen nicht so gut zuhause, dass Sie das Buch im Original lesen könnten. Dann darf ich Ihnen die Übersetzung von „Philaletes“, dem König Johann von Sachsen, empfehlen, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine fulminante Übersetzung geliefert hat, die bis heute Gültigkeit besitzt. Johann versuchte, an Schriften aus der Dante-Zeit heranzukommen, um ein kleines Museum aufzubauen, und er lud in seinem Dresdner Schloss die damaligen Kenner des Werkes zu ersten Gesprächen über die Commedia ein.
der britische Religionswissenschaftler Robert A. Segal hat in seiner Publikation „Myth. A very short introduction“ (dt. Mythos. Eine kleine Einführung, Reclam) das Grundlegende der Mythologie wie folgt auf den Punkt gebracht: „Es scheint auf der Hand zu liegen, dass ein Mythos bei allem, was er sonst noch sein mag, vor allem auch eine Geschichte ist“. Und Geschichten fordern vor allem eines: Dass sie erzählt werden. Darum sind wir besonders froh und stolz, in unserem MYTHO-Blog seit nunmehr drei Jahren jeden Freitag von den Kulturen und Religionen der Welt zu berichten, aber auch ureigene Impressionen über Ausstellungen, Reisen, Philosophie, Geschichte, Ethnologie, Literatur und natürlich alte und moderne Mythen vorzustellen und mit Ihnen zu teilen.
Das diesjährige, grosse Dante-Jubiläum – 700 Jahre sind seit dem Tod des Dichters vergangen – fällt in eine sehr turbulente, fast möchte man sagen: „danteske“ Zeit. Viele Errungenschaften der europäischen Aufklärung sind derzeit in Frage gestellt oder schon verloren gegangen; von einem „Rückfall ins Mittelalter“ ist gar die Rede. Das könnte man so sehen, wenn man an die Glaubenskämpfe rund um „Gesundheit“, „Sicherheit“ und „Freiheit“ denkt, wo sich die Menschen scheinbar zwischen einem „ewigem Lockdown“ (Hölle) und einem „ewigem Immunschutz“ durch Impfung (Paradies) zu entscheiden haben. Sollten wir uns da nicht eher auf unsere Vernunftphilosophen besinnen, statt auf einen mittelalterlichen Dichter, der Himmel und Hölle besingt? Einverstanden – nur: Dante ist auch ein Vernunftphilosoph, wenn man unter Vernunft, um F. von Weizsäcker zu folgen, die „Wahrnehmung des Ganzen“ versteht. Diese Vernunft, nicht zu verwechseln mit blosser Ratio und Wissenschaftlichkeit, scheint uns gründlich abhanden gekommen zu sein. Wenn es um „das Ganze“ geht, hat uns Dante einiges zu sagen.
„So viel der Guten hab ich überlebt – Erbarmen! Daß ich mir Jahre nahm die ihnen zur Vollendung fehlten – so viele Todesstunden überstand ich und aus keiner hinterblieb ich weise niemals lernt ich draus auf meiner Bahn. Nicht ich bin einer jener nachtverwehrten Armen die tauben Ohrs die Welt verließen schweißbedeckt und kalt die Oberwelt: bin keiner dieser schönen allzu früh Entseelten – ich blieb zurück und nach mir schlug der Wahn … auch er schlug fehl: ich bin des Zufalls schiere Ungestalt – und nun müßt Ihr mich überstehn: erbarmt euch meiner!“
(Wolfgang Hilbig, Der Zufall, Gedicht zu meinem 60. Geburtstag)
Am 11. Mai 2021 gab es ein großes Hallo auf Erden. Der britische Milliardär Richard Branson ließ sich als erste Privatperson mit eigenem Flieger in den Weltraum schießen. Sein Konkurrent, der Chef von Amazon, Jeff Bezos, brauchte noch einige Tage, dann war auch er oben. Beide waren stolz, sich Kindheitsträume erfüllt zu haben, die sie wahrscheinlich aus dem Fernsehen und aus Büchern genährt hatten. Vermutlich war Jules Verne einer dieser Traum-Paten, denn seine Reise zum Mond hatte schon Hermann Oberth und Wernher von Braun angestachelt, Raketen zu bauen. Kindheitstraum ist auch Menschheitstraum, wenn man den Mythen folgt. Man denke etwa an Ikarus oder an Phaeton oder an all die Feuerwagen im Himmel, die sich in der hinduistischen Mythologie oder in der Bibel finden. Es waren Griechen wie Lukian aus Samosata im 2. Jahrhundert, die schon satirische Geschichten über die Bewohner anderer Planeten machten. Seit dem 17. Jahrhundert aber boomt die Literatur, in der Menschen die Erde verlassen – von Kepler und Godwin bis hin zu Defoe und Cyrano de Bergerac. All das sind mehr oder weniger bewusste Vorbilder, die die Träume der Technik nähren.
Am 24. August 1821 starb in London der Schriftsteller, Doktor der Medizin und nicht fertig gewordene Jurastudent John William Polidori in seinem 26. Lebensjahr. All seine Pläne waren gescheitert. Der Ruhm, den er als Autor hatte erringen wollen, war ausgeblieben, eine materielle Existenz als Arzt hatte er nicht aufbauen können, er blieb letztlich finanziell von väterlichen und freundschaftlichen Zuwendungen abhängig. Ein Unfall hatte ihn schwer angeschlagen, Depressionen und Schulden plagten ihn. Seine Lebensreise endete in seiner Wohnung in der Great Pulteney Street im Londoner Stadtteil Soho. Möglicherweise hatte er mit einem Gift nachgeholfen. Die amtliche Untersuchung seines Todes erbrachte zwar keine Anhaltspunkte für Selbstmord, aber es gibt Grund zu der Vermutung, dass die Jury nur deshalb auf „natürliche Todesursache“ erkannte, weil sie seine Familie schonen wollte.
Im Juli dieses Jahres war es im Botanischen Garten Leipzig wieder soweit: Für wenige Stunden öffnete die ursprünglich in der Karibik heimische Selenicereus grandiflorus aus der Familie der Kakteengewächse ihre etwa dreißig Zentimeter großen Blüten. Das Schauspiel ereignet sich gewöhnlich zwischen Juni und August (was jedoch abhängig ist von Blüte zu Blüte) und innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, vom frühen Abend bis zum Morgengrauen des nächsten Tages. Aus diesem Grund ist die Selenicereus grandiflorus auch als die „Queen of Night“, die Königin der Nacht, bekannt und das Ereignis, wenn die Knospen ihr Geheimnis preisgeben, ist nicht nur für eingefleischte Botaniker ein außergewöhnliches Spektakel.
Nach der Vorstellung der Ureinwohner Australiens sind Lebewesen eine Einheit aus spirit und Körper. Der Begriff „spirit“ ist zwar leicht zu übersetzen, aber er meint weitaus Komplexeres als nur „Seele“ oder „Geist“. Spirits gibt es in vielerlei Form – materiell (verkörpert in Menschen, Tieren, Pflanzen) und immateriell (Ahnengeister, Schöpfungsheroen, Geistkinder u.a.). Bevor ein Mensch entsteht, ist sein „spirit child“ (Geistkind) bereits vorhanden, ewig seit der Schöpfung der Welt in der Traumzeit. Es hat eine enge Verbindung zu einem bestimmten Ort, der später mit dem Totem und dem Land des jeweiligen Individuums verknüpft ist. Nach dem Tode, der Trennung von Körper und spirit, kehrt dieser dann wieder zu diesem Ort zurück. Diese Orte sind potentiell gefährlich, denn spirits können Krankheiten erzeugen und den Tod bringen. Man meidet solche Orte auf den Wanderungen durch das Stammesland.
Auf dem Theaterplatz vor der Dresdner Semperoper steht das Reiterstandbild eines Mannes, der für viele Betrachter ein nahezu Unbekannter ist. Der in den Königsmantel gehüllte Reiter mit dem nachdenklichen Blick ist Johann von Sachsen (1801-1873), der unter dem Pseudonym „Philalethes“ als Übersetzer von Dantes „Göttlicher Komödie“ zu eigentümlichem Ruhm kam.
„Ein ewig Räthsel bleiben will Ich Mir…“ sprach König Ludwig II. von Bayern und baute sich Lust- und Luftschlösser, die uns heute noch beglücken können. Zur gleichen Zeit – vor mehr als 150 Jahren – entstand ein Rätselbuch, das in die meisten Sprachen der Welt übersetzt wurde und Filmemacher, Komponisten oder Künstler immer wieder beflügelt hat. Es geht um Alice in Wonderland, um die siebenjährige Alice Liddell, die Tochter eines Universitätsdekans in Oxford. Es gab sie und zugleich wurde sie erfunden, ein prekärer Vorgang, den wir dem Mathematikdozenten und Theologen Lewis Carroll verdanken, dessen eigentlicher Name Charles Lutwidge Dodgson war.
In meinem letzten Beitrag habe ich versucht, das Verständnis von Kunst, besonders in Hinblick auf Musik und Fest, gemäß Nietzsche und Bataille zu skizzieren. Dabei spielte die Unterscheidung von Dionysischem und Apollinischem bei Nietzsche einerseits und die von „verschwenderischem Aufbrausen“ und „bewahrender Besonnenheit“ bei Bataille andererseits eine zentrale Rolle. Erstaunlicherweise findet man nun eine sehr ähnliche Auffassung auch in einem Kontext wieder, der zeitlich deutlich früher zu verorten ist – im Mittelalter – und in einem deutlich anderen religiös-kulturellen Kontext beobachtet werden kann, nämlich innerhalb des Islams.
In Oldenburg ist zurzeit eine wunderbare Ausstellung zu sehen, die einer fast vergessenen Künstlerin des Jugendstils gewidmet ist: Ilna Ewers-Wunderwald. Die virtuose Zeichnerin, Illustratorin, Übersetzerin, Kabarettistin und Gestalterin von Möbeln und avantgardistischer Frauenmode wurde um 1900 von der Kunstkritik gefeiert. Sie stellte erfolgreich in wichtigen Ausstellungen aus, wie der Berliner und Münchener Secession oder der Großen Berliner Kunstausstellung. Bereits in den 1920er Jahren zog sie sich aus der Öffentlichkeit zurück und ihr Werk geriet seitdem zunehmend in Vergessenheit. Nach mehr als 100 Jahren wurde diese Universalkünstlerin der Belle Époque nun wiederentdeckt. Mit der Sonderausstellung „Ilna Ewers-Wunderwald. Expedition Jugendstil“ präsentiert das Horst-Jannsen-Museum die umfänglichste Schau ihrer Arbeiten aus rund fünfzig Schaffensjahren.
Der Drache als das wohl bekanntesten Fabelwesen wird in der Mythologie zumeist als ein schlangenartiges Mischwesen angesehen, das Merkmale von Reptilien, Greifvögeln und Raubtieren in unterschiedlicher Gestalt in sich vereint. Eine deutliche Abgrenzung der Drachen zu anderen mythischen Fabelwesen ist dabei nicht immer erkennbar. Schlangenmythen weisen häufig Gemeinsamkeiten mit Drachenerzählungen auf. Zuweilen zeigt sich der Drache auch als eine groteske, phantastisch übertriebene Vergrößerung einer Schlange. Ähnliches, die enge Verbindung der die Luft beherrschenden, Furcht und Angst einflößenden Feuerschlange mit dem irdischen, in Höhlen lebenden Drachen, kann in der slawischen Mythologie wie auch in den Kulturen der baltischen Völker festgestellt werden. Zahlreichen Überlieferungen, Sagen und Legenden zufolge fordert der Drache häufig Menschenopfer, zumeist in Gestalt ansehnlicher Jungfrauen und Königstöchter. Dem Sieger im Kampf gegen den Drachen werden dann häufig die Königstochter und ein Königreich noch dazu versprochen.[1]
“Die Schokolade besitzt den großen Vorzug, daß sie das Angenehme mit dem Bekömmlichen verbindet. Von welchem Genußmittel kann man das wohl behaupten? Und darum allein schon, weil sie eine Sonderstellung einnimmt, erscheint es angebracht, sich mit ihrem Wesen, ihren Eigentümlichkeiten und ihrer Wirkung auf die Menschen zu beschäftigen. Die Schokolade ist ein Produkt der Kultur und ihre Geschichte ein Bestandteil der Kulturgeschichte.” (Tornius, S. 9)
Es ist nicht ganz einfach, gegen das Glas anzufotografieren, das die ihm anvertrauten Schätze vor Berührungen schützt. Im Zusammenspiel mit seinem Verbündeten Licht hat es die Kamera oft schwer, den richtigen Blickwinkel zu finden und die Bilder jenseits der Barriere einzufangen, Bilder, die es auf diese Weise künftig wohl nicht mehr im Grassi Museum für Völkerkunde Leipzig geben wird. Zumindest in der bisher präsentierten Weise, denn das Museum befindet sich in der Umgestaltung, und wie es immer so ist mit dem, was man kennt und was einem vertraut ist, schwingt auf dem Rundgang, den ich dankenswerterweise noch einmal antreten darf, auch eine Portion Wehmut mit. Es ist, als würde sich auf der Reise von Raum zu Raum nicht nur die gefühlte Tageszeit ändern, sondern als sei man auch der eigentlichen Welt entrückt. Auf metaphorischen Sieben-Meilen-Stiefeln geht man als Beobachter auf Zeitreise um die Welt, allerdings ohne dafür die von Jules Vernes veranschlagten 80 Tage zu brauchen. Man ist in einer Art Schwebezustand, einem Dazwischen, das doch kein Dazwischen ist, oder, wie es der Schriftsteller Clemens Meyer auf den Punkt gebracht hat: „Es gibt kein Dazwischen. Es gibt nur ein Jetzt.“ Seien Sie herzlich eingeladen zum Rundgang.
So in der Mitte des Lebens gestrandet, Bewegung im zweiten, bedrohlich sich einkürzenden Drittel, wird unsere Angst „ein wenig stille“, ist das so? Vor uns die krümligen Schaluppen des Abstiegs, die gebogenen Horizonte des brennenden Sands, der lodernden Brandung, durch die lonza, in Pantherscheckung, verschwindend greint und schimmert. Wollüstig biegt sich der Blick der Bestie gegen uns, die wir uns mit Chemikalien behelfen, nicht zu versagen. Aus der eigenen Tiefe schöpfen: Das haben wir lange verlernt, haben’s aber nicht vergessen. Einzig, wir sind die Hindernisse, die wir uns selbst stellen, im Fleisch, in den Gedanken, in der Bemessenheit unserer Zeit und daß wir sie nicht wahrhaben mögen. Ja, es ist der gemähnte Hochmut, grollend und miauend, und die borstige Habgier, die uns, die Völker (kein, wie es der zänkische Schwabe verhieß, Schweigen, kein Schlummern) ins Verderben stürzt, wieder und wieder – eine Wölfin, die uns von der Läuterung abhält grausam und kalt. Keine Sonne. Schweigen, wo ihr Strahl fehlt.
Hoch oben im Norden, dort, wo im Winter die Sonne nicht auf- und im Sommer nicht untergeht, leben die Sámi, das letzte indigene Volk Europas. Sápmi heißt ihr Siedlungsgebiet, das sich über Norwegen, Schweden, Finnland bis zur russischen Kola-Halbinsel erstreckt. Sápmis Landschaft ist von vielfältiger und scheinbar unbegrenzter Wildnis geprägt, in der sich die Natur von einer ganz atemberaubenden Seite zeigt: Raue Fjälls, sumpfige Wälder, reißende Flüsse, stürzende Wasserfälle und unzählige Seen bestimmen die nördliche Gegend, die sich in der kalten Jahreshälfte zu einer weißen Winterwelt aus Eis und Schnee verwandelt, unter der alles ruht. Am Himmel hingegen tanzen die Nordlichter, die nach sámischem Volksglauben Erscheinungen der Ahnen sind. Sápmi ist aber mehr als nur Land. Es steht für ein holistisches Selbstbild, das für Außenstehende kaum greifbar wird – oder wie der Schweizer Künstler Hans Ulrich Schwaar, der viele Jahre im finnischen Lappland gelebt hat, es formuliert: Sápmi „lässt sich nicht übersetzen. Deshalb weiß nur ein Same, was das Wort im Grunde bedeutet. Es umfasst alles, was dem Samen lieb ist: sein Land, sein Volk, seine Kultur. Alles, was den Samen von anderen Menschen unterscheidet, ist Sápmi: seine Sprache, seine Denk- und Lebensart, seine Tradition“ (Schwaar 1996, 9).
„Kommt raus, kommt raus, wo immer ihr seid, ihr Träumer und Tagediebe, ihr Faulpelze und Verlierer, ihr Schattensuchenden und Sonnenwaisen. Kommt raus, kommt raus, ihr Nieten und Nullen, ihr Taugenichtse und Habenichtse, ihr vom Tag Ausgestoßenen, Liebkinder der Nacht. Kommet, ihr alle, die ihr scheußlich seid und kummervoll, ihr alle, die ihr schwarze Gedanken hegt und rote Fieberträume, kommt schon, ihr Kleinstadt-Ismaels mit euren traurigen blauen Augen, ihr Mauerblümchen und Pechvögel, kommt, ihr Nörgler und Ächzer, ihr Außenseiter und Sonderlinge, ihr Eigenbrötler und Wunderlinge, kommt nur, kommt nur, ihr bleichen Romantiker und nutzlosen Trunkenbolde, ihr Wart-noch-nie und Werdet-nie sein, ihr von der Sonne Verspotteten, vom Tag Verdammten, ihr Wesen der Dunkelheit: Kommt heraus in die Nacht.“
China und Japan – die Geschichte einer langen Hass-Liebe-Beziehung. Der Hamburger Sinologe Kai Vogelsang hat sich dieser Beziehung gründlich angenommen, in einer Studie von mehr als 500 Seiten. Spielt diese Beziehung für uns in Europa eine Rolle? Ich denke ja. Zum einen ist sie sinnbildlich für alle Beziehungen zu sehen, in denen Machverhältnisse in einem ständigen Wechsel sind – man denke an China/Russland/USA, an Europa und Großbritannien. Auch eine Parallele zu Griechenland und Rom drängt sich auf. Zudem gibt sie uns Auskunft über die Rolle von Kultur und Gewalt in der Geschichte, über die Aneignung und Assimilation von Kulturgütern einer Kultur durch eine andere – und oft auch die Rückaneignung solcher Güter, nachdem sie durch fremde Hände verwandelt worden sind, mal zu ihrem Vorteil, mal zu ihrem Schaden. Das dürfte für die heutige Diskussion um die Rückgabe von kolonialem Raubgut und kultureller Aneignung nicht unwichtig sein. Und drittens handelt es sich um stärkste Industrieländer, deren Beziehung auf unsere globale Ökonomie einen enormen Einfluss hat.
In Troy wächst Stephen Frys Neuerzählung der griechischen Mythologie um einen weiteren Band zur Trilogie an und zaubert die Leserschaft aufs Neue in die Welt von Helden und Göttern. Vorkenntnisse von Mythosoder Heroes, den Vorgängerbänden, werden jedoch nicht benötigt, Troy lässt sich komplett eigenständig lesen und verstehen. Dabei muss sich der Leser in seiner Wahl jedoch zunächst auf die englische Ausgabe beschränken; wer auf die deutsche Übersetzung warten möchte, benötigt noch etwas Geduld.
Der Schriftsteller Zygmunt Krasiński wird zuweilen auch „polnischer Dante“ genannt, es wäre allerdings falsch, die Wirkung Dantes in Polen allein auf einen Vertreter der polnischen Literatur zu beschränken, denn nicht nur bei Krasiński geht es um mehr als nur um einen fruchtbaren „Kulturtransfer im europäischen Kontext“ (Meier) oder einen bloßen „Dialog mit Dante“ (Freise). Vielmehr können wir im Falle Dantes von einer aufschlussreichen Verflechtungsgeschichte (histoire croisée) und literarisch miteinander „verflochtenen Geschichten“ (Ulbricht) bzw. „gekreuzten Geschichten“ (Olcese) sprechen.
Die Geburt der Religion aus dem Geiste der Geometrie. Edwin Abbott Abbott: Flatland (1884)
Zu berichten ist von einer imaginären Welt, in der wir uns allezeit befinden und ohne die wir gar nicht wären. Die Rede ist von der Geometrie, jene im Räumlichen sich manifestierende Zahlenwelt. Sie ist also gar nicht imaginär, sondern höchst real. Und doch kann das Reale imaginäre Gestalt annehmen, wenn wir es beleben. Ein Schrank, in dem sich eine andere Welt öffnet, wie in den Narnia-Büchern von C.S. Lewis, eine Pfütze, ein Zauberhut wie bei den Mumins … Das Innenleben von Streichholzschachteln oder Zahnbürsten … Überall sind wir umgeben von Welten, die, wenn wir sie näher betrachten, auf seltsame Weise belebt sind und dadurch ins Imaginäre abzurutschen scheinen. Wo die Sinne aufhören, beginnt das Imaginäre.
Herzog Ernst – Ein Abenteuerbuch aus dem Mittelalter
Es ist schon so eine Sache mit dem Abenteuer: Ferne Länder locken mit exotischen Reizen unbekannter und ungeahnter Natur. Klar, dass da so manch einer Fernweh bekommt und am liebsten sofort mit gepackten Taschen losziehen möchte. Doch was passiert, wenn man gezwungen wird, seine Heimat zu verlassen und sich dem Unbekannten stellen muss?
„Über seinen Verbleib gibt es nur Mutmaßungen. Wird er jemals wiederkehren? Vielleicht hat er sich in die Vergangenheit zurückgeschwungen und ist unter die blutrünstigen Wilden der frühen Steinzeit geraten, in die Tiefen des Kreidemeeres oder unter die grotesken Saurier, diese Reptilienungeheuer der Jurazeit. […] Oder er ist in die Zukunft gereist, in eines der nächsten Jahrhunderte, in dem die Menschen noch Menschen sind, die Antwort auf die Rätsel unseres Zeitalters aber bereits gefunden und ihre schwerwiegenden Probleme schon gelöst haben? Eventuell sogar in das Mannesalter des Menschengeschlechtes? Denn ich, für meinen Teil, kann mir nicht vorstellen, daß unsere Zeit, diese Zeit unsicheren Experimentierens, fragmentarischer Theorien und allgemeiner Zwietracht, tatsächlich der Höhepunkt menschlicher Entwicklung sein soll!“ (Die Zeitmaschine, dtv: 2015)
die Leipziger Buchmesse bestreitet in diesem Jahr format- und veranstaltungstechnisch neue Wege und auch wir lesen in 2021 „extra“ bzw. reisen extra. Die Imaginären Welten der Literatur sind unser Ziel, Welten, die so vielfältig und spannend sind, dass uns die Auswahl wahrlich schwergefallen ist. Ob Kaninchenbau, Zeitreisen oder kuriose ritterliche Abenteuer: Nah-ferne Welten haben von jeher die Fantasie angeregt, und manchmal lassen sie sich ganz praktisch auf dem heimischen Sofa entdecken.
In diesem Sinne wünschen wir eine sichere Reise und viel Freude beim Lesen!
Ob es nun Germanische oder Nordische (bisweilen auch: nordgermanische) Mythologie heißen müsse, ist ein Streitpunkt, der nicht einfach zu entscheiden ist. Die Frage hört sich zunächst zwar einfach an, sie enthält jedoch einige komplexe Implikationen, bei denen auch historische und ideologische Aspekte eine Rolle spielen. Überdies stoßen hierbei unterschiedliche Wissenschaftstraditionen aufeinander. So ist die Bezeichnung Germanische Mythologie im deutschsprachigen Raum bis heute am weitesten geläufig. Hingegen wird im angelsächsischen Raum in der Regel von (Old) Norse Mythology, bisweilen auch von Nordic Mythology gesprochen, die Mythologie also als nordisch verortet.
Hätte das Schicksal Friedrich von Hardenberg beim Wort genommen, vielleicht wäre aus ihm in den engen Kreisen von Amtsstube, Ehebett und Kinderzimmer ein begabter Poet geworden, aber nie der Dichter Novalis. Das gespenstische Schicksal, das es ganz anders wollte, die Tuberkulose, machte Küsse, die Zeichen verwandtschaftlicher und erotischer Liebe, zum Verhängnis: Sie übertragen die Keime am leichtesten. Die Verlobten trugen die Krankheit aber wohl beide schon in sich, als sie ihren ersten Kuss tauschten. Hardenbergs Geschwister, die Schwestern Caroline, Sidonie, Auguste und die jüngeren Brüder Carl, Erasmus und Bernhard sind alle früh gestorben. Nur die Eltern überlebten diese Kinder, nur Anton überschritt die Vierzig. Meist war die „Schwindsucht“ neben den Blattern, die Vater Hardenberg die erste Frau genommen hatten, eine Familienseuche.
Friedrich von Hardenberg war ein zwanzigjähriger liebeshungriger Student, als der greise Giacomo Casanova auf Schloss Dux seine Memoiren schrieb. Novalis nannte er sich erst in dem Jahr, in dem der legendäre Liebhaber starb. Der Dichter Novalis war zwar noch jung, aber kaum noch von dieser Welt, als er ein großer Liebhaber wurde. Sein Werk eröffnet eine Kunstrichtung, die bald den Namen Romantik auf sich zieht und in Abwandlungen fast ein Jahrhundert lang in der Literatur, der Malerei und der Musik weiterwirkt. Novalis galt Hermann Hesse und anderen als der eigentliche Romantiker. Seine „blaue Blume“ ist ein Treibhausgewächs der Kunst und wurde zu einem vielzitierten, wenig verstandenen, oberflächlich bis schwärmerisch missdeuteten Symbol.
Am 12. Mai dieses Jahres würde er seinen 100. Geburtstag feiern: Joseph Heinrich Beuys, einer der berühmtesten und zugleich umstrittensten deutschen Künstler der Nachkriegszeit. Er war Bildhauer, Zeichner, Kunsttheroretiker, Professor der Düsseldorfer Kunstakademie. Ein Visionär, Nonkonformist, grandioser Selbstdarsteller, Gesellschaftskritiker, Schamane, Aktivist für Ökologie und Demokratie und als solcher Mitbegründer der Partei Die Grünen, kurzum, ein kreatives Enfant terrible in Reinform, ein Schaffender, der die Kunstwelt prägte und noch immer prägt wie kaum ein Zweiter. Weltweit wird er als einer der bedeutendsten Aktionskünstler des 20. Jahrhunderts angesehen.
Auf dem Umschlag sieht man Stangen mit wehenden Büscheln aus Pferdehaar. Auch Dschingis Khan trug einen solchen Büschel am Speer. Die Mongolen glaubten, dass ihre Seele nach dem Tode dahinein gehen würde. Im vorliegenden Buch steht ein Nachbarvolk im Fokus, die Tuwa, deren Republik sich im Süden Sibiriens befindet und Teil der Russischen Föderation ist und im Nordwesten der Mongolei liegt.
er nahm sich an der Göttersitze allesamt. Allumfassende Weisheit besaß er in jeglichen Dingen. Er sah das Geheime und deckte auf das Verhüllte (Gilgamesch-Epos)
Wohin sich Jenseitsreisende auch immer begeben – sei es Hades, Hölle oder Paradies – und auf welchen Wegen sie dahin gelangen, sie verlassen in jedem Fall die Lebenswelt der Menschen, um „das Geheime zu sehen und das Verhüllte aufzudecken“. Jenseitsreisende überschreiten den Fluss, überqueren das Gebirge, erheben sich in die Lüfte so leicht wie ein Hauch und erreichen die höchsten aller Himmel. Sie steigen hinunter in düstere Unterwelten, wagen sich in Schlünde und Grüfte, tauchen zum Meeresgrund, gelangen in die tiefste aller Tiefen und – was normalerweise den Sterblichen verwehrt bleibt – sie kehren wieder zurück, um uns Lebenden Bericht zu erstatten.
In der nordischen Mythologie gibt es im Bereich der Entstehung und dem Vergehen der Welt einige Motive, die sich durch die Brille der modernen Kosmologie wunderbar interpretieren lassen und von denen ihrer drei in diesem Beitrag dargestellt werden sollen. Das heißt jetzt keineswegs, dass heutige wissenschaftliche Erkenntnisse in den Mythen vorweggenommen wären oder dass die Altvorderen hier tiefere oder prophetische Einblicke in die Natur gehabt hätten, bevor neuartige Beobachtungsmöglichkeiten eine Empirie in dem Sektor überhaupt erst möglich gemacht haben. Wir lesen im Folgenden nichts aus den Mythen heraus, sondern hinein. Das ist aber gerade in der Interpretation von Mythen nichts Ehrenrühriges, sondern im Gegenteil etwas, was den zeitlosen Charakter eines Mythos unterstreicht, kann man doch durch die Applikation heutiger Erkenntnisse an die jahrhundertealte Bilderwelt eben diese Bilder unbeschadet in die heutige Zeit transferieren und so an die Bilder geknüpfte Lehren, gesellschaftlicher oder spiritueller Natur, in die Neuzeit tragen, gar nutzbar machen. Man darf dabei nur nicht vergessen, dass diese Interpretation keinesfalls mit der Vorstellungswelt derjenigen übereinstimmt, die mit diesen Bildern Geschichten erzählt oder sie verschriftlicht hatten, sondern nur unseren eigenen Blickwinkel darstellen. Ein erquickliches Vergnügen ist es dennoch oder auch gerade deshalb.
Schon im vergangenen Jahr während bzw. kurz nach dem ersten Lockdown entstand das schwerwiegende Problem, wie Künstler verschiedenster Art und die Veranstaltungsbranche den schmerzhaften Einschnitt in ihre Arbeit bewältigen könnten, insofern er nicht bereits fatal war. Ausfälle von Lesungen, Aufführungen, Konzerten, Schließung von Theatern, Ausstellungen und Kinos bedrohen nach wie vor die Existenzen der Kunstschaffenden und frieren das in Gesellschaft stattfindende kulturelle Leben völlig ein. Ich möchte in den folgenden Absätzen nicht auf dieses schmerzlich bekannte Problem eingehen, sondern auf eines, das damit mehr oder weniger direkt zusammenhängt, aber tendenziell in eine andere Richtung weist: Der Ausfall des Festes.
Helden. Heroes. Heroen. Als Kind und Teenager wurde ich nicht müde, mithilfe diverser (halb)göttlicher Helden der griechischen und römischen Mythologie dem zuweilen tristen Alltag zu entfliehen. Meine allererste Begegnung mit diesen coolen Typen hatte ich als Schulkind im Alter von 11 Jahren – in den Lesebüchern der fünften und sechsten Klassenstufe fanden sich mehrere phantastische Nacherzählungen griechischer Heldensagen. Ich kämpfte, bangte und litt mit Odysseus und Herakles. Im Kino unserer Kleinstadt lief mindestens einmal jährlich Desmond Davis‘ Film „Kampf der Titanen“ (1981), in dem der tapfere Perseus gegen allerlei furchteinflößendes mythisches Personal antreten muss, ehe er die liebreizende Andromeda zärtlich in seine starken Arme schließen kann.
Die dunkle Jenseitsschlange Apophis, wie sie die schwarzen Sandbänke der Zeit Nacht für Nacht gegen die Götterbarke wirft, sich hütend vor den Klingenblicken von Tefnut und Seth. Wie sie ihre Schlingen gelegt hat durch die Stunden des „Amduat“, um die Toten stolpern zu machen auf ihren Wegen in die Rechtschaffenheit des nächsten Raums, die Blüten der anderen Welt, auf die man ein Leben wartet. Ist es der Gott aus den westlichen Wüsten, der sie unter den Kiel stupst, die Götterkatze, die einst ihren Kopf gewinnt, aus dessen Verlöschen ein ruhiges und ungestörtes Paradies rührt? Man kann es nicht sagen, man weiß es erst, wenn es geschieht und man noch nicht ahnt, was dem vermodernden Fleisch des Reptils dann entspringt – aber versuchen will und muß man es auf seiner Reise durch die Nacht, in kätzischer Eleganz, das Messer der Pupillen fest in den Pranken. Es kann nicht mehr schlechter werden.
Diese Liebesgeschichte beginnt so einfach, dass mancher, der über Dante schrieb, sie als unglaubwürdig und romanhaft bezweifelte oder ganz verwarf. Warme Frühlingssonne erleuchtet die Hügel der Toskana und die Gassen und Gärten der Stadt am Arno. Florenz ist schon eine der größten europäischen Städte dieser Zeit. Noch überragen nicht die weit ausladend gewölbte Kuppel Brunelleschis und der marmorweiße Campanile Giottos die ziegelroten Dächer. Sondern die düsteren, schmucklosen Wohntürme der untereinander vielfach zerstrittenen Adelsgeschlechter werfen, wie es heute nur noch in San Gimignano zu sehen ist, ihre Schatten auf ärmlichere Quartiere. Es ist der 1. Mai des Jahres 1274. Der begüterte Kaufmann Folco Portinari gibt in seinem Garten mit Musik, Wein und Speisen ein Blütenfest. Eingeladen sind Geschäftsleute und Nachbarn, unter ihnen auch die zum niederen Adel gehörende Familie Alighieri. Ihr Sohn Dante, noch nicht ganz neun Jahre alt, erblickt zwischen den spielenden Kindern Bice, die Tochter des Hauses. Das rote Kleid leuchtet im frischen Grün des sprießenden Laubes. Sie steht, bezeugt der Dichter später, „im Beginn ihres neunten Lebensjahres“.
Am Karfreitag des Jahres 1300 verirrt sich ein Wanderer in einem furchteinflößend finsteren und dichten Wald, weil er von seinem Weg abgekommen ist. Als er den Waldrand erreicht hat, erblickt er eine Anhöhe, über der gerade die Sonne aufgeht. Er kann sie aber nicht erreichen: Drei wilde Tiere nähern sich ihm bedrohlich, eine Pantherkatze, ein Löwe und eine Wölfin. Der Wanderer weicht erschrocken zurück …
Karl May hat durch seine Romane bei uns die Vorstellung geprägt, alle nordamerikanischen Indianer glaubten an eine zentrale Gottheit namens Manitu. Tatsächlich jedoch kennen die Mescalero-Apachen, der Stamm von Mays fiktivem Häuptling Winnetou, keinen Gott dieses Namens. In einem „ZEIT“-Interview antwortet der Medizinmann Kaydahzinne auf die Frage: „Manitu? ‚Nie gehört. […] Unser Schöpfer heißt Bik’egu’in Dán’“ (Sußebach 2012).
Vom Ursprung der Musik im Mythos. Eine Quellensuche auf der Schwäbischen Alb
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Wer auf der Spur der schönen Lau (Mörike, 2017 – erstmals 1853 erschienen als Binnenerzählung im Kunstmärchen Das Stuttgarter Hutzelmännlein) nach Blaubeuren reist, um vor der alten Hammerschmiede in den Abgrund des Blautopfes zu schauen, bewegt sich auf Meeresgrund. Vor 150 Millionen Jahren entstanden die hier typischerweise anzutreffenden Kalkfelsen aus Ablagerungen auf dem Grund eines tropischen Meeres; Korallenriffe sowie kalkhaltige Skelett- und Gehäusereste der dort beheimateten Tierwelt transformierten über die Zeiten zu porösen, knöchern-weißen Felslandschaften (Vgl. Conard, 2015 S. 11 ff.) – eine wahrhaft mythisch aufgeladene Natur, in der Gebirge und Gesteinsformationen im wörtlichen Sinn einmal lebendig waren.
Die „Femme fatale“ ist die „verhängnisvolle Frau“, jener schillernde Frauentypus, der die Polarität von Lust und Leid zu vereinen vermag. Sie besticht durch ihre magisch-sinnliche Anziehungskraft, die einem jeden den Verstand rauben kann. Bei ihr wird man zum willenlosen Objekt, denn was oder wen sie begehrt, macht sie sich auch zu Eigen. Die Femme fatale jedoch bloß als „Sexsymbol“, „Machtweib“ oder skrupellose Nymphomanin zu sehen, wäre zu kurz gedacht. Es handelt sich bei diesem schaurig-schönen Typus vielmehr um eine stilisierte Verkörperung weiblicher Willensstärke, Selbstbestimmtheit und auch Überlegenheit. Sie ist die Wilde, die sich nicht bändigen lässt und die mit konventionellen Rollenmustern bricht. Ihr Auftritt als „sexy Vamp“ ist dabei ihre Maskerade, ihr Werkzeug, das Mittel zum Zweck. Eine abschließende Definition der Femme fatale lässt sich aber kaum geben, zu vielschichtig und variantenreich tritt sie in Erscheinung. Kurzum: Man kennt sie unter „vielen Namen“ und aus „unzähligen Geschichten“ (Hilmes: Die Femme fatale, S. 100) – und so trifft man auch in den Mythen der alten europäischen Kulturen auf die Verhängnisvolle.
Der Florentiner Dante Alighieri ist 1321 – also vor 700 Jahren – in Ravenna gestorben, und aus diesem Anlass werden viele kluge Menschen viele kluge Dinge über den verehrten Schöpfer der Göttlichen Komödie schreiben. Wer sich auf den Dichter Dante einlässt, kann erfahren, dass er gefordert hat, jeden Text müsse man in vierfachem Sinn auslegen können – einmal im buchstäblichen Sinn, dann im allegorischen Sinn, weiter im moralischen Sinn und schließlich im anagogischen Sinn, wobei anagogisch eine Anleitung zum Aufstieg meint, und zwar „zum Aufstieg in die Sphäre der Glaubenswahrheit“, wie es bei Ernst Robert Curtius in dem Buch zu lesen ist, in dem er 1932 „Elemente der Bildung“ beschrieben hat. Als jemand, der vor allem über Fortschritte und Einsichten der Naturwissenschaften schreibt, möchte ich einmal in knapper Form nachprüfen, ob Dantes vierfache Forderung an Geschriebenes etwa in Sachbüchern erfüllt werden kann.
Hausgeister und Fabelwesen der deutschen Mythologie stehen beim Projekt Forgotten Creatures im Vordergrund. Jahrhundertelang waren Menschen der Ansicht, dass sie nicht allein auf Erden lebten. Wälder und Gebirge, aber auch die Felder und den eigenen Hof dachten sie sich von zahlreichen Fabelwesen, Natur- und Hausgeister bevölkert. Diese versuchten die Menschen entweder zu vertreiben oder als Verbündete zu gewinnen.
Mythen wollen uns nicht nur unterhalten, sondern auch erklären. Sie beruhen auf den kollektiven Erfahrungen der Menschen und sind ein Ausdruck unseres Bedürfnisses, zu verstehen, nach welchen Gesetzen und Regeln die Welt um uns herum strukturiert ist. Schöpfungsmythen und Göttersagen geben uns Menschen eine Erklärung für die Existenz allen Seins und sind ein Versuch, die Lücken im menschlichen Erfahrungshorizont mit Sinnhaftigkeit zu füllen. Es verwundert daher in keiner Weise, dass jede uns heutzutage bekannte Kultur ihre eigenen Schöpfungsmythen und Götterwelten hervorgebracht hat.
„(…) heilige Bräuche, die keiner verraten, verletzen, erforschen
darf: denn heilige Scheu vor den Göttern bindet die Stimme.
Selig, wer von den irdischen Menschen je sie gesehen!
Wer aber unteilhaftig der Weihen, der findet ein andres
Schicksal, wenn er weilt im dumpfigen Dunkel.“
Mit diesen Worten wendete sich die berühmte, angeblich von Homer verfasste Demeter-Hymne an diejenigen, die sich in die berühmtesten Mysterien der Antike einweihen lassen wollten oder schon eingeweiht waren: die Teilnehmer der Mysterien von Eleusis.
Diese Woche, am 9. Februar, wäre der Privatgelehrte und Lyriker Gisbert Kranz 100 Jahre alt geworden. Der gebürtige Essener Gisbert Kranz (1921-2009) war ein kämpferischer Katholik und fromm bis in die Zehenspitzen. Aber er hatte auch etwas Ketzerisches. Die Kirche konnte er kritisieren, weil er fest im Glauben stand, gleichzeitig zeigte er sich offen für häretische und phantastische Visionen. Er war ein Kritiker des Kapitalismus wie auch des Kommunismus und glaubte an die katholische Soziallehre.
Je größer ein Gegenstand ist, desto subjektiver die Zugänge zu ihm. Der Gegenstand hört bei einer bestimmten Größe geradezu auf, Gegenstand, das heißt überschaubar, beschreibbar, berechenbar zu sein. Er wächst über das Vermögen des einzeln Wahrnehmenden hinaus, wie der Berg Mont Sainte Victoire bei Cézanne, der ihn immer wieder neu malen musste. Solche großen „Gegenstände“ sind Meere und Gebirge. Auch die mikrobiologischen Vorgänge gehören dazu, die sich in ihre andere Unendlichkeit verlieren: Das Kleine ist nur der Zipfel eines großen Unsichtbaren. Groß ist die Erde selbst, sodass wir nur durch den Blick aus dem Weltall sehen, wie rund sie ist. Ähnlich die Werke Shakespeares, die Bibel, Leonardo da Vinci. Wie Planeten schwingen sie um unser Bewusstsein und mehr noch um unser Unbewusstes. Auch Dantes Werk ist ein solcher Planet, möglicherweise noch der am wenigsten bekannte. In unseren Breiten ein fast unsichtbarer, der nur von Zeit zu Zeit, je nach Maßgabe des sich feiernden Dezimalsystems, das uns Jubiläen beschert, auftaucht. Einige Astronomen richten kurzzeitig ihre Fernrohre auf den Himmelskörper, echauffieren sich und diskutieren, während er schon längst wieder am Horizont verschwunden ist.
Hören oder lesen wir von den Gottheiten des ägyptischen Pantheons, ist zumeist von Re, dem Sonnengott, Isis, der Göttin der Magie sowie der Geburt und Wiedergeburt, ihrem Gemahl, dem Totengott Osiris, oder aber dem Himmels- und Königsgott Horus und dessen Gegenspieler Seth, dem Gott der Wüsten und des Chaos, die Rede. Bes („der Schützer“, vermutlich von „besa“ > beschützen) dagegen ist vor allem den Ägyptologen ein Begriff. Dabei kann es seine Popularität in der ägyptischen Religion durchaus mit der der „Großen Götter“ aufnehmen. Seine Präsenz ist seit dem Mittleren Reich (ca. 2000 v. Chr.) durch verschiedene archäologische Funde belegt. Bes ist Dämon, Zwerg, Gottheit, Fabelwesen, Magier, Tänzer, Symbol, Maske, mythischer Besänftiger – einer der beliebtesten und weitverbreitetsten ägyptischen Götter (Wilkinson, S. 102), über dessen Anfänge wir nur wenig wissen. Das Museum August Kestner (MAK) in Hannover hat ihm gegenwärtig unter dem Titel „Guter Dämon Bes – Schutzgott der Ägypter“ eine Sonder- und Wanderausstellung gewidmet, welche in Kooperation mit dem Allard Pierson Museum in Amsterdam und der Ny Carlsberg Glyptotek Kopenhagen entstanden ist. Sammlungsstücke aus ganz Europa (u. a. auch aus dem Ägyptischen Museum Georg Steindorff der Universität Leipzig) sind hier – hoffentlich recht bald wieder – für das Publikum zugänglich.
Marija Gimbutas (1921 – 1994) war eine bedeutende Archäologin, Prähistorikerin und Anthropologin. Nach ihrem Studium in Kaunas, Vilnius und Tübingen promovierte sie über „Die Bestattung in Litauen in der vorgeschichtlichen Zeit“. Ihr wissenschaftlicher Hintergrund war interdisziplinär und umschloss zahlreiche Fachgebiete, u. a. Linguistik, Ethnologie und Religionsgeschichte. 1950 wurde sie aufgrund ihrer umfangreichen Kenntnisse europäischer Sprachen an die Harvard-University berufen und wirkte dort 13 Jahre als Dozentin für Archäologie. 1963 wurde sie Professorin für Archäologie an der University of California, Los Angeles, und lehrte dort bis zu ihrem Ruhestand 1989.
Eines Nachts im Jahre 1971 lag ein junger Brite betrunken in einem Feld bei Innsbruck und schaute in die Sterne. Bei sich trug der als Anhalter Reisende The Hitchhiker’s Guide to Europe. In diesem Moment kam ihm ein Gedanke, der die Welt verändern sollte: Er sagte sich, dass es eigentlich auch einen Hitchhiker’s Guide to the Universe geben müsste. Die Folge dieser beschwipsten Vision ist, dass es Jahrzehnte später eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die sich an einem bestimmten Tag des Jahres mit einem Handtuch in der Öffentlichkeit zeigen. Der besagte Tag ist der 25. Mai, der sogenannte „Towel Day“, an dem man auch Schilder mit der Aufschrift „Don’t Panic“ sieht. Auch T-Shirts mit der Aufschrift „21 is only half the truth“ können gesichtet werden. Die Zahl deutet auf eine andere Zahl, die Suchmaschinen auswerfen, wenn man die Phrase „the answer to life, the universe and everything“ eingibt. Es ist die mysteriöse 42, die durch Douglas Adams eine unerhörte Karriere angetreten hat. Wer von all dem nichts weiß, wird an geistige Zerrüttung denken, doch Kenner genießen diese Hinweise auf Gruppengeist und Schwarmintelligenz. Eingeweihte dürften folgende Eigenschaften mitbringen: Humor, den Sinn für Parodie und Paradox und Freude am Spiel. Wahrscheinlich ist er oder sie auch mit einer freundlichen Natur gesegnet, so wie der leider früh verstorbene Douglas Adams.
Der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe (1809-1849) gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Er wirkte als Lyriker, Erzähler und Literaturkritiker; vor allem in Europa ist er nicht zuletzt vor allem als Meister der Short Story bekannt geworden. In seinen zahlreichen Erzählungen kreierte er eine Szenerie des Übersinnlichen und Schauderhaft-Makabren, indem er in psychologisch meisterhafter Weise tiefsitzende Ängste und Abgründe der menschlichen Natur thematisierte.
Teufelsgeschichten gibt es seit wenigstens tausend Jahren. Dabei sind Gestalten und Gesichter des Teufels sehr unterschiedlich, ist er doch ein geschickter Meister der Maskerade. So erscheint er als böser Drache oder Dämon, als grotesker Kobold oder in Gestalt eines Schmeichlers und Verführers. Zu den teuflischen Verführungen gehören nicht nur die Fleischeslust, sondern Vergnügungen jeglicher Art wie das Tanzen, Lachen und alle verwerflichen Erscheinungen der Mode. Der Teufel ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil unterschiedlicher Lebenswelten geworden; als Gestalt und Motiv ist er untrennbar mit großen Erzählungen der Weltliteratur verbunden.
„Nach alldem wird man unschwer einräumen, dass nichts unsere Mitbürger die Vorkommnisse erwarten lassen konnte, die sich im Frühling jenes Jahres zutrugen und die, wie wir später begriffen, gleichsam die ersten Anzeichen der Serie von schlimmen Ereignissen waren, über die hier berichtet werden soll. Diese Tatsachen werden manchen ganz normal erscheinen und anderen wiederum unwahrscheinlich. Aber schließlich kann ein Berichterstatter diese Widersprüche nicht berücksichtigen. Er hat nur die Aufgabe zu sagen: „Das ist geschehen“, wenn er weiß, dass dies tatsächlich geschehen ist, dass dies das Leben eines ganzen Volkes betroffen hat und es also Tausende von Zeugen gibt, die in ihrem Herzen die Wahrheit dessen, was er sagt, bewerten werden.“ (Albert Camus, Die Pest, 1947)
Vor wenigen Tagen wurde Kroatien von einem Erdbeben mittlerer Stärke erschüttert. Die Ausläufer dieser Plattenbewegungen waren noch in den anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens zu spüren. Auch in den Höhlen von Pazin geriet das weit verzweigte unterirdische Wassersystem in Unordnung, spülte Unmengen von Artefakten an, Helme, Puppen, Knochen, Flaschen, blaue Plastikteile, die von Antipersonenminen aus den Kriegen der Neunziger Jahre stammten, alte aufgeweichte Soldbücher, Gasmasken sogar aus den ersten beiden großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Karsthöhle von Pazin, die am Rande einer gewaltigen Schlucht liegt, wurde zwar immer wieder erforscht, Taucher drangen weit vor oder verschwanden, aber es ist nicht genau geklärt, bis wohin sich diese Seen, die teilweise über- beziehungsweise untereinander liegen, und die sie verbindenden Höhlensysteme erstrecken.
alle Jahre wieder … lassen wir uns nicht nur vom Weihnachtsmann beschenken und genießen besinnliche Stunden im Familienkreis (wenn auch 2020 in etwas veränderter Form). Weihnachten, das bedeutet nicht nur Tannenbäume, Kerzen, Plätzchen, Glockenklang und Musik. Weihnachten ist auch die Zeit der kultigen Filme. Aus diesem Grund hat der MYTHO-Blog in seinem diesjährigen Feiertagsspecial ein paar cineastische Empfehlungen für die abendliche Unterhaltung zusammengestellt. Das Team vom MYTHO-Blog wünscht viel Freude beim Lesen, Fernsehen, Streamen und natürlich ein frohes Weihnachtsfest.
Für einen Vergessenen ist er erstaunlich präsent in unserer Gegenwart: Janus (korrekt wäre eigentlich Ianus), der römische Gott mit den zwei Gesichtern, deren eines nach hinten sieht. Der Januar, der erste Monat des Jahres, ist nach ihm benannt – er stand in seinem Zeichen, wie auch der erste Tag eines jeden folgenden Monats. Es denkt bloß kaum noch jemand bei dem Wort „Januar“ an ihn. Auch, dass die Sitte, am Neujahrstag einander Glück zu wünschen, sich bruchlos vom alten Rom herschreibt, ist wohl nur noch wenigen bewusst, ebenso wie die römisch-lateinische Herkunft unserer Monatsnamen. Allenfalls Ausdrücke wie Januskopf bzw. Janusgesicht und die entsprechenden Adjektive sind noch gebräuchlich, um die Zwiespältigkeit einer Sache oder eines Menschen bildhaft auszudrücken.
Es sind nicht mehr als einhundert Kilometer von Vilnius nach Kaunas, aber mein Zug braucht mehrere Stunden für die Strecke, bummelt durch die flache Landschaft zwischen Wäldern, Wiesen, Seen und Sümpfen dahin. Wenn ich mich zurücklehne und die Augen schließe, sehe ich die baltische Landschaft trotzdem, sie ist ein Bernstein zwischen Meereskieseln, stumpf an der Oberfläche, schimmernd im Inneren, fest und weich zugleich. Eingeschlossen im erstarrten Harz wie Insekten liegen behütet die Städte zwischen Meer und Kiefern, zwischen Sümpfen und Sand. Eine ruhige, friedliche Landschaft, schwer vorstellbar, dass sich hier die Heimat des Bösen befinden soll.
Es sind düstere Wesen, die während der kalten Winternacht von Haus zu Haus ziehen. Gebrüll und das laute Scheppern ihrer großen Glocken künden von ihrem Kommen und lassen dem Jüngsten der Familie einen Schreck in die Glieder fahren. Denn er weiß, dass dieser Lärm von den Buttnmandl kündet, den treuen Begleitern des hl. Nikolaus. Sie kommen, um jene zu strafen, die sich das Jahr über schlecht benommen, die Mutter und Vater nicht gehorcht und zu viel Schabernack getrieben haben. Er weiß aber auch, dass der Nikolaus sein Gefolge im Zaum halten wird, wenn er Besserung gelobt und sich daran hält. Und dass er ihm vielleicht sogar ein kleines Geschenk mitgebracht hat, wenn er brav gewesen ist.
„Kurz gesagt: Ich will die hohe Bedeutung eines sich szientistischer und technizistischer Metaphern bedienenden neuen religiösen Denkstils für die Moderne aufweisen. […]. Es wird sich herausstellen, dass sich in naturwissenschaftlichen Eliten eine Art doppelter Wirkungsgeschichte von Ideen ereignet. In einem wechselseitigen Inkognito ist der geniale Nobelpreisträger zugleich banalstem religiösem Gedankengut anhängender Neomythologe […].“ (Hauser Bd. 1, S. 23)
In meinen bisherigen Beiträgen habe ich schon öfters auf sogenannte „Neomythen“ bzw. „neomythische“ Denkweisen verwiesen, um gewisse Impulse moderner bzw. gegenwärtiger Erzählungen zu charakterisieren. Diese Begrifflichkeiten und das zugrundeliegende Konzept stammen von dem eben zitierten Gießener Theologen und Philosophen Linus Hauser, der sich mit dem Thema in seinem Großwerk intensiv auseinandergesetzt hat. Ich möchte diesen Beitrag nutzen, um darüber einen knappen Überblick zu geben. Es ist freilich nicht durchführbar, ein dreibändiges Werk mit knapp 2000 Seiten auf vier Standardseiten zu ca. 400 Wörtern erschöpfend vorzustellen, gerade hinsichtlich des mehr als 200 Jahre umfassenden ideengeschichtlichen Horizonts, den Hauser eröffnet und der wesentlich in der Abarbeitung exemplarischer Persönlichkeiten besteht. Ich hoffe dennoch das Wichtigste vermitteln und den einen oder anderen Leser anregen zu können, die Hauptideen zu durchdenken oder die „Kritik der neomythischen Vernunft“ einmal zur Hand zu nehmen.
„Ich wusste, wie es sich anfühlte, allein zu sein, kannte den bohrenden Schmerz, den einem das Glück anderer versetzte, wenn man selber Kummer litt.“ Prinz Patroklos, aus dessen Perspektive das Geschehen des Romans „Das Lied des Achill“ der Autorin Madeline Miller erzählt wird, hat kein einfaches Dasein. Sein tyrannischer Vater, König eines eher unbedeutenden Reiches, macht ihm das Leben schwer, seine liebevolle, aber einfältige Mutter ist ihrem Sohn keine Hilfe. Als Patroklos, noch ein Kind, eines Tages versehentlich einen Jungen tötet, wird er vom Hof verbannt und muss nun im fernen Reich Phthia unter den Augen des Königs Peleus sein Dasein fristen, wo man ihn zum Krieger ausbildet.
Unsere Oktober-Exkursion führte das Team vom MYTHO-Blog ins Ägyptische Museum der Universität Leipzig, genauer genommen in die Sammlung des in Dessau geborenen Ägyptologen Georg Steindorff (1861-1951), der auf seinem Fachgebiet nicht nur als einer der führenden Gelehrten seiner Zeit galt, sondern in den Jahren 1923/24 auch das Amt des Universitätsrektors innehatte. Die umfangreichen Ausstellungsstücke, welche der Besucher auf drei Etagen in den ehemaligen Bankräumen des Leipziger Krochhochhauses bestaunen kann, stammen aus Ausgrabungen in und um Gizeh, Aniba (südlich von Assuan) und Qau el-Kebir (Mittelägypten). Ein Großteil der Sammlung umfasst dabei Kleinkunst des Grab- und Hausgebrauchs vom Alten Reich bis in die Ptolemäerzeit. Zunächst Teil der privaten Gelehrtensammlung, verkaufte Steindorff eine Vielzahl der Objekte 1936 an die Universität, ehe er aufgrund seiner jüdischen Herkunft dauerhaft in die USA emigrierte.
Auf der Führung durch die Sammlung hatten wir nicht nur das Gefühl in eine für uns fremd und doch erstaunlich nahbar wirkende Zeit und Kultur einzutauchen, sondern wir erfuhren auch so manch Bekanntes, aber auch Neues. Ein spannender Rundgang, den wir angesichts der aktuellen Corona-Restriktionen, gern mit unseren Leserinnen und Lesern teilen möchten.
Zeitgleich mit der Entwicklung einer wissenschaftlichen Weltsicht in der Neuzeit entstehen zahllose weltanschauliche Abzweigungen, die sich wiederum mit religiösen Sekten zusammentun oder auf privaten Visionen und Mythologien beruhende Kosmologien in die Welt setzen. Das Werk des schwedischen Geistersehers, Wissenschaftlers und Philosophen Emmanuel Swedenborg gehört sicherlich in diesen Strom ebenso wie das seines zeitweisen Anhängers William Blake (1757-1827). Romantik und Gnosis gehen bei Letzterem eine Einheit ein und bringen ein höchst merkwürdiges Werk hervor, das er bekanntlich nicht nur dichterisch und philosophisch, sondern auch in visueller Form ausgedrückt hat. In dem Maße wie er die Mystiker – vor allem Jakob Böhme – liebte, hasste er Newton und die empirischen, rational fundierten Wissenschaften, denen Francis Bacon das Programm geschrieben hatte. Politisch stand Blake quer zum Zeitgeist, legte sich mit dem Staat an und verteidigte die Französische Revolution. Von Kindheit an hatte er Visionen. Sein Vater tadelte ihn, als er behauptete, den Propheten Ezechiel getroffen zu haben. Einen Baum in Peckham Rye, im Süden Londons, sah er erfüllt von Engeln. Regelmäßig pflegte er sich mit Engeln und Geistern zu unterhalten. So zeichnete er auch den Geist eines Flohs. In seinem Kampf gegen die Unterdrückung von Sexualität erinnert er an Wilhelm Reich, denn Krieg sah er als eine direkte Folge von Verdrängung.
da unsere geplante Grusel-Wusel-Lesung für Klein und Groß im Leipziger Budde-Haus aufgrund der aktuellen Einschränkungen leider entfällt, folgt anbei die Premiere der Gespenstererzählung, die der Anglist und Schriftsteller Elmar Schenkel für Halloween 2020 geschrieben hat.
Viel Spaß beim Lesen und Gruseln wünscht Ihnen
Das Team vom MYTHO-Blog
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Tagsüber glaubte natürlich keiner an Gespenster. Die Sonne schien und alles war klar. Gespenster gab es nicht. Punkt. Aber wenn dann abends die Dunkelheit langsam in das alte Haus kroch und es zu knistern und zu knarren begann… wenn es so dunkel wurde, im Herbst, machten sich die Kinder Gedanken. Zuerst hörte es sich an, als ob ein Floh auf Zehenspitzen gehen würde. Dann ein Flüstern in der Stille, denn sie horchten nun genau hin. Oder auch merkwürdige Schritte, so dass Johannes einmal sagte: Da geht wohl ein Huhn mit Stiefeln oder was? Oder ein Geschiebe von Gegenständen. Da schiebt wohl einer Langeweile… ! Und sie lachten darüber und machten sich lustig.
Knarzen im Unterholz, das seltsame Säuseln im hohen Schilf des Teiches, eine Bewegung in der dunklen Gasse. Hat da jemand gerufen? Was war das für ein Geräusch, fast wie … Schritte. Man geht schneller, es rast einem das Herz und – plötzlich steht da jemand, rauscht ein kalter Wind durch einen hindurch und alles wird schwarz.
Jeder Landstrich hat sie, kennt sie, nennt sie sein Eigen: Spuk und Schreckgestalten. Seien sie Heimsuchung oder übernatürliche Bewohner, deren Anspruch Jahrhunderte zurück reicht. Kindern droht man mal mehr mal weniger ernst mit ihnen: “Wenn du nicht artig bist, dann …” Es handelt sich dabei um Erscheinungen, welche das Land, die Felder, aber auch die nächtlichen Straßen heimsuchen, wobei sie den Menschen schaden oder wohlgesonnen sind. Manche von Ihnen vereinen beide Rollen, und ihre Geschichten beinhalten dabei meist eine moralische Lektion.
Fans von Stephen King, Horrorfilmen und Fantasy-Romanen haben mit großer Wahrscheinlichkeit schon mal vom Windigo gehört. Doch wie viele wissen tatsächlich etwas über den Ursprung dieser ikonischen Gestalt?
Der Windigo ist ein mythologisches Wesen aus den Traditionen der Algonkin-Völker im Osten Kanadas und dem Gebiet der Großen Seen. Er ist der Geist des Winters, der von Menschen Besitz ergreift, sie in den Wahnsinn treibt und zu Kannibalen macht. Dieses Wesen ist unter verschiedenen Namen bekannt: Bei den Ojibwa heißt es wīnthikō, bei den Cree wīhtīkow und bei den Mi’kmaq gibt es ein verwandtes Wesen namens Chenoo.
Der Kontinent Australien ist bekannt für seine Vielfalt an Naturräumen: ausgedehnte Wüstengebiete, tropische Regenwälder, Flussebenen und Meeresküsten, kleine und große Gebirgszüge, Steppen und ausgedehnte Grasebenen. An die verschiedenen Lebensräume und klimatischen Gegebenheiten haben sich die rund 600 Völker der Ureinwohner Australiens im Laufe vieler Jahrtausende angepasst. Sie entwickelten eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen, Sprachen und sozialer Strukturen. Dennoch gibt es in den mythischen und religiösen Vorstellungen große gemeinsame Strukturen, die den ganzen Kontinent durchziehen. Der wohl bekannteste Begriff für die umfassenden mythischen Schöpfungsvorstellungen ist das „Dreaming“, im Deutschen bekannt als „Traumzeit“. Jonathan Neidjie, Angehöriger des Volkes der Gunjwinggu und Hüter eines Teiles des Kakadu National Parks im Norden Australiens, gab 1999 folgende Definition des Begriffes:
ein turbulentes Jahr neigt sich ganz allmählich dem Ende entgegen, und wir sind immer noch mittendrin im Reich der Fabelwesen, die sich nicht nur in unserem Bestiarium sehr heimisch fühlen, sondern auch Thema des 1. Leipziger Mythen-Tages im Heinrich-Budde-Haus sind. Vom indischen Garuda wird dort die Rede sein, vom dämonischen Wendigo und von keltischen Drachen. Wir freuen uns auf viele neue Impressionen und auf spannenden Gesprächsstoff.
Dabei stellt sich gleichzeitig die Frage, ob Fabelwesen wie der Phönix, der Drache oder der Wolpertinger gänzlich unserer Fantasie entsprungen sind oder ob es die einen oder anderen realen Vorbilder gegeben hat, die die Imagination der Menschen dermaßen beflügelt haben, dass aus diesen Tieren mehr wurde, als das bloße Auge uns glauben macht.
Auf den ersten Blick passt da vieles nicht zusammen: der ostdeutsche Autor und Arbeiter Wolfgang Hilbig und die französischen Lyriker der Dekadenz und des Symbolismus, Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud. Als ich gefragt wurde, eine Veranstaltung mit der Hilbig-Gesellschaft und unserem Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie zu dieser Verbindung zu machen, fiel mir zunächst wenig ein. Wir konnten den Hallenser Autor und Gelehrten André Schinkel zu einem Gespräch gewinnen, denn ein Vortrag sollte es nicht sein. Schinkel und Schenkel versuchten es also, und die Zuhörer schienen konzentriert bei der Sache zu sein. Zumal es unsere erste Veranstaltung unter Corona-Bedingungen war, die langsame Rückkehr zu einer alten Form mit Hilfe von Maske, Chemie und Adressenlisten. Vielleicht war das passend zum Thema, zu den Autoren. Die Schutzmaske des Heizers Wolfgang Hilbig, die Masken der Dichter, die Desinfektion des Lebendigen und die Erinnerungen, die dadurch entstehen, die Rückkehr von Natur unter Schutzhüllen und molekularen Auren, die Poesie als Liste und List, den Bedingungen des sozialen Daseins zu entkommen, um es desto besser in den Blick zu nehmen.
Es durfte nicht darüber gesprochen werden oder es ließ sich vielleicht auch gar nicht in Worte fassen … Die Rede ist von einem Phänomen, das im antiken Griechenland und im römischen Reich weit verbreitet war, von geheimen Kulten, durch deren Zeremonien die Eingeweihten ein Wissen von göttlichen Dingen erlangten, das sie heraushob aus der Anzahl der Uneingeweihten. Sie waren damit in einen Kreis von Menschen eingetreten, die eines Versprechens teilhaftig geworden waren, das sich auf etwas Bleibendes bezog und ihrem Leben fortan eine tiefere Bedeutung verlieh. Freilich waren sie verpflichtet, über das zu schweigen, was ihnen im Verlaufe der Zeremonien mitgeteilt oder gezeigt worden war. Eine Verpflichtung, die im Großen und Ganzen auch eingehalten wurde, mit dem Resultat, dass wir über die Inhalte, eben über den Kern der Mysterien, sehr wenig wissen. Wir verfügen im Wesentlichen nur über Andeutungen in der Literatur – ein gnostischer Autor teilte freilich wesentliche Einzelheiten über die Eleusinien mit – und über archäologische Befunde bei den Ausgrabungen diverser Heiligtümer.
Auf dem jüngsten Familientreffen verriet mir mein Bruder, er habe kürzlich einen Artikel über die kulturhistorische Bedeutung von Kupfer gelesen. Neugierig geworden, begann ich, bezüglich der Herkunft sowie der vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten dieses Halbedelmetalls, das wir am ehesten als Wärme- und Stromleiter oder als Material der Münzprägung kennen, selbst in der heimischen Lektüre zu blättern. Die nachfolgenden Zeilen sind die Ergebnisse einer ersten Spurensuche.
Kýprion – Cuprum – Koparr – Kupfer
Etymologisch ist Kupfer von „kýprion“ abgeleitet, herkommend von Kýpros (Κύπρος), dem altgriechischen Namen für die Insel Zypern. Im Lateinischen nennt man es volkstümlich „cuprum“ (oder cyprom) bzw. kennt es als aes Cyprium oder Aes (in der Bedeutung Erz, Kupfer oder Bronze), Althochdeutsch „koffer“, Altnordisch „koparr“. Das Mittelhochdeutsche weist Kupfer als „kupfer“ aus, während das Niederländische „koper“ Ähnlichkeiten mit dem Altenglischen „copor“, später „copper“ besitzt.
Ein Erlebnisbericht unserer Australienfachfrau Birgit Scheps-Bretschneider beim Erzählen von Grimms Märchen bei den Aborigines.
Simpson Wüste, Zentralaustralien 2001
Es ist später Nachmittag, wir sind eine lange Strecke gelaufen, haben im Wüstengebiet von pmara jutunta Buschpflaumen gesammelt und bereiten nun das Lager für den Abend und die Nacht vor.
Eine der Frauen macht Feuer, wir stellen unsere Billys, kleine verbeulte Alutöpfchen, in die Glut und kochen Tee. Wir Frauen sitzen nun zusammen und schwatzen, die Kinder suchen die Spinnifexbüschel nach kleinen Eidechsen ab und spähen nach Kaninchenlöchern. Die Jungen haben sich aus Ästen kleine Speere geschnitzt und wollen noch große Jagdbeute machen. Auch die Männer, die gemeinsam in der Wüste unterwegs waren, kommen nun zum Lagerplatz. Sie bringen zwei große Perentie-Echsen mit, die unser Abendbrot sein werden. John schneidet unten und oben am Bauch ein Loch in den Perentie und zieht dann den Darmtrakt heraus. Die Echsen können nun in die heiße Asche gelegt werden, der Rücken nach unten und der Bauch nach oben. Heiße Asche, etwas Glut und Erde obenauf – jetzt heißt es nur noch warten, bis alles gar ist.
„Als die Götter Mensch waren, trugen sie die Mühsal, schleppten sie den Tragkorb. Der Tragkorb der Götter war groß, die Mühsal schwer, übermäßig war die Drangsal. Die großen Anunnaku ließen siebenfach die Igigu die Mühsal tragen. Anu, ihr Vater, war der König; ihr Ratgeber der Held Enlil. Ihr Thronträger war Ninurta, ihr Kanalinspektor Ennugi. Sie fassten die (Los-)Flasche an ihrer ‚Wange‘, warfen das Los, woraufhin die Götter teilten: Anu stieg (sodann) zum Himmel empor, Enlil nahm sich die Erde für seine Untertanen. Die Riegel und die Schlingen des Meeres wurden dem weitsichtigen Enki hingelegt. Diejenigen des Anum stiegen zum Himmel empor, diejenigen des (Grundwassers) Apsu stiegen endgültig hinab. Es waren müßig diejenigen des Himmels, die Mühsal ließen sie tragen die Igigu. Die Götter begannen, Flüsse zu graben – die Wasserläufe der Götter, das Leben für das Land.“ (Als die Götter Mensch waren, Die altorientalische Sintfluterzählung, S. 10)
Die Ornamente auf der Tapete nimmt man oft erst zur Kenntnis, wenn man krank im Bett liegt. Meist sind wir im Bild, bewegen uns mit den Protagonisten, identifizieren uns, leiden und freuen uns mit ihnen. Sobald wir jedoch in eine Krise geraten, greift diese auf das Bild über. Wir verlassen den Inhalt des Bildes mit seinen bunten Ablenkungen und beginnen uns auf den Rahmen zu konzentrieren. Was stimmt da nicht mehr? Wie verhält sich das Bild als Ganzes zum Rest der Wand oder der Welt? Dann fragen wir uns, wie Gauguin 1897 in seinem berühmten Gemälde: „Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ Wir geben uns nicht mehr zufrieden mit dem Leben auf der Insel, wir wollen wissen, wie diese Insel eingebettet liegt in größere Archipele, Kontinente, Galaxien – mit anderen Worten, in größeren Fragen. Neben die Frage nach dem Sinn unseres kleinen Lebens tritt die Frage nach dem Sinn allen Lebens. Sich mit Science Fiction zu beschäftigen, ist nicht die schlechteste Art, dieser Frage nachzugehen; in jedem Fall hat uns diese Form der Literatur einen Kosmos eröffnet, in dem unsere Stellung höchst befragenswert geworden ist. Sind wir allein? Wenn es einen Erlöser gab, hat er für die gesamte Galaxie gewirkt? Wo stehen wir mit unserer Evolution, über die ein amerikanischer Physiologe so treffend gesagt hat: „Der Planet Erde hat 4,5 Milliarden Jahre gebraucht, um zu entdecken, dass er 4,5 Milliarden Jahre alt ist.“ (George Wald)
Der Unterwasserpanther ist eines der mächtigsten Unterweltwesen in der Mythologie nordamerikanischer Indianer, besonders der Algonkin-Völker im Gebiet der Großen Seen. In der Ojibwa-Sprache wird dieses Wesen Mishipeshu genannt, was übersetzt „Großer Luchs“ heißt. Der Unterwasserpanther ist ein Mischwesen und vereinigt in sich die Merkmale verschiedener Tiere. Er hat den Kopf einer riesigen Wildkatze, häufig eines Pumas oder Luchses, und das Geweih bzw. die Hörner von Hirsch oder Bison. Sein Körper ist mit Schuppen oder manchmal auch Federn bedeckt. Der Rücken und sein ungewöhnlich langer Schwanz sind mit dolchartigen Stacheln bewehrt.
Im Juni 2020 war unser Arbeitskreis auf Exkursion in der Sächsisch-Böhmischen Schweiz. Die Festung Königstein galt es zu besichtigen. Mehr zu Toren, illustren Festungsgästen, Brunnen und Schätzen gibt es auf dem folgenden Rundgang zu entdecken.
Erste Impressionen
Wir beginnen unsere Reise im gleichnamigen Ort „Königstein“. Dort nehmen wir einen Bus, der uns bis zur Festung bringt. Als der Bus den Hügel hinauf taumelt und eine lange Reihe frustrierter Fahrer hinter sich lässt, kann man sich nur vorstellen, wie es gewesen sein muss, zu Pferd oder in einer Kutsche zur Festung zu fahren. Der Bus setzt uns an einem Umsteigepunkt ab, wo wir dann in ein zugähnliches Fahrzeug umsteigen, das uns am Fuß der Festung absetzt. Die Anfahrt ist bequem, aber ich bin trotzdem dankbar, dass ich nicht den steilen Anstieg hinaufgehen muss, wie es andere Besucher tun.
In Teil 1 des Beitrags hatten wir kurz in antiken Mythen und alttestamentarischen Erzählungen einige Motive aufgespürt, die direkt die „Raumfahrt“ beinhalten oder leicht von der Irdisch-Horizontalen auf die Vertikale übertragen werden können. Ihr mythischer Charakter war dabei mehr oder weniger offenbar. Bei den Akteuren handelte es sich um göttliche Wesen oder heldenhafte Menschen. Sie waren entweder den Bedingungen einer kosmischen Fahrt nicht gewachsen und aufgrund ihrer Selbstüberschätzung zum Scheitern verurteilt oder durch göttliches Eingreifen gekrönt von Erfolg, wie überhaupt die geschilderten Reisen sich fast immer einer göttlichen Initiierung verdankten. Zu umreißen, auf welche Art und Weise nun moderne Erzählungen der Science Fiction ebenfalls einen (neo)mythischen Charakter tragen, ist Aufgabe der folgenden Ausführungen. Die hierbei angeführten Beispiele können freilich nicht in extenso vorgestellt werden. Insbesondere muss von einer breiten inhaltlichen Darstellung (die für den geneigten Leser eventuell von Vorteil wäre) aus Platzgründen abgesehen werden, sodass der Fokus auf die zentralen Motive gelenkt wird.
Der erste Auftritt eines Vampirs auf der literarischen Bühne ist vermutlich wenig zur Kenntnis genommen worden. Wahrscheinlich war die Zeit noch nicht reif dafür, und das Werk, in dem er figurierte, war auch nicht spektakulär: Ein 24-zeiliges Gedicht mit dem Titel Der Vampir aus der Feder des seit langem vergessenen Heinrich August Ossenfelder, das am 25. Mai 1748 in einem Journal namens Der Naturforscher gedruckt wurde. Verlagsort: Leipzig, „das Herz der deutschen Vampir-Debatte des 18. Jahrhunderts“ (Groom, S. 99).
Nein, Goethe mochte sich von einem gewissen Punkt an nicht mehr mit Vampiren befassen. Im zweiten Teil seines Faust lassen sich die „Nacht- und Grabdichter“ beim geplanten Mummenschanz am kaiserlichen Hofe entschuldigen, weil sie soeben im interessantesten Gespräch mit einem frisch erstandenen Vampir begriffen sind, woraus eine neue Dichtart sich vielleicht entwickeln könnte.
Es wird Abend in der Stadt Leipzig. Unwillig entschließt sich die Junisonne, hinter den Häusern im Westen zu versinken, aber nicht ohne ein letztes, trotziges Aufglühen, das manchem, der längst das dämmernde Dunkel erwartet, in den Augen blendet. Fast zeitgleich legen sich die langsamer werdenden Geräusche des Abends im Einklang mit sommerlicher Kühle über Straßen und Menschen. Der Sommer hat so seine eigene Art, uns zu überfallen. Er ist ein Gaukler, der uns weismacht, all unsere Gedanken zu kennen, und mehr noch; er gibt vor, sie uns aussprechen zu lassen. Und dann, wenn wir dem Trick auf dem Leim gehen – und das tun wir immer -, stellen wir fest, dass die Gedanken ins Ungreifbare entwickelt, sie uns vielleicht sogar wie wundersam abhandengekommen sind. Wir ringen nach Worten, Worte, worum sich alles dreht. Worte, die die Hitze im Zwielicht von Tag und Nacht wieder freigibt; doch es ist ein zögerliches Freilassen, als hätten wir die Wärme in flagranti ertappt, uns insgeheim eine Scherbe unserer selbst gestohlen und in die Welt geworfen zu haben.
Even in those few, rare times of later life, when I fancied myself in love, this spell would operate — a sound of rain, a certain touch of colour in the sky, the scent of a wood-fire smoke, the lovely cry of some singing wind against the walls or window—and the human appeal would fade in me, or, at least, its transitory character become pitifully revealed. (Episodes: 23)
(Selbst in diesen wenigen, seltenen Momenten im späteren Leben, wenn ich mich verliebt glaubte, würde dieser Zauber wirken – der Klang von Regen, ein gewisser Farbton am Himmel, der Geruch eines Holzfeuers, der liebliche Ruf singenden Windes an Wänden oder Fenstern – und der Reiz des Menschlichen war vergessen, oder zumindest seine Vergänglichkeit kläglich offenbar geworden.)
Seit einiger Zeit rückt die bemannte Raumfahrt wieder verstärkt in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses. Nach den sechs bemannten Mondlandungen zwischen 1969 und 1972 wurden unser Sonnensystem und das Weltall über Jahrzehnte – bis auf die routinemäßigen Besatzungswechsels auf der ISS im Orbit der Erde – nur vermittels immer besserer Satelliten, Raumsonden, inklusive Landefahrzeugen, und Weltraumteleskopen erkundet. Der technische Fortschritt hat so die Astrophysik immer weiter vorangebracht, allerdings den Menschen mit seinem physischen Leib erstaunlicherweise nicht weiter hinaus in unsere kosmische Umgebung. Diesen Umstand zu ändern, haben sich seit etwa zehn bis zwanzig Jahren staatliche Stellen verschiedener Nationen, aber auch private Investoren verschrieben. Die Ziele sind hoch gesteckt, nicht nur geht es um eine erneute bemannte Landung auf dem Mond 2024 und die eventuelle Errichtung einer Mondbasis, sondern weiter sind ähnliche Operationen sogar auf den Mars angedacht. Neben den wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Details, die hier von Bedeutung sind, wohnt solchen Vorhaben durchaus auch ein genuin mythisches Moment inne.
Ob Alf, der knuffige Besucher vom Planeten Melmac, das geifertriefende Alien mit seinen Rasiermesserzähnen, Bram Stokers blutgierender Graf Dracula oder das aus Leichenteilen gefertigte Geschöpf des Viktor Frankenstein, sieht man sich in der modernen und postmodernen Fernseh-, Film-, Werbe- und Literaturlandschaft um, kommt man um die absonderlichen Gestalten nicht herum, die uns mal Furcht einflößen, mal Mitleid in uns erwecken oder uns sogar zum Lachen bringen.
Zuerst ist es nur ein heller Streifen im Dunkel des Horizonts. Die Nacht neigt sich dem Ende zu. Während die dunklen Stunden in der Vergangenheit vor allem Schlaf und Erholung bedeuteten, schaut heut so mancher Nachtschichtler an die Uhr und denkt sich: Noch ein paar Stunden, dann ab nach hause. Dass allgemein das Leben trotzdem tagsüber stattfindet, sorgt in unserer beschleunigten, ruhelosen Zeit bei vielen für körperliches Chaos. Auch bei denen, die nicht nachts arbeiten.
„Das Dorf Röcken liegt eine halbe Stunde von Lützen dicht an der Landstraße. Wohl jeder Wanderer, der an ihm vorbei seine Straße zieht, wirft ihm einen freundlichen Blick zu. Denn es liegt gar lieblich da mit seinen [sic] umgebenden Gebüsch und Teichen. Vor allen fällt der bemooste Kirchturm in die Augen.“ So schreibt der fünfzehnjährige Friedrich Nietzsche über seinen Geburtsort und beginnt damit seine Kindheitserinnerungen. Seine erste Autobiographie ist es; die letzte wird Ecce Homo heißen, ein sprunghaftes Werk voller Erkenntnisblitze und Hochtrabereien. Gefällig also dieses Röcken, auch wenn man heute keine Wanderer sieht, sondern vielmehr eine Autobahn vorbeirauschen hört. Aber Radler gibt es, und die verschlägt es öfter in diesen unauffälligen Ort bei Lützen, wo im Dreißigjährigen Krieg eine Schlacht stattfand, bei der der schwedische König Gustav II. Adolph den Tod fand.
Mit einigen letzten Handgriffen sind die Vorbereitungen des königlichen Leichnams auf dessen Reise ins Totenreich abgeschlossen. Die Priester und Zeremonienmeister werden im Anschluss noch einmal kontrollieren, ob auch wirklich jede Stelle des Körpers mit dem Grabgewand aus Jade bedeckt ist. Insgesamt 2498 rechteckige Plättchen aus der kostbaren Jade, verbunden mit feinem Golddraht, bilden das Totenkleid, welches schon zu Lebzeiten des Herrschers passgenau angefertigt worden ist. Zuvor hat man die Körperöffnungen mit kleinen Jadepflöcken verschlossen, damit die Wirkung der Jade auch die inneren Bereiche des Körpers erreicht. Denn nur dann kann der Körper Liu Shengs (gest. 113 v. Chr.), Sohn des Kaisers Jing und älterer Bruder des amtierenden Kaisers Wu, für die Ewigkeit konserviert werden.
Von Ende Juni 1764 bis Mitte Juni 1767, gut 20 Jahre, bevor die Französische Revolution den Absolutismus – das Ancien Régime – hinwegfegte, wurden die am Südabfall des Massif Central gelegene Grafschaft Gévaudan und Teile der nördlich angrenzenden Auvergne von einem Untier heimgesucht, dessen Attacken etwa hundert Menschen zum Opfer fielen, zumeist Kinder, Jugendliche und Frauen. Als La Bête de Gévaudan, die Bestie des Gévaudan, erlangte es sehr bald schreckliche Berühmtheit über die betroffenen Regionen hinaus.
„Wunderlich ist es doch, daß viele von uns über Olimpia ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns … auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig, so wie ihr Gesicht, das ist wahr! – Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und ebenso ist ihr Tanz. Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigne Bewandtnis.“ (E.T.A Hofmann, Der Sandmann)
Sie trägt ein menschliches Antlitz. Und doch ist sie kein Mensch. Ein Irrtum, dem der Student Nathanael in E.T.A. Hofmanns Erzählung „Der Sandmann“ (erschienenen 1816) erliegt, als er sich in die als Tochter proklamierte Holzpuppe des Physikers Spalazani verliebt, die er als „himmlische Schönheit“ wahrnimmt, mit ihr tanzt, ihr vorliest, sie küsst und ihr sogar einen Heiratsantrag macht. Erst später erkennt er sie und ihre „Glasaugen“ als das, was sie ist: ein Automat, ein künstliches Wesen, so lebensecht, dass sie es schafft, Menschen zu täuschen und Gefühle in diesen wachzurufen, sei es glühende Verehrung oder den Schauder des Unheimlichen.
Der Donnervogel ist eines der wenigen mythologischen Elemente, das bei nahezu allen indianischen Völkern Nordamerikas zu finden ist. Das Fabelwesen wird mit einem gewaltigen Vogel assoziiert. Es heißt, dass die Spannweite seiner Flügel die Länge von zwei Kanus umfasst. Der Donnervogel ist so groß und stark, dass er mit Leichtigkeit einen Wal in seinen Fängen forttragen kann. Mit dem Schlag seiner Flügel löst er Stürme aus und ballt Wolken zusammen. Das Geräusch seines Flügelschlags verursacht Donner und aus seinen Augen schießen Blitze. Auf Totempfählen und anderen bildlichen Darstellungen indianischer Künstler wird er vielfarbig gezeigt, manchmal mit zwei gedrehten Hörnern auf dem Kopf und einem zahnbewehrten Schnabel.
Der Name scheint Programm: Wer denkt nicht an holiday oder holy? Vielleicht auch an holly (Holunder) und Frau Holle. Seit einigen Jahren wird das indische Fest heftig gefeiert, auch außerhalb Indiens. Von Mai bis August zieht die Farbshow von Stuttgart bis Hamburg, von Mannheim bis Berlin. Die Eventkultur globalisiert auch lokale Feste und macht sie zu Ereignissen außerhalb der Ursprungskulturen. Dabei werden Kontexte ausgehebelt und Symbole neu besetzt und umkodiert.
Nachdem ich in vielen kleinen Gesprächen die sehr freundliche Bekanntschaft des Arbeitskreises zur Jubiläumsfeier im Januar 2020 gemacht hatte, wurde mir die Möglichkeit geboten, auch an seinem Blog auf der Homepage mitzuarbeiten. Darüber freute ich mich sehr, worauf sich aber auch sogleich die Frage anschloss: Worüber soll ich eigentlich schreiben? Mein Interesse an Mythen und Mythologie wurde schon in der Jugend geweckt, hielt über die Jahre des Studiums und danach an und tut dies auch nach wie vor. Entsprechend ist – um eine Formulierung Cassirers aufzugreifen – „die verwirrendste Tatsache nicht der Mangel, sondern der Überfluss“ (Cassirer 1949, S. 8) des möglichen Themenmaterials und auch der möglichen Zugriffsweisen, wie sie sich in fortlaufender Lektüre und Nachdenken erschlossen haben. Nach einem Blick in meine Magisterarbeit über den Mythos bei eben zitierten Ernst Cassirer und eingedenk mancher Gespräche mit Freunden und Kollegen, entschloss ich mich endlich dazu, mich in meinem ersten Beitrag mit einer recht allgemeinen Frage auseinanderzusetzen: Warum eigentlich Mythologie?
Während uns gerade ein Phänomen und vielleicht schon ein Mythos namens Coronavirus in seinen mephistophelischen Fängen hält und eine goethianische Entschleunigung des gesamten gesellschaftlichen Lebens bewirkt, überschlagen sich Politiker und die sie beratenden Wissenschaftler und Mediziner in einer veloziferischen Orgie von Maßnahmen. Ohne selbst innezuhalten und zu denken, zu reflektieren, so scheint es manchmal. Gefangen in einer weltweiten Dynamik wird die Pandemie eines Atemwegserkrankungen auslösenden Virus, wie sie uns jährlich in Form der Influenza begegnet, zu einer Pandemie der Bewusstseins- und Gesellschaftsveränderung.
Es ist eine gewaltige, immer-sprudelnde Fontäne aus Wasser inmitten einer Höhle, schlicht, abgelegen, vergessen und blutrot funkelnd, wenn ein Sterblicher in ihr umkommt. Die Macher des Films Sindbads gefährliche Abenteuer aus dem Jahr 1973 (Regie: Gordon Hessler) haben einiges an Effekten auf die Darstellung des Schicksalsbrunnens verwendet, welchen die Reisenden um den legendären Kapitän am Ende ihres vorherbestimmten Weges aufsuchen müssen. Schicksal, Schicksal, Schicksal hat zuvor schon das Allwissende Orakel in seinem Tempel prophezeit. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss. Die Helden besiegen das Böse im letzten Moment. Dabei wird alles noch einmal in die Waagschale geworfen: Tod und Leben, Liebe und Hoffnung, Mut und Opfer. Ein wunderbarer Film, der mich seit meiner Jugend begleitet. Dem Schicksalsbrunnen wohnt darin eine eigene, unberechenbare und doch wissende Kraft inne, obwohl das Motiv in einer Sindbad-Geschichte überraschen mag. Denn Schicksalsquellen sucht man in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht vergeblich. Schon eher wird man dazu in der Nordischen Mythologie fündig. Dort wird der Schicksalsbrunnen meist als Urdabrunnen (Urdbrunnen) bezeichnet. Im Gylfagynning, einem Hauptteil der in Prosa verfassten Snorra-Edda, die auf den isländischen Skalden Snorri Sturluson (1179-1241) zurückgeht, heißt es dazu:
Die Serie Carnival Row auf Amazon Prime zeigt eine Realität, in der sich die Bewohner von Märchen und Folklore mit der menschlichen Welt überschneiden, aber nicht in der Art und Weise, wie wir es aus Volksmärchen gewohnt sind. Die Serie schafft eine Realität, in der die Wesen der Märchen mit der industriellen Revolution kollidieren und hieraus als Verlierer hervorgehen. In Tir na nÓg wurde ein Krieg gekämpft und verloren. Die Magie wurde von der Technologie überwältigt oder durch Wissenschaft verzerrt, und die Zauberwesen unserer Volkserzählungen waren gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen und als Flüchtlinge in den menschlichen Ländern ihrer Verbündeten zu leben. Alle möglichen Feenwesen, Kobolde, Satyrn, Werwölfe, Hexen, um nur einige zu nennen, sind nun dem Leben der armen Arbeiterklasse einer Stadt ausgesetzt, die dem London des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts unheimlich ähnelt ist. Sie leben in einem unruhigen Frieden mit den Menschen, die ihre Stadt nur ungern teilen. Die feenhaften Flüchtlinge, die von den Menschen oft als „Kritiker“ bezeichnet werden, leben in den Slums der Stadt, wo sie sich als Straßenverkäufer, Prostituierte oder Dienstboten durchschlagen. Sie werden mit Verachtung, Misstrauen und Angst betrachtet. In der Zwischenzeit ist ihr Heimatland Tir na nÓg durch den Pakt schrecklichen Grausamkeiten ausgesetzt.
Jeder Anruf enthält Geschichten heute. Jeder weiß etwas anderes, kennt Fälle, berichtet von Nachbarn, Freunden, von sich selbst, aus der Zeitung, aus dem Internet, kennt jenes Gerücht, diese Zahl. Noch nie ist unserer Generation so deutlich geworden, wie wichtig das Erzählen für uns Menschen ist. So ist es in anderen Seuchenzeiten gewesen, so war es in den Kriegen, in den Umwälzungen von der Französischen bis zur Friedlichen Revolution. Wir stellen fest, dass wir auf solche Erzählungen angewiesen sind: sie helfen uns zur Orientierung, sie trösten oder regen auf, sie lenken ab und unterhalten.
„Die Söhne Thors werden Mjöllnir tragen, zum Schutz gegen neue Feinde. Warum sollte kein Riese überleben? […] Die neuen Asen werden über die Taten in der Vergangenheit reden, wie Thor neun Schritte vor der Midgardschlange zurücktrat und als einziger der alten Götter siegte, wie Odin die Runen erfand und den Dichtermet heimholte. Die Asen werden im Schutt, von Gras überwachsen, ihr Brettspiel finden, das sie lieben. Und sie werden die goldenen Figuren neu setzen, Losstäbe werfen und die Zukunft erforschen.“ (Eine Neue Welt, In: Tetzner, Germanische Götter- und Heldensagen, S. 135)
Die Reise der Helden hat begonnen, sagt die ältliche Supermarkt-Kassiererin mit dem merkwürdig durchdringenden Blick und dem Lächeln, welches stets mehr meint, als es zu sagen scheint. Verrückt sei sie, behaupten die Einwohner der norwegischen Stadt Edda, sind sie es doch seit Jahrzehnten gewohnt, beim Einkauf allerlei prophetische und in ihren Augen unsinnige Bemerkungen zu hören. Auch dem jungen Magne Sejer, unlängst mit seiner chaotisch-neurotischen Mutter und seinem durchtrieben-schlauen Bruder Laurits in den Ort am Fjord gezogen, flößt die Dame Unbehagen ein. Bei ihrer ersten Begegnung hat sie auf merkwürdige Weise seine Stirn berührt und seitdem passiert etwas mit ihm. Magne scheint sich auf eigenartige Weise zu verändern.
Macht ist flüssig und in gewisser Weise kann man, wenn man Macht sozial-systemisch untersucht, den einzelnen Menschen zur kleinsten Einheit der Macht stilisieren. Einer Machtmonade. Diese Monade kann entweder positiv oder negativ geladen werden, was jeweils einen Mangel oder einen Überschuss an Macht bedeutet.
Macht definieren wir hier als die Fähigkeit, Einfluss auf andere auszuüben, oder in den Worten des deutschen Soziologen Max Weber: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. (Weber, S. 89) Wären alle Monaden neutral geladen, gäbe es auch keinen Einfluss einer Monade auf die andere, bei dem sinnvoll von einem Herrschafts- oder Verfügungsverhältnis gesprochen werden könnte, und ohne ein Ladungsgefälle fließt auch kein Strom.
Momentan lese ich den Roman Vernon Subutex 1 von Virginie Despentes, der 2015 als Teil einer Trilogie erschienen ist, die 2018 abgeschlossen wurde. Titelheld Vernon mit dem Heroinersatz im Nachnamen ist eigentlich ein richtiger Antiheld. Als tief mit der Rockszene der 80er verwachsener Verführer und ehemaliger Besitzer eines Pariser Plattenladens ist Vernon dem Wandel im Generellen (ausgenommen bei der Wahl seiner Bettgesellschaft) eher konservativ-skeptisch gegenüber eingestellt. Nützt jedoch nichts, denn die Handlung zwingt ihn aus seinem Stückchen eingestaubter Sicherheit heraus ins Unberechenbare, als sein Rockstarfreund und Mäzen, Alex, das Überdosis-Ticket zu Jimi Hendrix nimmt. Da finanziell von Alex abhängig, findet sich Vernon in einer schwitzigen Lage, die sich so prekär entwickelt, dass er nicht mal mehr das Geld für die Miete aufbringen kann und folglich auf der Straße landet.
Wenn ich bei Führungen von Schulklassen im Bremer Übersee-Museum die Frage stelle, wer schon mal etwas von Sitting Bull gehört hat, schaue ich normalerweise in leere Gesichter. Das Thema „Indianer“ scheint bei der heutigen jungen Generation kaum noch stattzufinden. Umso mehr überraschte und freute mich das Bekenntnis eines 13-Jährigen, seine Lieblingsbücher seien DieSöhne der Großen Bärin. Kaum ein Buch hat mich auf meiner Lesereise so sehr geprägt wie Liselotte Welskopf-Henrichs Romanzyklus. Mit zehn Jahren bekam ich den ersten Band geschenkt, der der Auslöser dafür war, dass aus meiner frühkindlichen Indianerbegeisterung ein zunehmend ernsthafteres Interesse wurde, das schließlich auch meine Berufswahl bestimmte.
Ich bin ein Leser, der zwischen den Welten wandelt. Sachbuch oder Literatur? Man muss sich entscheiden. Was mir manchmal wirklich schwerfällt, da ich am liebsten alles auf einmal lesen würde. Lesen bedeutet für mich, die ganze Welt in meiner Wohnung zu versammeln, in Vergangenheit und Zukunft zu reisen oder einfach nur das Hier und Jetzt zu reflektieren. Lesen schließt die Seele auf.
die Leipziger Buchmesse muss im Jahr 2020 leider ausfallen. Wie viele andere Buchbegeisterte sind wir über die Entscheidung sehr traurig und enttäuscht, verstehen aber die Notwendigkeit aufgrund der aktuellen Gesundheitslage in Europa und der Welt. Da es gegen Viren noch keine umfassenden medizinischen Firewalls gibt, diese aber im Internet ein wenig effektiver existieren, haben wir uns entschlossen, unseren Blog in dieser Woche mit Literatur, Buchempfehlungen und Leseimpressionen zu füttern.
Das Team vom MYTHO-Blog möchte Sie daher in den kommenden Tagen auf eine etwas andere Lesereise einladen und auf ganz persönlich Weise über Literatur im Speziellen und das Lesen im Allgemeinen erzählen. Was schmökern unsere Blogschreiber aktuell? Welche Bücher haben sie berührt und zum Nachdenken angeregt? Welche Texte begleiten sie schon seit Jahren? Bücher sind so unterschiedlich wie die Menschen. Bücher führen zusammen. Bücher sind wir.
Das Team vom MYTHO-Blog wünscht Ihnen viel Freude beim Lesen!
Australien. Für uns Europäer der Kontinent am anderen Ende der Welt, den wir u.a. mit Kängurus, Koalas, dem roten Felsgestein des Ayers Rock, dem Great Barrier Reef, der zu Silvester von Feuerwerk umrahmten Oper von Sydney, James Cook, dem Commonwealth und leider auch mit verheerenden Buschbränden in Verbindung bringen. Australien. Das ist auch das Land der Aborigines, seiner Ureinwohner, und es ist das Land der immer noch lebendigen Mythen. 60.000 Jahre (sogar von 120.000 Jahren ist in manchen Quellen aufgrund der Datierung von Felsritzungen die Rede) reicht diese lebendige Kultur mit ihren Traumpfaden zurück.
Jay Mendelsohn, ein 81-jähriger Mathematiker und Computerwissenschaftler im Ruhestand, nimmt 2012 an dem Seminar über Homers „Odyssee“ teil, das sein Sohn Daniel Mendelsohn im Frühjahrssemester an dem kleinen, aber feinen Bard College in der Nähe von New York gibt. Anschießend machen beide eine Mittelmeer-Kreuzfahrt, die den Spuren des Helden dieses mehr als zweieinhalb Jahrtausende alten griechischen Epos folgt. Anders als Odysseus, der nach vielen Irrungen und Abenteuern schließlich auf seiner heimatlichen Insel Ithaka landet, erreichen sie dieses Ziel aber nicht, da aufgrund von Streiks im Zuge der griechischen Wirtschaftskrise die Reiseroute geändert werden muss. Ein Jahr nach Beginn des Odyssee-Seminars erleidet der alte Herr einen Schlaganfall, der ihn ins Pflegeheim bringt, wo er sich eine Infektion zuzieht, an der er stirbt. So einfach lässt sich die Handlung von Daniel Mendelsohns Roman „Eine Odyssee“ zusammenfassen, dessen amerikanische Originalausgabe 2017 unter dem Titel „An Odyssey. A Father, a Son and an Epic“ bei Alfred A. Knopf, New York, erschienen ist und dessen deutsche Übersetzung der Siedler-Verlag (München) 2019 herausbrachte. Aber so einfach ist es nicht …
Am Bahnhof von Tel Aviv: ein junger Israeli, Rucksackreisender, mag Deutschland, lernt Deutsch und versucht zwei jungen Deutschen zu erklären, dass sie eine Kultur haben. Wir, eine Kultur? Haben wir nicht! Ich würde dir nie empfehlen, Deutsch zu lernen, sagt die junge Frau. Warum lernst du Deutsch?
– Warum soll ich nicht Deutsch lernen? Etwa weil ich Jude bin?
– Oh nein, sondern, weil es so schwer ist. Der, die, das und so weiter!
„Der menschliche Geist ist allein der Vollbringer wunderbarer Werke, dass er sich mit einem jeden Geist, mit welchem er will, verbinden mag, und wann dies geschehen, so tut und wirkt er, was er will. Deshalb soll man in magischen Sachen vorsichtig handeln, damit einem die Sirenen und andere Monstra nicht betrügen, welche gleicher Weise mit den Menschen Gemeinschaft zu machen begehren. Daher berge sich ein rechter Magier allezeit unter den Flügen des Höchsten und lasse sich nit von den brüllenden Löwen verschlingen, denn die, welche nach weltlichen Dingen begierig sind, können schwerlich des Satans Stricken entfliehen.“
„… wir haben ein Handbuch der seltsamen Geschöpfe zusammengestellt, die im Lauf der Zeit von der menschlichen Phantasie erzeugt wurden. Wir kennen den Sinn des Drachen ebenso wenig wie den Sinn des Universums, aber in seinem Bild ist etwas, das der menschlichen Vorstellungskraft entspricht, und so erscheint der Drache in verschiedenen Gebieten und zu verschiedenen Zeiten. Ein Buch dieser Art kann nur unvollständig sein; jede neue Ausgabe ist der Kern späterer Ausgaben, die sich ins Unendliche vervielfältigen können.“ Der Bibliothekar und Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986) hat im Vorwort zu seinem „Buch der imaginären Wesen“ eben jene Gattung von Texten zusammengefasst, die seit dem Mittelalter als Bestiarien bekannt sind. Darunter verstehen wir illuminierte Handschriften, meist in Buchform zusammengestellt, die Tiere, Mischwesen, aber auch Pflanzen und gar Steine beschreiben. Ein Kompendium der Naturgeschichte, angereichert mit menschlicher Fantasie, der Überlieferung von antikem Wissen, mit einem christlich-moralischen oder gar allegorischen Grundton versehen und oft in einer symbolhaften Sprache verfasst. In Bestiarien tummelt sich, was unmöglich scheint. Fliegende Pferde. Meerjungfrauen. Drachen in allen möglichen Varianten. Löwen. Greife. Und nicht zu vergessen Einhörner. Wie schon das in „Bestiarium“ verwendete lateinische Wort „bestia“ (wildes Tier) besagt, sind es neben bekannten oder unbekannten echten Tieren vor allem Mischwesen und Monster, die Fabelwesen also, deren Geschichten und auch deren Gestalten auf diese Weise die Zeiten überdauert haben.
Halb verdeckt von Sträuchern kauert sie im Zwielicht. Ein lautes Wehklagen und Schreien zerschneidet die Stille und lässt Vögel von einem nahegelegenen Feld auffahren. Nur wenige Steinwürfe von dem Haus einer Familie sitzt sie und stößt ein anhaltendes Jammern aus, das die Menschen – bis auf einen – aufhorchen lässt. Man möchte erschauern, denn ihre Schreie sind eine Warnung – bald wird der Tod die Familie heimsuchen und ein Mensch wird sterben. Nämlich derjenige, der als einziger Ihre Schreie nicht hört.
der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie feiert heute sein 25-jähriges Bestehen. Am 27. Januar 1995 kamen im Café Alte Nikolaischule in Leipzig Mytheninteressierte, Wissenschaftler und Literaturbegeisterte zusammen und beschlossen die Gründung des Vereins, der seitdem das Kulturleben der Stadt mit Lesungen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Blogbeiträgen bereichert hat und bereichert. 492 Veranstaltungen, 27 geförderte Projekte, 30 Publikationen und 87 Blogbeiträge sind die bisherige stolze Bilanz. Das wollen und werden wir feiern! Natürlich mit einer Veranstaltung. Und natürlich mit einem Blogartikel, um uns herzlich bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, und bei all unseren Förderern und Unterstützern für das Interesse und die Treue zu bedanken.
Vor langer Zeit war der Mensch ein Karibu und das Karibu war ein Mensch.
Das Arctic National Wildlife Refuge (ANWR) im Nordosten Alaskas gilt als Kronjuwel unter den Naturschutzgebieten der USA. Die Coastal Plains, die Küstenebenen des ANWR, sind eine unberührte Wildnis von 1,5 Millionen Acre (etwa 6.070 Quadratkilometer). Dieses Gebiet ist Zufluchtsort für Polarbären, Überlebensraum bedrohter Moschusochsen und Überwinterungsplatz von mehr als 200 Zugvogelarten aus fünf Kontinenten. Außerdem sind die Coastal Plains die Kinderstube der etwa 218.000 Tiere umfassenden Porcupine-Karibuherde, der letzten großen, vom Menschen unbeeinflusst ziehenden Karibuherde der Welt. Das Gebiet, in dem die Karibus ihre Jungen zur Welt bringen, wird von den Gwich’in Izhik Gwats’an Goodlit genannt, was übersetzt so viel bedeutet wie „der heilige Ort, wo alles Leben beginnt“.
Als ich dort hinreiste, wusste ich nur dies: Jakutsk ist die kälteste Hauptstadt der Welt. Dort sollte eine Konferenz zum 175. Geburtstag Nietzsches stattfinden, einem Philosophen also gewidmet, der wusste, was Kälte war. Von Moskau fliegt man ca. 6 Stunden und überquert so manche Zeitzone. Der Flughafen lag wie eine gefrorene Eisprinzessin in der weißen Wüste. Mein Koffer war nicht mitgekommen, aber ich kam in eine warme Wohnung. Meine Gastgeber, eine Philosophin und ein Dirigent sowie ihre Familie tischten nach russischer Art auf! Und ich begann mehr zu erfahren über dieses für uns so unbekannte Land, das offiziell Republik Sacha heißt. Reich an Bodenschätzen, die größten Diamantvorkommen der Erde. Auf den Straßen, mitten in der Stadt, weiße struppige Pferde, wilde Pferde, die im Schnee scharren. Es dampft allüberall in der Kälte, der Atem, der Rauch der Häuser. Jakutien liegt im Nordosten Sibiriens, es ist fast so groß wie Indien und neunmal so groß wie Deutschland.
„Lebensgroße bemalte Büste der Königin, 47 Zentimeter hoch. Mit der oben gerade abgeschnittenen blauen Perücke, die auf halber Höhe noch ein umgelegtes Band hat. Farben wie eben aufgelegt. Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen.“ (Tyldesley, S. 140)
Die Sätze, die der deutsche Ägyptologe Ludwig Borchardt in seinem Grabungstagebuch von 1912/13 notierte, klingen präzise und nüchtern angesichts der Tatsache, dass es ihm gelungen war, einen der bedeutendsten Funde der ägyptischen Amarna-Zeit zu entdecken. Natürlich war er sich zu diesem Zeitpunkt des Hypes, den der mit bemaltem Gips überzogene Kalkstein im christlichen Abendland auslösen sollte, nicht bewusst. Ein Hype, der bis heute nichts an Intensität verloren hat und Künstler, Bewunderer und Schönheitsfetischisten gleichermaßen in seinen Bann schlägt.
In den Jahren 1902 bis etwa 1904 tobte ein Streit, der, wie einer seiner Protagonisten mit leichter Übertreibung rückblickend feststellte, die Gebildeten von Kalkutta bis Kalifornien und von Norwegen bis Kapstadt sowie in Deutschland breite Volksmassen erregte (Lehmann, S. 52). Ausgelöst worden war er von dem international renommierten Assyriologen Friedrich Delitzsch (1850 – 1922), Professor für Orientalische Philologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) zu Berlin und Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen, die später Teil des Pergamonmuseums werden sollte.
erneut geht ein Jahr mit allzu schnellen Schritten dem Ende entgegen. Und wie immer waren die vergangenen Monate geprägt von einem bekannten und allzu menschlichen Auf und Ab. Das Team vom MYTHO-Blog bedankt sich herzlich für Ihr Interesse an unseren Artikeln und unseren Themen. Wir sind überwältigt vom Zuspruch, den wir erfahren, und freuen uns darauf, Sie auch im nächsten Jahr allfreitaglich mit mythischen, literarischen und kulturellen Neuigkeiten zu versorgen.
2020 dreht sich in unserem Jahresthema alles um das 25-jährige Jubiläum des Arbeitskreises und um Fabelwesen. Dazu werden wir mit kleinen Beiträgen auch regelmäßig in unserem „Bestiarium“ informieren, wo wir fantastische Wesen aus aller Welt und aus allen Zeiten, vom Pegasus bis zur Meerjungfrau und vom Riesen bis zum Cyborg, vorstellen.
„Wir befinden uns im Jahr 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die römischen Legionäre…“ Denn die zähen Gallier wie der schlaue Asterix, sein Wildschwein liebender Kumpel Obelix, der auf einem Schild herumbugsierte Dorfchef Majestix oder der schräge Lieder trällernde Barde Troubadix, sie alle sind bei den Römern für viele blaue Augen, Prellungen und zerschlagene Knochen verantwortlich. Das Geheimnis ist der Zaubertrank des Druiden Miraculix, der in seinem Kessel allerlei Kräuter und Substanzen zusammenrührt. Doch alles Brauen und Beschwören würde nichts bringen ohne die wichtigste Zutat, die dem Zaubertrank erst seine Macht verleiht: Die Mistel.
„Uns ist in alten Mären Wunders viel gesagt von Helden, lobeshehren, von Taten, kühn gewagt, von frohen Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen von kühner Recken Streiten mögt Ihr nun Wunder hören sagen.“ (Das Nibelungenlied)
Das „Nibelungenlied“ ist die bedeutendste hochmittelalterliche Ausformung der Nibelungensage um Siegfried, den Drachentöter, die starke Brünhild, den verschlagenen Hagen von Tronje und die rachsüchtige Kriemhild, die in ihrem Vergeltungsdrang letztendlich alle Beteiligten ins Verderben führt. Ein symbolträchtiges Werk, welches längst zum deutschen Kulturkanon gehört. Im Nibelungenmuseum Worms wird dieser jahrhundertealte Mythos mit Hilfe digitaler Medien anschaulich zu neuem Leben erweckt. So erfahren die Besucher im „Sehturm“ Wissenswertes über die Entwicklungsgeschichte der Sage, während sie im „Hörturm“ über die sprach- und literaturwissenschaftlichen Hintergründe informiert werden. Das beeindruckende Panorama lädt ein zu einer Zeitreise durch das Land der Nibelungen, während das unterirdisch gelegene „Mythenlabor“ Raum bietet, sich in die Welt der Sagen zu begeben.
Es sind Gesänge, wie man sie nicht oft in den Räumen des Grassi Museums für Völkerkunde zu Leipzig hört. Major Sumner, genannt Uncle Moogy, von der Ngarrindjeri Community Südaustralien, ruft mit seiner eindringlichen Stimme die Geister der Ahnen herbei. Einen seiner mit rituellen Zeichen versehenen beiden Bumerangs hält er in alle vier Himmelsrichtungen. Der dazugehörende Gesang und das Aneinanderschlagen von Holz, welches mit einem eindringlichen Sprechgesang einhergeht, richten sich nicht nur an die Ahnen seines eigenen Clans, sondern auch an die Ahnen der Anwesenden. Alle sind willkommen. Denn in der Schöpfung wie im Tod sind wir alle gleich. Die Ahnen sind unser aller Verbindung. Und es scheint tatsächlich, als würde sich an diesem 27. November 2019 eine enorme Ruhe über den Veranstaltungsraum im zweiten Museumsobergeschoss legen, eine Gelassenheit, welche Zuhörer und Erzählende durch den Abend trägt.
Es ist vielleicht DER kultigste Weihnachtsfilm in Deutschland, obwohl sich darüber natürlich streiten ließe. Der DEFA-Märchenfilm „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ aus dem Jahre 1973 erzählt auf charmant-fantastische Weise die Geschichte des Aschenbrödels. Trotz der gemeinen Albernheiten ihrer Stiefmutter und Stiefschwester schafft es das Mädchen durch ihr eigenwilliges, cleveres Wesen – und drei magische Haselnüsse – den leichtlebigen Prinzen zu treffen, diesen in ihren Bann zu schlagen und schließlich zu heiraten.
Fast jeder kennt die Irrfahrten des Odysseus, von denen der griechische Dichter Homer in seiner „Odyssee“ berichtet. Gemeinsam mit der „Ilias“ gehört das Epos sowohl zu den ältesten als auch zu den berühmtesten Dichtungen der abendländischen Literatur. Folgt man der Poetik des Philosophen Aristoteles, ist der Inhalt schnell erzählt: „Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohn nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde“. (Aristoteles, Poetik, 17)
Der Trickster liebt das Spiel, bei dem man manches Mal den Kopf verlieren kann, und das hindert ihn an einer nachhaltigen Arbeit. Es fehlen Fleiß, Verantwortung, Zukunftsdenken. Wenn es ihm langweilig wird, schmeißt er das Spiel hin. Darin ist er sehr kindlich. Faule wie Trickster schreiben keine Romane. Aber wenn sie es tun, werden es Anti-Romane, die sich selbst immer wieder aufheben oder sich über sich selbst und das eigene Unterfangen, seriös sein zu wollen, lustig machen. Ich denke an Lawrence Sternes Tristram Shandy, an Denis Diderots Jacques der Fatalist oder an Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Viele Postmoderne lieben den Trickster als ein solches Prinzip, etwa John Barth, Donald Barthelme, Julio Cortázar, Jorge Luis Borges, Salman Rushdie und viele andere. Vielleicht kann man literarische Epochen sogar nach ihrer Nähe zur Tricksterhaftigkeit einordnen. Natürlich ist der Trickster, eben weil er auch für Autoren stehen mag, eine beliebte Figur in der Literatur. Er tritt dort unter anderem als Hochstapler, Schelm, Betrüger oder Dieb auf.
„Ich wusste damals nicht, wieviel zu Ende ging. Wenn ich heute von dem hohen Berg meines Alters zurückblicke, kann ich die niedergemetzelten Frauen und Kinder verstreut und in Haufen entlang der gewundenen Schlucht so deutlich liegen sehen, wie ich sie sah, als meine Augen noch jung waren. Ich kann sehen, dass noch etwas anderes dort in dem blutigen Schlamm starb und vom Schnee begraben wurde. Eines Volkes Traum ist dort gestorben. Es war ein schöner Traum … des Volkes Rad ist zerbrochen und zerfallen. Es gibt keine Nabe mehr, und der heilige Baum ist tot.“
Was ist Europa? Die Frage scheint so simpel wie kompliziert. Europa, das ist der zweitkleinste Kontinent der Erde mit drei Zeitzonen, derzeit siebenundvierzig unabhängigen Staaten und über siebenhundert Millionen Einwohnern. Europa assoziieren wir im Allgemeinen mit dem „Abendland“, das, der in der Schule vermittelten geographischen Definition zufolge, im Westen vom Atlantik und im Osten vom Ural respektive dem Kaukasus eingefasst wird. Europa ist die Geburtsstätte mehrerer Weltreiche, Schauplatz unzähliger Konflikte und Auseinandersetzungen, Ursprung zweier Weltkriege und infolgendessen auch der Ursprung der Europäischen Union, einer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, der bis heute achtundzwanzig Staaten angehören, wobei neunzehn davon mit dem „Euro“ auch einen einheitlichen Währungsraum bilden. Europa, das ist eine Idee, wie es der französische Journalist Bernard-Henri Lévy postuliert hat, die Wiege der abendländischen Kultur, vor allem aber ist Europa ein ureigener Mythos.
Mythische Figuren haben in aller Regel einen Namen, seien sie nun so bekannt wie Helena, Herakles oder Theseus, die Gegenstand unzähliger Darstellungen aller Genres sind, oder so unbekannt wie Oreithyia, Orseis oder Orsedike, die mittlerweile ihr Dasein nur noch in mythologischen Handbüchern wie Apollodors Bibliothek fristen. Allerdings gibt es eine prominente Ausnahme: Die Frauenstatue, die ein gewisser Pygmalion auf Zypern aus Elfenbein schuf, schöner als alle anderen Frauen. Ihr Schöpfer verliebte sich in sie, und als er die Götter bat, sie mögen ihm doch eine Frau geben, die ihr gleich sei, erbarmte sich Aphrodite, die Göttin der Liebe und belebte das elfenbeinerne Mädchen. Pygmalion nahm sie zur Frau und hatte mit ihr eine Tochter.
Die Ausstellung „Die schaffende Galatea. Frauen sehen Frauen„, die in der Kunsthalle „Talstrasse“ in Halle (Saale) zwischen dem 13. Juli und dem 13. Oktober 2019 zu sehen war, wurde als Antwort auf heutige Geschlechterkonflikte im Rahmen der letzten 100 Jahre konzipiert.
Samhain, das Fest, an dem sich die Grenzen zwischen unserer Welt und der Anderswelt auflösen. Heute feiert es die Allgemeinheit als Halloween und setzt die Tradition des Verkleidens fort – ein Spaß, der ursprünglich die Lebenden vor den Geistern der anderen Seite verbergen sollte.
Constance Timm und ich haben uns schon einmal in unserem Essay-Band „Über die Grenzen“ dem Thema von parallel existierenden Welten, den Motiven von Übergang, Ober- und Unterwelt gewidmet. Das Coverbild, für welches wir uns damals entschieden haben, zeigt dabei passenderweise eine alte, umwucherte Holztür, die geheimnisvoll von Schatten umspielt wird. Hält man das Buch in Händen, so wirkt es, als ginge man selbst darauf zu, bereit, sie aufzustoßen und zu sehen, was sich dahinter verbirgt. Schlägt man die Seiten auf, so öffnet man im übertragenen Sinn auch die Tür. Wir mochten diese Metapher sehr, die Wahl fiel uns also leicht.
„Die Raben rufen: ‚Krah, krah, krah! Wer steht denn da, wer steht denn da? Wir fürchten uns nicht, wir fürchten uns nicht vor dir mit deinem Brillengesicht.
Wir wissen ja ganz genau, du bist nicht Mann, du bist nicht Frau. Du kannst ja nicht zwei Schritte gehn und bleibst bei Wind und Wetter stehn.
Du bist ja nur ein bloßer Stock, mit Stiefeln, Hosen, Hut und Rock. Krah, krah, krah!'“
(Die Vogelscheuche, Christian Morgenstern)
Nachdem wir in den vergangenen Wochen den Spuren steinerner Herzen, erzählender Bäume, heiliger Berge und morgenländischer Märchen gefolgt sind, ist es nun an der Zeit uns dem mythischen Herbst zuzuwenden. Und welches Fest wäre besser für solche Gedanken geeignet als das bevorstehende Halloween? Das Fest, das Erntedank und Totenfeier miteinander vereint. Halloween, das bedeutet Verkleidung, Grusel, „trick or treat“ (Süßes oder Saures). Man schlüpft in die Rolle der Geister und schlägt der Angst ein Schnippchen.
„Das Schicksal besteht aus zwei Tagen: einer ist Sicherheit, einer Gefahr. Und unser Leben hat zwei Hälften: eine ist trübe, und eine ist klar. Sage zu dem, der uns geschmäht hat um unsres Schicksals willen: ‚Hat je das Schicksal einen geprüft, der ohne Bedeutsamkeit war?'“
(Der Kaufmann und der Dschinni, Die erste Nacht)
Wer kennt nicht die Abenteuer von Aladdin und dem Geist aus der Wunderlampe oder das „Sesam öffne dich“ aus der Erzählung von Ali Baba und den vierzig Räubern? Gute und böse Geister, Verwandlungen wie etwa in der Geschichte „Der Dieb von Bagdad“ oder die Reisen des Sindbad – es weht ein Hauch von Exotik, Ferne, Gefahr, Spannung und Poesie und Mythos durch die Seiten, bei denen man fortgetragen wird von Erzählung zu Erzählung. „Wenn du nicht schläfst, so erzähle uns deine Geschichte zu Ende!“ In dieser Nacht und in der nächsten. Es kann keinen Zweifel geben: Wir befinden uns auf einer fantastischen Reise durch das Morgenland und sind dem Bann von Tausendundeine Nacht erlegen; „alf laila wa-laila“ wie es im Arabischen heißt oder das Buch, welches mit der Absicht geschrieben wurde, „jedem nützlich zu sein, der darin liest“.
Sie stammte aus Magdala (hebräisch: Migdal), einer Stadt nahe des Sees Genezareth, war eine enge Vertraute von Jesus und ist eine biblische Figur, die ihresgleichen sucht. Neben anderen Frauen aus der Gefolgschaft Jesu blieb sie bei ihm bis zum Ende. Sie war eine der wichtigsten Zeugen der Auferstehung und trug die Botschaft zu den männlichen Jüngern. Die Rede ist von Maria Magdalena und ihre Geschichte ist vielschichtig, steinig und turbulent.
Der letzte Atem des Sommers liegt in der Luft. Abendverkehr rollt. Sirenen von Einsatzfahrzeugen summen durch die Straßen und verlieren sich in der Entfernung, die nicht so weit ist, wie sie dem Hörenden glauben macht. Die Sonne versinkt hinter Wolken und Häusern und Bäumen. Regen hat innegehalten. Schirme und schützende Zufluchten werden nicht gebraucht an diesem Abend, der an einer kleinen Stelle der Stadt, abseits der großen Straßen und doch mittendrin im Trubel und vor allem inmitten eines Schwarms von Bäumen, ganz den Mythen gehört. Und ihren Erzählern.
Landschaften sind untrennbar mit der Praxis traditioneller indianischer Religionen verbunden. Im Gegensatz zum Christentum sind tribale Religionen nicht theologisch im Sinne der Gesamtheit göttlicher Wahrheiten. Das Fortbestehen traditioneller indianischer Religionen ist nur durch Zeremonien und Rituale gesichert, die häufig an speziellen Plätzen durchgeführt werden. Diese Plätze können Orte sein, an denen Geister leben oder die als Brücken zwischen der profanen Welt und dem Heiligen dienen.
„Aber ich mag die Nacht. Ja. Man ist irgendwie auf der anderen Seite. Auch wenn das komisch klingt jetzt. Was Besonderes. Nachtarbeiter. Wir sind mit der Stille verbündet. Ich denke manchmal, dass wir alle Schlafwandler sind.“
(Clemens Meyer, Im Stein)
„Im Herzen froh, stieg ich bis zu des Berges Stelle, Von der die Stadt sich voll dem Blick erschließt, Spital, Bordell, Gefängnis, Fegefeuer, Hölle, Wo alles Ungeheure so wie eine Blume sprießt.“
(Charles Baudelaire, Der Spleen von Paris)
Gepolsterte Sitzbänke. Holzstühle. Ledersessel. Das Licht von Edison-Glühbirnen taucht den von Trennwänden geteilten Raum in Dämmerung. Musik dudelt aus unsichtbaren Lautsprechern. Wärme. Das Echo von Gesprächen. Wind hat sich verirrt. Es ist Abend. Und alles scheint möglich. Die perfekte Atmosphäre zwischen Sein und Nichtsein, Realität und Traum und Gedanken, für die der Tag zu leer ist. Manches kann nur die Nacht offenbaren.
Das Literaturcafé im Haus des Buches Leipzig ist fast bis auf den letzten Platz besetzt an einem Donnerstagabend, der nicht mehr ganz dem Sommer, aber auch noch nicht vollständig dem Herbst gehört, sondern irgendwie im Dazwischen liegt. Und eben dieses Dazwischen ist es denn auch, das den Abend durchzieht. Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer ist zu Gast und liest aus seinem 2013 im S. Fischer Verlag erschienenen und 2014 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichneten Roman „Im Stein“. Es geht um käufliche Liebe, Nachtarbeiter, Macht, Geld, Abgrund, die Zukunft und die Vergangenheit, das Hier und das Jetzt. Ein Gesellschaftsroman, der den Leser in eine Parallelgesellschaft führt und dabei zwangsläufig mit der eigenen Angst, der eigenen Schuld, der eigenen Gier, der eigenen Lust, dem eigenen Tod konfrontiert und das auf eine Weise, die mal direkt, mal grob, mal brutal, mal hoffnungsvoll, mal ernüchternd, mal hinterfragend, mal schlüpfrig, aber ganz sicher mythisch und vor allem poetisch ist. Wobei sich in all den seidenen dunklen Fäden, die mich beim Lesen an ein Spiel von Schattenfiguren erinnert haben, unweigerlich die Frage stellt: Und was ist mit der Liebe in all den Bewegungen, den Gedanken, Stimmen und Verwicklungen? Mr. Orpheus sucht Eurydike. Doch Eurydike lacht und lässt den Geldbeutel klimpern.
Die Mythenwelt Polynesiens beheimatet eine Vielzahl göttlicher und gottähnlicher Wesen. Ihre Erscheinungen sind vielgestaltig, ebenso ihre Namen und ihre Taten. Sie sind reine Götter, Personifizierungen von Naturerscheinungen wie Sonne, Mond, Sterne, Gewitter oder Regen, Mischlinge zwischen Götterwesen und Mensch oder auch Menschen, die in der Obhut von Göttern heranwachsen und von ihnen besondere Fähigkeiten erhalten.
In den mythischen Geschichten Polynesiens begegnet man immer wieder einem Mann, der durch Schelmenstreiche, Magie und Zauberei sowie mit großer Abenteuerlust die Aufmerksamkeit der Menschen und der Götter auf sich zieht. Auf den verschiedenen Inseln Polynesiens variieren die Geschichten über seinen Namen, seine Taten und seine Abstammung, aber überall sprechen die Menschen von Maui oder Tikitiki mit Humor und Bewunderung. Er ist einer der beliebtesten mythischen Helden.
Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“ (Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie)
Es sei Zeit für eine „neue Mythologie“ postulierte der Philosoph, Schriftsteller und Altphilologe Friedrich Schlegel (1772-1829) in seiner 1800 erschienenen „Rede über die Mythologie“, die Teil des „Gespräch[s] über die Poesie“ ist, eine Mythologie, die es verstünde, „eine alle Schichten der Gesellschaft verbindende geistige Kultur zu realisieren“ (Stolzenberg, S. 73 ff.) und dabei die Poesie nicht nur als Mittel zum Zweck erkläre, sondern als höchste Instanz und Ausdrucksform des Realismus. „Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode“ (Schlegel, Rede. S. 174). In der Mythologie also, fließt alles zusammen. Die Frühromantik suchte nach einer Mythologie, die den philosophischen Reflexionsstand der Gegenwart veranschaulichte. Das, was die Natur und den Menschen antreibt, sollte ästhetisch greifbar gemacht werden. Eine utopische, wenn auch verständliche Sinnsuche, bedenkt man, dass mit der Aufklärung und dem rasanten Aufstieg der Naturwissenschaften das „Alte“, in dem sich vor allem die Religion verankert fand, zunehmend an Bedeutung verlor. Die Mythologie als Brücke also sollte es sein, als moderne Memoria und als Wegbereiterin des „Neuen“.
Auch in diesem Jahr war der Arbeitskreis für Vergleichende Mthologie e. V. aktiv an der Gestaltung des Wave-Gotik-Treffens 2019 beteiligt – unser Thema: Die Angst vor der Sterblichkeit in Goethes „Faust“.
Sie ist der ursprüngliche Katalysator der zweiteiligen Tragödie um den rastlosen Gelehrten, welcher einen Pakt mit dem Teufel eingeht und diesen letztendlich übers Ohr haut. Zahllose Szenen und einzelne Zitate wurden von uns regelmäßig und herzhaft diskutiert, interpretiert, in Kontext gesetzt. „Faust I“ zählt zu meinen Lieblingsstücken, aber durch unser diesjähriges WGT-Projekt lernte ich das Drama noch einmal von einer anderen Seite kennen. Oder vielleicht einer neuen Ebene.
Es ist wohl die bekannteste Geschichte um Verbot, Verführung und Vertrauensbruch des christlichen Abendlandes: Von allen Bäumen im Garten Eden durften Adam und Eva essen, außer von einem. Der “Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen” (1. Mose, 2:9) wird er genannt. Auf Einflüsterung der Schlange pflückt Eva aber doch eine Frucht von seinen Zweigen und teilt sie mit ihrem Mann, worauf das Menschenpaar des Paradieses verwiesen und die Erbsünde über die Menschheit gebracht wird.
American Gods, der Bestseller von Neil Gaiman, entführt den Leser in die Welt der Mythen und lädt damit eine Jungsche Analyse des Stoffes quasi mit offenen Armen ein.
Carl Gustav Jung, Begründer der analytischen Psychologie, dachte über die Psyche grundsätzlich holistisch nach und maß dem Mythos dabei erhebliche psychologische Bedeutung zu. Wohingegen modernere Therapieformen, wie die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), hauptsächlich darauf gerichtet sind, Symptome handhabbar zu machen, ging er davon aus, dass äußeren Fehlanpassungen innere Konflikte zugrunde liegen, die grundsätzlich befriedet werden können und im Mythos ihren Ausdruck finden. Im Unterschied zu dem Modell seines ursprünglichen Lehrmeisters und Kollegen Sigmund Freud, ist Jungs Modell weitgehend unpersönlich. Die eigene Historie, die in der Psychoanalyse nach Freud hinter den Störungen liegt, bildet in der analytischen Psychologie nur eine dünne Schicht, und den eigentlichen Kern des Pudels, kann man nur in Auseinandersetzung mit den sogenannten Archetypen aufspüren.
„Wie eine seltne Gegend ist dein Herz, Wo Masken, die mit Bergamasken schreiten, Zum Tanze spielen voll geheimem Schmerz Im Truggewand, mit dem sie bunt sich kleiden.
Obgleich in weichem Ton sie singen, wie Der Liebe Sieg dem Lebensglück sich eine, So glauben doch nicht an die Freude sie, Und ihr Gesang fliesst hin im Mondenscheine.
Im kalten Mondenschein, des trübe Pracht Die Vögel träumen lässt auf ihren Zweigen, Und der die Wasserstrahlen weinen macht, Die schlank aus weissen Marmorschalen steigen.“
(Paul Verlaine, Clair de Lune – Mondschein)
Es war ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für die Menschheit. Am 21. Juli 1969 betraten die Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin der Apollo 11 Mission als erste Menschen den Mond. Es war der Höhepunkt eines vom Kalten Krieg dominierten Duells zwischen den USA und der Sowjetunion: der Wettlauf ins All. Dabei sah es lange so aus, als hätte die Sowjetunion die Nase vorn, war es dem 1922 gegründeten föderativen Einparteienstaat doch seit den 1950er Jahren gelungen, zuerst den ersten menschengemachten Satelliten (Sputnik) in die Erdumlaufbahn und später die Sonden Lunik 9 und Luna 9 auf den Mond zu bringen. Vor allem der Sputnik-Erfolg löste in der westlichen Welt einen regelrechten Weltraum-Schock aus. Das Weltraumprogramm der USA wurde daraufhin zu einem Prestigeprojekt. Nicht nur Sonden und Satelliten wollte man ins All bringen. Der Mond sollte es sein! Und nach der ersten bemannten und erfolgreichen Mondumkreisung im Jahr 1968 war es an jenem Julitag vor 50 Jahren soweit. 384.400 Kilometer trennen Mond und Erde voneinander. Der Mensch hatte erstmals einen anderen Himmelskörper betreten. Ein wahrer Christoph-Columbus-Moment.
Einer der vorigen Blog-Beiträge behandelte die Rolle des Raben in der Mythologie der Nordwestküsten-Indianer – er ist einer der prominentesten Trickster in den indigenen Kulturen Nordamerikas. Mittlerweile bedienen sich die Indianer auch zeitgenössischer Medien, um die Trickstergeschichten zu erzählen. Im Jahr 2004 eroberte der Trickfilm Raven Tales: How Raven Stole the Sun die Leinwände indigener und internationaler Filmfestivals. Die Jury des ImagineNATIVE in Toronto kürte den 26-minütigen Trickfilm zur Best Television Production des Jahres. Auf dem American Indian Film Festival in San Francisco wurde er mit dem Best Animated Short Award ausgezeichnet. Weitere Preisverleihungen folgten und machten Raven Tales zu einer der erfolgreichsten Produktionen des Native American Film. Die mittels CGI (Computer-Generated Imaging) realisierte 3D-Animation wurde von dem Cherokee Chris James entwickelt und von den in Calgary ansässigen New Machines Studios in Zusammenarbeit mit dem Kwakwaka’wakw-Künstler Simon James produziert.
„Dunst ist die Welle, Staub ist die Quelle! Stumm sind die Wälder, Feuermann tanzt über die Felder!
Nimm dich in acht! Eh du erwacht, Holt dich die Mutter Heim in der Nacht!“
(Die Regentrude, Theodor Storm)
Liebe Leserinnen und Leser,
auch der Mytho-Blog bleibt dieser Tage von der Sommerhitze nicht verschont. Mir fällt dabei immer spontan das Märchen von der Regentrude aus der Feder des Schriftstellers und Lyrikers Theodor Storm (1817-1888) ein. Der Feuermann tanzt über die Felder und das Vieh verdurstet auf den Weiden. Nur durch ein magisches Sprüchlein und die Furchtlosigkeit eines Liebespaares, das sich durch eine fantastisch unwirkliche Landschaft kämpfen muss, die eher wie der Abstieg zur Hölle denn der Aufstieg in Himmel und Wolken anmutet, kann der Schlafbann, der über der Regentrude liegt, gebrochen werden. Noch immer habe ich die Märchenschallplatte dazu im Schrank stehen, und wenn mich bei diesen Temperaturen die Muße packt, hülle ich mich damit des Abends in wohliges Gruseln.
„I am half sick of shadows, said The Lady of Shalott.“
Ein einsames Leben in ihrer Burg auf der Insel Shalott, welche im Fluss nach Camelot, dem Schloss des sagenumwobenen König Arthurs liegt. Auf ewig dazu verdammt die Bilder der Außenwelt in ihrem magischen Spiegel zu betrachten und das Gesehene in ein wildes Geflecht zu weben – dies ist das Schicksal der Lady of Shalott („Die Dame von Shalott“). Nur dann und wann hören die Menschen auf den Feldern ihren Gesang herüberwehen, meist in den blauen Stunden des Abends. Dann flüstern sie von der Fee, der verwunschenen Dame, welche auf der wild bewachsenen Insel fern von allem lebt. Keiner hat sie je gesehen, noch weiß man, wer sie ist. Ein Fluch hindert sie daran, ihr Heim zu verlassen – auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünscht. Und es kommt, wie es kommen muss: Die Liebe wird ihr zum Verhängnis und führt sie in den Tod.
„Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt, Die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand; Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer; Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.“
(Adelbert von Chamisso, Das Riesenspielzeug)
Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als ich Das Riesenspielzeug zum ersten Mal entdeckte; in einer illustrierten, ziemlich zerfledderten Ausgabe, die allerlei deutsche Balladen zum Inhalt hatte und die auf „westliche“ Umwege in die DDR (genauer gesagt in das an der Elbe gelegene und ganz und gar nicht riesige, sondern vielmehr kleinbürgerliche Torgau) eingereist war. Bis heute ist die Ballade von Adelbert von Chamisso (1781-1838) aus dem Jahr 1831 einer der wenigen Texte, die ich aus dem Stehgreif zitieren kann, sobald ich das Wort „Riese“ höre. Riese, das weckt nicht nur die Assoziation eines Wesens, das sehr viel größer ist als man selbst, sondern auf gewisse Weise auch unerreichbar, mit großer Kraft ausgestattet, über der Welt stehend und diese auch aus einem ganz anderen Blickwinkel wahrnehmend. Etwas, das riesenhaft ist, wirkt unüberwindlich und lässt alles andere im Vergleich dazu klein und unbedeutend erscheinen. Riesen sind auch selten freundlich (geschweige denn menschenfreundlich), sieht man einmal vom „Big Friendly Giant“ (Disney, 2016) ab. Zudem werden die gigantischen Mythen- bzw. Fantasie-Zweibeiner öfter als dümmlich charakterisiert. Man denke da an den armen Grawp oder Grawpy aus Harry Potter, den Bruder des halbriesigen Rubeus Hagrid, der Hermine mit einer Fahrradklingel zu beeindrucken sucht. Im Grimmschen Märchen Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen kegelt der Protagonist gar mit den Köpfen von Riesen um die Wette.
Auf unserer mythischen, kulturellen und literarischen Spurensuche zum Trickster, die im Oktober 2018 begonnen hat, ist es an der Zeit einmal die „teuflische“ Seite jenes Wesens zu betrachten, das nicht so recht in die Ordnung der Welt passen will, diese jedoch mehr oder minder erfolgreich – in allen Fällen aber folgenreich – durcheinander zu wirbeln versteht. Was haben nun aber Satan, Beelzebub oder der Herr der Hölle mit dem Trickster zu schaffen? Der christliche Teufel, dieser gefallenen Engel und Widersacher Gottes, besitzt ja ohnehin einen eigenen und vor allem eigentümlichen Werdegang. Mithin scheint er sogar eine richtige Chimäre zu sein, wenn man ihn einmal über die theologische Deutung hinaus betrachtet …
Die Zeiten fließen ineinander im 2009 uraufgeführten Stück Trojan Barbie der in den USA lebenden Dramatikerin Christine Evans: unsere Gegenwart und die mythische Zeit. Lotte Greta Jones, eine englische Touristin, besucht die antiken Ruinenstätten in der heutigen Türkei, u. a. Troja – und landet unvesehens in einem Kriegsgefangenenlager. Die griechischen Truppen haben eben Troja erobert, die Stadt zerstört, die meisten Einwohner umgebracht und die für einen späteren Tod oder die Sklaverei aufgesparten Frauen und Kinder im Lager eingepfercht. Und mitten darin, mit Make-up und High Heels, in der Pose eines Filmstars (2. Szene): Helena, Gattin des Königs Menelaos von Sparta, die vor zehn Jahren mit dem trojanischen Prinzen Paris durchgebrannt ist und damit zumindest den Anlass für Krieg und Verderben geliefert hat. Dass sie nun selbst eine Kriegsgefangene ist, die eigentlich die Rache ihrer Landsleute und vor allem ihres gehörnten Gatten fürchten müsste, tangiert sie scheinbar nicht. Sie ist davon überzeugt, dass sie aus allem wieder herauskommt, weil ihr kein Mann widerstehen kann: Der griechische Soldat nicht, der ihr verbotener Weise Kopfschmerztabletten und Mineralwasser aus Armeebeständen besorgt (2. Szene), und nicht ihr Gatte – im Stück Oberkommandierender der griechischen Truppen –, den sie mit Lottes Handy anruft: „Liebling! Endlich! Das war ein schreckliches Missverständnis, und ich sterbe vor Sehnsucht nach dir … Zehn Jahre sind viel zu lang … Gut, dann können wir reden … Hier … Heute abend? … Ich habe dich so sehr vermisst …“ (8. Szene, Übers. Christoph Sorger). Sie wird es schaffen. Menelaos schließt sie in seine Arme und holt sie heraus (13. Szene) – und Lotte wird von einem anachronistischen deus ex machina gerettet, einem Angehörigen der britischen Botschaft (14. Szene).
Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens und das ist auch gut so. Wir brauchen den Schlaf zur körperlichen und seelischen Regeneration. Im Schlaf verarbeiten wir die Ereignisse des Tages, wir setzen uns mit Ängsten auseinander oder finden Lösungen für Probleme. Schlaf kann auch kreative Ideen freisetzen. Wenn wir schlecht schlafen, werden wir unausgeglichen, unsere Aufmerksamkeit ist herabgesetzt, wir sind müde, können uns schlechter konzentrieren und auch für unseren Körper bedeutet verminderter Schlaf (vor allem, wenn er anhaltend ist) Schwerstarbeit. Im schlimmsten Fall drohen Bluthochdruck, Herzinfarkte oder Depressionen. Die Liste der Krankheiten, die im Zusammenhang mit Schlafunregelmäßigkeiten auftreten, ist lang geworden. Allerdings gelten Schlaflosigkeit, schlechter Schlaf oder Probleme mit dem Einschlafen längst als Volkskrankheiten. Der Schlafzyklus jedes Menschen, ob wir also Eulen sind oder doch eher Lerchen, ist individuell. Und auch welche Einschlafrituale man wählt, um sich sprichwörtlich in Morpheus Arme gleiten zu lassen (aktuelle Studien empfehlen dafür u. a. den Verzehr von zwei reifen Kiwis), ist jedem von uns selbst überlassen. Allerdings gilt nach wie vor: der Schlaf ist (immer noch) an die Nacht gebunden. Wir brauchen also nicht nur den Schlaf, sondern auch die Dunkelheit zur Erholung.
wir freuen uns sehr, ankündigen zu dürfen, dass es die Essays des Mytho-Blogs nun auch in klassischer Buchform zu lesen gibt. Anlässlich des diesjährigen Wave-Gotik-Treffens in Leipzig haben wir fünf unserer Beiträge unter dem Titel „Über die Grenzen – Geschichten zwischen Oberwelt und Unterwelt“ publiziert. Weitere Texte sind in Arbeit.
Wenn Sie also nicht ausschließlich klicken und scrollen möchten, können sie sich über mythische Unterwelten, dem Wahnsinn verfallene Phantome, Geister, Glöckner, Kopflose Reiter und die Wilde Jagd ab sofort auch gemütlich auf dem Sofa informieren.
Denn Mythen kennen keine Grenzen.
Wir danken Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Treue!
Der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie lud am 28. Mai zu Lesung und Gespräch unter dem Titel „Zwischen Spiritualität und Alltag – Liebe, Erotik und Ehe in der Kultur Indiens“ in die Stadtbibliothek ein. Im Rahmen des Mottos „Liebe“, unter dessen leitenden Licht die Mythologen dieses Jahr segeln und sprechen wollen, wandte sich dieser Vortrag dem Themenkomplex durch die Augen einer anderen Kultur zu: nämlich der des traditionsgebundenen Indiens. Wie im Hinduismus Liebe wahrgenommen und deren Ausprägungen durch den kulturellen und religiösen Überbau geformt, genormt, begrenzt aber auch entfesselt werden, versucht die Indologin und Ethnologin Dr. Maria Schetelich dem Publikum nahezubringen. Und mit Erfolg. Die weiße Wand vor der die 1939 Geborene in Sprecherposition verfällt, verwandelt sich durch ihre lebhaften Erzählungen von romantisch-erotischen Gedichten und ihre kulturwissenschaftlichen Einblicke zu einer Projektionsfläche für die Farbvielfalt Indiens und zieht die Zuhörer in ihren Bann.
endlich ist es soweit. Pfingsten rückt näher und wir sind auch dieses Jahr wieder mit zwei Veranstaltungen im Programm des Wave-Gotik-Treffens in Leipzig dabei!
Da Organisation und inhaltliche Gestaltung uns diese Woche in Atem halten, fällt unser Beitrag etwas kürzer aus. Nächste Woche melden wir uns dann wie gewohnt freitags mit einem ausführlichen Blogpost zurück.
Es muss eine scheußliche Überfahrt von Riga nach London gewesen sein, die Richard Wagner im Jahr 1839 auf dem Schoner „Thetis“ (benannt nach der griechischen Meernymphe) hinter sich gebracht hat. Nicht nur die überstürzte Flucht vor seinen Gläubigern, sondern auch die Gewalten von Meer und Sturm, die das Schiff beinahe in Seenot geraten ließen, machten aus der Reise ein gefährliches Abenteuer, welches den Komponisten schließlich zur Schöpfung seiner 1843 uraufgeführten „Romantische[n] Oper in drei Aufzügen“ mit dem Titel „Der fliegende Holländer“ beflügelte. Spätestens seit den Kinofilmen „Fluch der Karibik“ dürfte beinahe jeder schon einmal von der „Flying Dutchman“ (in dieser Version bezogen auf den Namen des Schiffes) und der untoten Crew um den charismatisch-skrupellosen Kapitän Davy Jones gehört haben, deren Fluch sich auch durch eine äußerliche Verwandlung in Fischwesen vollzieht. Wie das Schiff unter spannungsgeladenem Musik-Getöse die Wasseroberfläche durchbricht, um sich auf die Jagd nach den Lebenden zu machen, lässt den Cineasten wohlig schaudern.
Unsere erste Rechenmaschine ist die Hand. Mit Fingern, das heißt digital, haben wir immer gerechnet. Seit wir aufrecht gehen, haben wir Zeit und Raum zum Bezeichnen und damit zum Zählen. Bis heute gibt es Kulturen, die mit Fingern, Händen und Zehen rechnen. Im Mittelalter etwa bedeutete der geschlossene Kreis zwischen Daumen und Zeigefinger 100. Die Scheiben oder Kugeln am Abakus können als ausgelagerte Fingerknöchel gedeutet werden.
Der Mensch ist ein messendes Wesen, er zählt oft und viel, um sich Orientierung zu verschaffen, etwas zu überprüfen oder zu verkaufen und einzukaufen. Er macht Kerben oder knotet Zahlen, schreibt an und berechnet die Erscheinungen des Mondes (lat. mens, der Monat). Im Deutschen sind Zählen und Erzählen ganz nah beieinander. Zählen heißt ursprünglich, eine Kerbe machen, eine Delle, ein Tal einschneiden, eine Markierung also im Raum. (Daraus wird über den Umweg des böhmischen Namens Joachimsthal eines Tages sogar der Taler und daraus wiederum der Dollar.) Erzählen wiederum folgt dem Präfix er-, was auf eine größere Bewegung in einem Raum verweist (erkunden, erforschen, erraten), nicht einfach auf einen Schnitt. Auch hier kommt die Hand ins Spiel, die das Erzählen begleitet durch Gestik, ja, Gefühle erweckt bei den Hörern, weil sie anrührt oder auch die Welt ertastet, die Erinnerungen beschwört. Das englische Verb to tell gibt noch deutlicher die Identität von erzählen (to tell a story) und zählen (to tell the time) preis.
Die Medizin der Vergangenheit mag uns heute fragwürdig vorkommen. Gerade wenn das ‚düstere Mittelalter‘ erwähnt wird, ein Zeitabschnitt, der immerhin fast eintausend Jahre einnimmt, fallen Begriffe wie Quacksalber und Aberglaube. Von Erkältungen, kleinsten Verletzungen seien die Menschen wie die Fliegen gestorben. Dass jedoch Ärzte an der großen Schule von Salerno im 12. Jahrhundert durch Bohrung erfolgreiche Operationen am offenen Gehirn durchführten, lässt so manchen innehalten. Dort florierte die fortschrittlichste Medizin, vor allem durch die Nähe zum arabischen Raum, welcher damals die hervorragendsten Ärzte hervorbrachte.
Nachdem ich im März auf Erkundungstour nach Pergamon gereist bin, führte mich eine erneute Reise dieser Tage in die anderen weiten Welten der griechischen und römischen Antike. Oder, womit mir eine Mitreisende aus dem Herzen sprach, in das schönste Museum der Berliner Museumsinsel: Das Alte Museum. Hätte ich je eine Statistik über meine bisherigen Berlinbesuche führen müssen, die beiden Etagen von Karl Friedrich Schinkels klassizistischem Bau mit den imposanten Reiterstandbildern „Amazone zu Pferd“ (von Alfred Kiß) und „Löwenkämpfer“ (von Albert Wolff) – seit 1999 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes – würden es tatsächlich unangefochten auf Platz eins schaffen.
„Am Kreuzweg feiert der Böse sein Fest, Mit Sang und Klang und Reigen: Die Eule rafft sich vom heimlichen Nest Und lädt viel luftige Gäste. Die stürzen sich jach durch die Lüfte heran, Geschmückt mit Distel und Drachenzahn, Und grüßen den harrenden Meister.“
Es ist tiefe Nacht. Lautlos wiegen sich die schemenhaften Gestalten von Bäumen und Büschen im Wind, matt beleuchtet vom Mondlicht. Doch plötzlich – ein Rauschen, die Luft erfüllt von Lachen, Schreien und wilden Gesängen. Auf Besen, Mistgabeln und Böcken kommen sie geflogen, um in der Nacht vor dem Tag der heiligen Walburga ihr ausschweifendes und gottloses Treiben abzuhalten: Hexen. Männer und Frauen, manche halbnackt, mit glänzenden Augen und vom Wind zerzausten Haaren. Zuerst sind es nur ein paar, doch rasch werden es immer mehr. Ein großes Feuer lodert auf der Lichtung des Berggipfels auf, Schatten tanzen im flackernden Licht der Flammen zu wilder Musik.
„Alles, was die Menschheit getan, gedacht, erlangt hat oder gewesen ist: es liegt wie in zauberartiger Erhaltung in den Blättern der Bücher aufbewahrt“, schrieb der schottische Philosoph, Essayist und Historiker Thomas Carlyle (1795-1881) im Jahr 1841. Seit jeher sind es Geschichten, Erzählungen und Mythen gewesen, welche die drei elementarsten Fragen überhaupt gestellt oder zu beantworten versucht haben: Wer waren wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Fragen, die auf den ersten Blick einfach erscheinen. Trotzdem gibt es darauf bis heute keine Antworten, die rundum befriedigen könnten, sind diese Antworten doch sowohl vom fachlichen Hintergrund (sei es nun Biologie, Geschichte, Sprachwissenschaft, Theologie, Philosophie, Physik etc.) desjenigen abhängig, der sich mit ihnen auseinandersetzt als auch von den jeweiligen Eigenerfahrungen des Schreibers. D.h. die Sicht auf das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ wie es Johann Wolfgang Goethe so wunderbar im ersten Teil des Faust formulierte, das „Waren“, das „Sind“ und das „Wohin“ also, ob nun mündlich überliefert oder als Buch verfasst, vermittelt und hinterlassen, kann nie nur objektiv sein, sondern besitzt stets auch einen subjektiven Part.
Der Tod und die Auferstehung liegen nah beinander. Nachdem am Montag die Bilder der brennenden, nicht erst durch Victor Hugos Roman bekannten Kathedrale von Notre-Dame de Paris um die Welt gingen, deren steinernes Skelett – glaubt man den Berichten – beinahe nicht hätte gerettet werden können, wächst nun von Tag zu Tag die Hoffnung auf einen raschen Wiederaufbau. In fünf Jahren soll die Rekonstruktion abgeschlossen sein, geht es nach dem Willen der Offiziellen; Jahrzehnte wird es mindestens brauchen, dämpfen Experten die von Schock und Fassungslosigkeit überlagerte Euphorie. Wie lange die Erneuerung tatsächlich dauert, wird wieder einmal die Zeit zeigen. Es entbehrt allerdings nicht der Tragik, bedenkt man, dass das Unglück ausgerechnet vor Ostern, dem wichtigsten Fest der Christenheit, seinen Lauf genommen hat.
Wale spielen in der Kultur von Bewohnern meeresnaher Gebiete und Inseln eine große Rolle. Den Nordwestküsten-Indianern gilt der Wal als ein Wesen mit besonderen und übernatürlichen Kräften. Die südlichen Stämme – Nuu-chah-nulth, Makah, Quinault und Quileute – waren die Einzigen, die die großen Meeressäuger jagten, bevorzugt Buckel- und Grauwale. Andere Kulturen verwerteten lediglich gestrandete Tiere. Die Bedeutung des Wals war nicht nur ökonomisch begründet: Er lieferte auf einmal eine große Menge Nahrung und war auch im sozialen und religiösen Leben verankert. Als kommerzielle Walfänger die Grauwale in den 1920er Jahren fast ausrotteten, gaben die Indianer ihre traditionelle Waljagd auf. Seit 1994 stehen Nordpazifik-Grauwale nicht mehr auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Seitdem versuchen die Nuu-chah-nulth und Makah, ihre Walfangtradition wiederzubeleben.
Die Pariser Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Theater wird von einer schattenhaften Gestalt heimgesucht, welche das abergläubische Theatervolk „Das Phantom der Oper“ nennt. An diesem Punkt setzt das vermutlich erfolgreichste Musical aller Zeiten an.
Es erzählt die Geschichte der jungen Sängerin Christine Daaé, deren unsichtbarer Gesangslehrer, ihr „Engel der Muse“ (im Englischen Angel of Music), sich als das berühmt-berüchtigte Phantom der Oper entpuppt. Dieser ist jedoch weder unsichtbar noch körperlos, sondern ein geheimnisvoll maskierter Mann von musikalischem und technischem Genie. Und unsterblich in Christine Daaé verliebt. Als der junge Raoul, Vicomte de Chagny, ein Kindheitsfreund Christines, die Gönnerschaft für die Oper übernimmt, spitzt sich eine dramatische Dreiecksbeziehung zu, die nur tragisch enden kann. Ein bildgewaltiges Werk über Liebe, Hass und die Abgründe des Menschlichen.
Als ich 1996 auf einem Schulausflug das Pergamonmuseum in Berlin zum ersten Mal erkunden durfte, gab es nur eine Reaktion, um den Augenblick zu beschreiben, als ich den Altarraum betrat: ungläubiges Staunen, gefolgt von abwechselnder Begeisterung und dem Gefühl, irgendwie „klein“ zu sein. Noch heute finde ich keine Worte für das Empfinden von damals. Was bleibt auch zu sagen, wenn man sich plötzlich Auge in Auge mit Architektur und Mythen aus über 2000 Jahren Menschheitsgeschichte gegenübersieht? Natürlich kannten wir die Antike aus dem Unterricht. Und hin und wieder begegnete uns die eine oder andere klassizistische oder renaissanceangehauchte Zeichnung in einem Buch für Kunsterziehung (und ja, die Wende-Zeit war da längst vorüber). Aber die Dinge in realis zu sehen ist, wie immer, eine vollkommen andere Erfahrung, als sie zweidimensional auf Papier gepresst vorzufinden. Das also war die Museumsinsel von Berlin. Das also war der Ort, der die Zeugnisse einer antiken Stadt bewahrte, deren Blütezeit längst vergangen war. Und es sollten in den angrenzenden Räumen noch weitere Beispiele aus versunkenen Zeiten folgen: das Markttor von Milet, das Ishtar-Tor von Babylon, Gräber und Reliefs aus dem Zweistromland (Mesopotamien), Kunst aus dem Islam, Münzen, Götterstatuen, Porträts und und und. Die alte Welt konserviert in Räumen. Und jeder ist eingeladen, diese zu besuchen; einzutauchen in eine andere Welt, die dennoch unsere Welt ist.
das Team vom MYTHO-Blog bedankt sich ganz herzlich für Ihr Interesse an unseren Themen und Beiträgen. Mythen sind ein so weites und tief verwurzeltes Gebiet, dass uns die Auswahl oft nicht leicht fällt. So vieles ist erzählenswert und verbirgt sich im Alltäglichen, ist vergessen oder wird viel zu selten wahrgenommen. Mythen sind wie kleine Reisen. Nicht nur zu uns selbst, sondern vor allem auch in die Literatur und damit in die Welt der Bücher.
In dieser Woche ist unser Team auf einer solchen Bücherreise. Daher muss der Blog aufgrund der Leipziger Buchmesse leider entfallen. Aber keine Bange. Ab nächsten Freitag sind wir wie gewohnt mit spannenden, skurilen, nachdenklichen und (hoffentlich) lehrreichen Themen zurück.
Genießen Sie den mythischen Frühlingsbeginn. Vielleicht bei einem Buch.
Der Begriff „Unterwelt“ weckt in uns verschiedenste Assoziationen. Manch einer verbindet damit etwas Düsteres, Kriminelles; eine Parallelwelt, in der Menschen leben und wirken, die sich einen eigenen Raum fernab gängiger Normen und Gesetze geschaffen haben. Für andere bedeutet „Unterwelt“ ein Ort unter Tage, fernab vom Licht, bedrückt von Enge und Mangel an frischer Luft, wie es über Jahrhunderte lang im Kohle- und Erzbergbau der Fall gewesen ist. Die „Unterwelt“ ist also eine räumliche Abgrenzung von der Welt, die wir kennen, die den Besucher mit besonderen Begebenheiten und Ansprüchen konfrontiert. In kultureller und mythischer Deutung ist sie auch die Welt, in der die Seelen der Verstorbenen nach dem Tod einziehen und leben, ein Reich, das für den Sterblichen verschlossen bleibt. Sie ist eine Vorstellung, ein Konstrukt, das wir uns in Geschichten und Legenden imaginieren und bevölkern. Vielleicht, um uns dadurch unsere Angst vor dem Dunkeln (und die Unterwelt wird mit Dunkelheit per se in Verbindung gebracht), dem Unbekannten, dem Unterbewussten in uns selbst und in unserer Umwelt einen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht auch, um uns das Wissen um den Tod, der letzten Schwelle zum Unbekannten, die uns allen vorherbestimmt ist, erträglicher zu machen. Der Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung (1875-1961), hat die „Unterwelt“ mit den sogenannten Mutterarchetypen in Zusammenhang gebracht; das Gebärende, Fruchtspendende und Leben bringende einerseits, schließt andererseits das Geheime, das Finstere, Todbringende und Abgründige wie in einem Kreislauf mit ein. Oder, wie es die Alchemisten, ausgehend von ihrer mythischen Schrift, der Smaragdtafel des Hermes Trismegistos, auszudrücken wussten: Das Oberen ist das Untere. Das eine existiert nicht ohne das andere. Das passt in die dualistische Vorstellung, die dem Menschen zu eigen ist, man denke da an Gut und Böse, Groß und Klein, Laut und Leise, Himmel und Hölle, Schwarz und Weiß etc. Und so muss es – fast zwangsläufig – neben der Oberwelt auch einen Ort jenseits davon geben.
Lasst uns vom Wind erzählen. Ich gebe zu, würde mich jemand fragen, was der Wind ist, würde mir im ersten Moment keine passende Antwort einfallen und im zweiten Moment vermutlich das Zitat aus Hänsel und Gretel: „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“. Zum einen, weil es ein bekannter Reim aus einem bekannten Märchen ist. Zum anderen, weil dem Wind, lässt man sich die Worte einmal gründlich auf der Zunge zergehen, tatsächlich etwas Kindliches anmutet. Er ist verspielt. Er ist unberechenbar. Ist er ausgeglichen, beglückt er uns mit einem lauen Lüftchen. Ist er aufgewühlt, stürmt und tobt er. Ist er traurig, heult er. Und ist er zufrieden, säuselt er. Wind ist im Grunde ständig um uns. Wir sehen von ihm aber nur seine Wirkung auf die sichtbaren Dinge und auf uns selbst. Sein Wesen, seine Gestalt ist für uns – mit Ausnahme von Tornados oder Superstürmen – weitgehend unsichtbar. Wind ist bewegte Luft und Luft brauchen wir zum Atmen und für die Erhaltung unserer Existenz.
„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Dies ist die Lebensbeschreibung und die Legende der gottseligen St. Elisabeth, der Tochter des edlen Königs von Ungarn, die nach Gottes Willen und Fügung mit dem edlen Fürsten Landgraf Ludwig von Thüringen vermählt wurde.” (Leben und Legende, S. 7)
Mit diesen Worten beginnt der Dominikaner Dietrich von Apolda (vermutlich 1230-1302) seine Vita, welche zwischen 1289 und 1291 entstand: die Vita der heiligen Elisabeth von Thüringen. Diese schillernde Gestalt des Mittelalters, heilige Landespatronin von Thüringen und Hessen, erfährt hier eine Aufarbeitung im Sinne von “Leben und Legende”: neben den Fakten finden sich viel Erzählstoff und Geschichten um die Person Elisabeth von Thüringen, die zur Bildung eines unverkennbaren Mythos führten.
„Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue Körper, so treibt mich der Geist. Ihr Götter, da ihr sie gewandelt, Fördert mein Werk und lasset mein Lied in dauerndem Flusse Von dem Beginne der Welt bis auf meine Zeiten gelangen!”
(Ovid, Metamorphosen, Buch 1, Vs. 1-4)
Alles um uns herum befindet sich in steter Veränderung. Jeder Aspekt unseres menschlichen Lebens führt uns das Tag für Tag vor Augen, und dennoch tun sich die meisten Menschen mit Veränderungen eher schwer. “Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefasst sein”, sagte Johann Wolfgang von Goethe, wobei er wohl eher auf den eben beschriebenen, täglichen Umgang mit dem steten Fluss des Neuen anspielt, als die Verwandlung einer jungen Frau in eine Kuh.
Es ist ein farbenfrohes, grausames Bild, das der berühmte französische Schriftsteller Victor Hugo (1802-1885) in seinem historischen Roman Der Glöckner von Notre-Dame (1831) kreiert. Schauplatz ist das spätmittelalterliche Paris an der Schwelle zur Neuzeit, auf dessen Bühne er individuelle Schicksale, geschichtliche Hintergründe und Lebenskultur des 15. Jahrhunderts miteinander verbindet.
Seine Darstellungen der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit, der Gewalt gegenüber Andersgläubigen und Menschen mit körperlicher Behinderung instrumentalisiert Hugo als eine Kritik an rückständigen gesellschaftlichen Konventionen sowie Vorurteilen und drückt Verurteilung der Todesstrafe und der Folter aus. Durch die Charakterzüge und Handlungsweisen seiner Figuren führt er uns vor Augen, wie tief die Verbindung von körperlicher und innerer Schönheit als Ideal unser Denken bestimmt. Dieser Konflikt taucht immer wieder auf und wird als solcher vom wenig attraktiven Glöckner Quasimodo aus seiner Sicht geäußert: „Was nicht schön ist, hat kein Recht zu sein; / Schönheit liebt allein nur Schönheit, / Dem April zeigt Januar den Rücken.“ (S. 447)
Die Welt ist rot und besteht aus Herzen. Dieser Eindruck zwingt sich einem unmittelbar auf, schaut man dieser Tage ins private Mail-Postfach, wo sich die Werbungen tummeln. Dasselbe gilt für den Marsch durch Einkaufspassagen oder – der Konsumapathie zum Trotz – für den Besuch von Cafés, Drogerien, Kaufhäusern. Von den tausenden um tausenden Internetseiten ganz zu schweigen. Herzen. Bärchen. Rosen. Schokolade. Kissen. Kitsch. Es ist überall. Und wir ahnen es: Der Valentinstag steht bevor. Der Tag der Verliebten, an dem man sich besonders lieb hat (oder lieb haben sollte), was für die restlichen 364 Tage des Jahres hoffentlich genauso gilt.
Dabei ist es um den Festtag des heiligen Valentin, der am 14. Februar begangen wird, nicht gar so romantisch bestellt, zumindest nicht bis ins 14. Jahrhundert. Denn erst im Spätmittelalter erkor man den Tag, den Papst Gelasius I. im Jahre 496 offiziell als Gedenktag eingeführt hatte, als geeignet für das Fest der höfischen (und später der romantischen) Liebe. Die Süßigkeiten, Blumen und Liebesbekundungen sind sogar erst seit dem 18. Jahrhundert in Gebrauch. Auch begann um diese Zeit die Tradition, dem oder der Liebsten kleine Grußgarten zu senden, die sogenannten „Valentines“. Sogar Schlüssel erfreuten sich großer Beliebtheit, symbolisieren sie doch das Aufschließen des Herzens. Sogar an Kinder wurden sie verschenkt. Allerdings nur indirekt als Liebesbeweis, denn man sagte Schlüsseln nach, sie könnten die „Valentins-Krankheit“ abhalten. Damit war die Epilepsie gemeint, denn der heilige Valentin von Terni (3. Jahrhundert n. Chr.) wurde bei Krankheiten (allen voran der benannten „Fallsucht“), um Beistand angerufen.
Allerdings war eben dieser Valentin nicht der einzige Valentin oder Valentinus. So gab es noch einen Valentin von Rom. Dieser war Priester und erlitt um 269 n. Chr. eben dort den Märtyrertod. Sein Begräbnisort, die Kirche San Valentino in Rom, galt bis zum Ende des Mittelalters als wichtiger Wallfahrtsort. Der bereits erwähnte Valentin von Terni wiederum war Bischof und erlitt das Martyrium um 273 n. Chr., nachdem er Kranke geheilt und christliche Taufen vollzogen hatte. Es wurde lange vermutet, dass es sich bei beiden um ein und dieselbe Person gehandelt haben könnte, unabhängig davon, dass in verschiedenen Kirchen Roms oder in Terni Reliquien von ihnen aufbewahrt und verehrt werden. Der endgültige Beweis darüber steht allerdings noch aus. Zudem erwähnt die „Katholische Enzyklopädie“, ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts publiziertes Nachschlagewerk zum katholischen Glauben, einen dritten Valentin, der angeblich in Afrika das Martyrium erlitt und über den ansonsten nicht viel bekannt ist.
„Wer den Gong ertönen läßt, dem erscheinet sie sofort! Weiß wie Jade, kalt wie Stahl: das ist die schöne Turandot!“ (Turandot, Giacomo Puccini, Libretto)
Als der italienische Komponist Giacomo Puccini im Jahr 1920 zusammen mit dem Liberettisten Guiseppe Adami und dem Dramaturgen Renato Simoni über dem Stoff seiner sechs Jahre später uraufgeführten Oper „Turandot“ zu brüten begann, schrieb er Letzterem geradezu hoffnungsvoll: „machen wir ein Märchen, gefiltert durch unser modernes Gehirn!“ Das Märchen lag dem Kreativ-Trio zu dieser Zeit längst vor, u. a. in Form des Theaterstücks „Turandot“ von Friedrich Schiller (1802 uraufgeführt), welches auf einer Vorlage des italienischen Theaterdichters Carlo Gozzi aus dem Jahr 1762 beruhte. Darüber hinaus war dem Stoff bereits eine Reihe von Vertonungen vorausgegangen. Franz Seraph Destouches, Carl Maria von Weber, Antonia Bazzini sind nur einige der Namen, die sich der Geschichte annahmen. Daher war sich Puccini unsicher, auf welche Weise er den bereits bekannten Stoff zum Leben erwecken sollte. Am ehesten schien ihm dies über die Psychologie der Figuren möglich, mehr noch über die Gefühle. „Sie müssen das Letzte an Gefühl und Rührung herausholen … und sie können die rechten Verse finden!“, schreibt er an Adami. „[Der] Liebesausbruch muss wie ein leuchtender Meteorstein unter die rufende Volksmenge fallen, die mit gespannten Nerven … das Fluidum der Liebe begeistert aufnimmt.“
Alles sei voll von Göttern, soll der griechische Philosoph Thales von Milet (6. Jahrhundert v. Chr.) gesagt haben. Er blieb damit, auch wenn er dieser Behauptung eine abstraktere, nicht-wörtliche Bedeutung gegeben haben mag, der Weltsicht seiner Zeitgenossen verbunden. In der Tat fassen polytheistische Weltbilder – und die alten Griechen waren ja Polytheisten – ihre Götter nicht als transzendente Wesenheiten auf, die der Welt gegenüberstehen, sondern als Teil der Welt. Und in diesem Sinne hatte das, was wir Natur nennen, teil am Göttlichen, und Götter wirkten auch hinein in die Lebensvollzüge der Menschen. Sie wachten über die einzelnen Lebensbereiche, wenngleich sie häufig zu komplexe Gestalten waren, als dass man sie restlos mit einer Funktion hätte identifizieren können. Für das, was man im weitesten Sinne Liebe nennen kann, waren zwei Gottheiten zuständig: Eros (Liebesbegehren) und Aphrodite. Sie haben die Antike überlebt und sind nicht zuletzt durch die Kunst des Abendlandes bis heute populär: die schöne junge Frau und ihr knabenhafter Begleiter, der meist mit Pfeil und Bogen und oft auch geflügelt dargestellt wird. Freilich sind sie auf ihrem langen Weg auch zu puren Versinnbildlichungen, zu Allegorien geworden. Für die antike Welt aber waren sie mehr.
Wenn wir von Liebe sprechen, verbinden wir mit ihr das intensive Gefühl von Zuneigung, Geborgenheit, Aufgehobensein, Verbundenheit, das sich im menschlich-emotionalen Erklärungskanon nicht mehr steigern lässt. „Es ist was es ist sagt die Liebe“ in Erich Fried’s (1921-1988) bekanntem Gedicht und würde man eintausend Menschen darüber befragen, würde man wohl eintausend verschiedene Antworten erhalten. Denn Liebe ist nicht nur der romantische Höhepunkt jeder Paarbeziehung, so wie sie in Medien, Dichtung, Romanen, Liedern oder Kunst im Regelfall proklamiert wird. Liebe kann sich auch auf Gruppen beziehen, auf die Familie, Geschwister, Freunde, zu Tieren, Natur etc. Es gibt kein Limit für Liebe.
„Once upon a midnight dreary, while I pondered,
weak and weary, Over many a quaint and curious volume
of forgotten lore, While I nodded, nearly napping,
suddenly there came a tapping, As of some one gently rapping, rapping
at my chamber door. ‚‘Tis some visitor,‘ I muttered, ‚tapping
at my chamber door – Only this, and nothing more.‘“
Trickster sind eine paradoxe Sippschaft. Mythische Wesen, die irgendwie Götter sind, andererseits aber auch wieder außerhalb der Götterwelt stehen, die in Menschen- und Tiergestalt auftreten, aber auch ihre Erscheinungsform ändern können. (Mit-)Schöpfer und Ruhestörer, Kulturbringer und Feinde jeder Ordnung, Schelme und Schurken, hilfreich und zugleich gefährlich, klug bis zur äußersten Raffinesse und dann wieder so überschlau, dass sie über die eigenen Füße stolpern und am Ende als betrogene Betrüger dastehen. Im späten 19. Jahrhundert sind sie als Typus in den Mythologien nordamerikanischer Indianervölker sozusagen entdeckt worden und haben ihre Bezeichnung erhalten: „Trickster“, was im Englischen Schwindler, Gauner, Schelm usw. bedeutet. Seitdem haben sich Ethnologen und Religionswissenschaftler bemüht, sie zu klassifizieren und zu definieren. Mit dem Ergebnis, dass sie in keine Kategorie passen. Dafür aber hat man auch in den überlieferten Vorstellungswelten anderer Kontinente mehr und mehr Trickster-Figuren ausfindig gemacht – auch außerhalb rein mythologischer Kontexte. Es handelt sich also um ein universales Phänomen von außerordentlicher Bandbreite. Der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie hat diesem unter dem Titel „Schöpfer, Schelm und Schurke – Der Trickster im mythologischen Zwielicht“ (2018) eine eigene Publikation gewidmet.
Erneut rumort es im Mongibello (gelegen zwischen den sizilianischen Städten Messina und Catania), den die meisten von uns als Ätna kennen. Seit Weihnachten spuckt der aktivste Vulkan Europas Asche und Lava. Experten prognostizieren gar das Bevorstehen eines größeren Ausbruchs. Erdbeben, Flugausfälle, Evakuierungen. Viele erinnern sich vielleicht noch an das Spektakel von 2010. Damals war es der Eyjafjallajökull an der Südküste von Island, der mit seinen Eruptionen vor allem die Geduld der Flugreisenden strapazierte. Im Gegensatz zum Ätna liegt der Eyjafjalla weistenstgehend abseits von Städten und Siedlungen. Von einer neuen Magmakammer unter dem „Gutmütigen“ gehen die Forscher derzeit aus und in der Tat, sind spontane, exposionsartige Eruptionen am Ätna, wenn auch vorhanden, in den historischen Aufzeichnungen eher seltener Natur. Sein italienisches Pendant, der Vesus (gelegen am Golf von Neapel), hat es aufgrund seines verheerenden Ausbruchs im Jahr 79 n. Chr. (überliefert vom römischen Schriftsteller Plinius dem Jüngeren), bei dem die antiken Städte Pompeji, Herculaneum, Oplontis und Stabiae verschüttet wurden, zu wesentlich traurigerer Berühmtheit gebracht. Aus dem 12., 17. und 18. Jahrhundert sind weitere heftige Ausbrüche des Vesuvs bekannt; der zuletzt dokumentierte fand im Jahr 1944 statt.
es ist wieder soweit. The same procedure as every year. Silvester. Der letzte Tag des Jahres. Manch einen mag Wehmut über das Vergangene befallen. Manch einer ist froh, den „gesammelten Altkram“ hinter sich zu lassen. Silvester ist die Zeit des Abschlusses. Der Vorsätze. Der Pläne. Des greifbaren Neuanfangs.
Wie Sie an diesem Abend und in dieser Rauhnacht auch feiern mögen, ob im Familienkreis oder mit Freunden, ob mit lauter Partymusik oder eher klassisch, ob sie dem Feuerwerk frönen oder dem Lärm eher fernbleiben, das Team vom Mytho-Blog bedankt sich herzlich für Ihr Interesse an unserer Seite und unseren Artikeln. Natürlich werden wir uns auch weiterhin bemühen, Sie freitags regelmäßig mit mythischen, volkskundlichen, literarischen, philosophischen, historischen und wissenschaftlichen Besonderheiten zu versorgen.
Die Tannenbäume sind geschmückt. Die Lieder sind gesungen. Die Geschenke sind verteilt und der Weihnachtsmann hat seine Aufgabe vollbracht. Wir befinden uns in der Zeit zwischen den Jahren, die einerseits noch zum alljährlichen Dezemberfestkanon zählt, andererseits aber gefühlt losgelöst zwischen dem zu Ende gehenden Alten und dem in den Startlöchern rumorenden Neuen steht. Grund genug, diese Tage und vor allem ihre Nächte im letzten Teil des diesjährigen Weihnachtsspecials ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen.
Dunkelheit, Finsternis, Schwarz, Nacht. Seit jeher ist die Zeit nach dem Sonnenuntergang Stoff für Geschichten, Phantasie, Furcht, Träume, Kreativität, Gedanken, Geheimnisse und Mythen gewesen. Alles, was der Tag verbirgt, wird in der Nacht aufgedeckt. Es sind die Stunden, in denen Geister oder Wesen der Anderswelten umgehen. Das Christentum assoziierte die Nacht lange mit dem Tod und dem Bösen. Die Zeit der Dämonen. Die Zeit des Teufels. Vor allem die Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens, der Übergang zwischen den Tagen, war es, die man als besonders furchtbringend, unheilvoll oder auch schicksalhaft betrachtete. Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat es in seinem „Nachtwandler-Lied“ aus der Schrift Also sprach Zarathustra treffend zusammengefasst: „Oh Mensch! Gieb Acht!/ Was spricht die tiefe Mitternacht?/ ‚Ich schlief, ich schlief -, Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -/ Die Welt ist tief, / Und tiefer als der Tag gedacht.“
“Frohe Weihnachten! Mit welchem Recht bist du froh? Aus welchem Grund bist du froh? Du bist doch ganz arm!“ “Na komm”, versetzte der Neffe freudig. „Mit welchem Recht bist du trübsinnig? Aus welchem Grund bist du mürrisch? Du bist doch ganz reich!” (14)
Wir schreiben das viktorianische London. Arm und Reich leben durch einen tiefen Abgrund getrennt und doch dicht gedrängt in der, von den schwarzen Rauchwolken der Industrie überspannten Metropole. Allen täglichen Kämpfen und Sorgen zum Trotz liegt so etwas wie freudige Erwartung in der Luft. Denn es ist der 24. Dezember, der Tag vor dem Weihnachtsmorgen. Als Ebenezer Scrooge – alt, bitter und steinreich – die Zeit damit verbringt, seine ablehnende Haltung zum Weihnachtsfest kund zu tun und anderen die Freude gründlich zu verderben, hat er noch keine Ahnung, dass die vor ihm liegende Weihnachtsnacht alles verändern wird.
Ich bin im Vogtland geboren und aufgewachsen. Wer jetzt nicht weiß, wo das liegt (denn die meisten tun es nicht), es handelt sich dabei um die Region im Südwesten von Sachsen, die aber auch Gebiete von Bayern, Thüringen und Böhmen umfasst. Der Historiker Enno Bünz beschreibt sie folgendermaßen: „Unter den Kulturlandschaften Sachsens, … ist das Vogtland die kleinste, die freilich über ein ausgeprägtes, historisch gewachsenes Regionalbewusstsein verfügt.“ Das ist eine diplomatische Art auszudrücken, dass so manche aus dieser Gegend sofort jeden berichtigen, der sie als „Sachsen“ bezeichnet; sie seien keine Sachsen, sondern Vogtländer. Und die sind im allgemeinen als „kleines, zänkisches Bergvolk“ verschrien.
„Morgen kommt der Weihnachtsmann, Kommt mit seinen Gaben.“
So viele Bräuche und Traditionen ranken sich um die Adventszeit und das Weihnachtsfest. Am 6. Dezember bringt der Nikolaus für gute Kinder mit blankgeputzen Schuhen kleine Gaben, und mancherorts hat er seinen grausigen Gegenpart Krampus im Schlepptau, um unartige Kinder das Fürchten zu lehren. Der Nikolaustag ist, in gewissem Sinne, die Vorhut für das eigentliche Weihnachtsfest.
Ein Symbol der Weihnachtszeit
Bei manchen kommt er durch den Schornstein und packt die Geschenke unter den Weihnachtsbaum, bei anderen füllt er diese in Strümpfe, die am Kamin hängen. Und wieder in anderen Fällen kommt er am Heiligen Abend zu Besuch und bringt sie vor den Augen aller vorbei. Von Land zu Land, von Region zu Region, manchmal sogar von Familie zu Familie, variieren die Bräuche des weihnachtlichen Schenkens, doch meist gibt es nur einen, der dafür verantwortlich ist. Die Rede ist vom Weihnachtsmann, in unserer heutigen Zeit DER Weihnachtsfigur schlechthin.
haben Sie Schuhe geputzt oder Teller aufgestellt? Am 6. Dezember geht der Nikolaus wieder um, dieses Jahr sogar an einem Donnerstag. (Achtung, Achtung: Besondere Vorsicht ist an diesen Dezemberwochentagen geboten!) Man sagt ihm nach, dass er sauberes Fußwerk besonders schätzt. Außerdem ist er auf seinen adventlichen Streifzügen nicht allein unterwegs. Wer ihn begleitet und warum, diesen Fragen wollen wir im zweiten Teil unseres Weihnachtsspecials nachgehen.
wieder einmal ist es soweit: Das Jahr geht zu Ende. Der Winter hält (dem Klimawandel zum Trotz) allmählich Einzug. Die Tannenbäume werden geschlagen und die aus dem post-modernen Brauchtum nicht mehr wegzudenkenden Weihnachtsmärkte mit Glühwein, Gedrängel, Fressbuden, Kräppelchen, Riesenrad und den hier und da doch noch auffindbaren Kunsthandwerksbuden öffnen den Weihnachtshungrigen die Pforten.
Advent, Advent … Da es uns leider nur symbolisch möglich ist, für alle unsere Mitglieder, Freunde, Interessierten, Mythenliebhaber, Kultursüchtigen, Abonnenten, Leseratten und Neugierigen ein Lichtlein auf dem Adventskranz anzuzünden, soll unser Weihnachtsspecial alle über den Feiertagsstress bis ins neue Jahr begleiten. Von bösen Nikoläusen wird zu lesen sein. Von fleißigen Weihnachtsmännern. Festtagsbräuchen. Weihnachtsgeistern. Wilden Jägern. Und verstorbenen Päpsten. Natürlich wie immer gespickt mit allerlei Mythischem, Kulturhistorischem und natürlich mit Literatur!
Stellen Sie sich vor: Ihr Wissen, Ihre Gedanken, Ihre Meinungen und Ansichten, Ihre Träume und Vorstellungen, ja sogar Ihre Gefühle – also alles, was Sie sind und was Sie ausmacht, wäre auf einer Disc gespeichert, die kaum größer ist als die Speicherkarte einer Digitalkamera. Ein Stick für das Backup Ihres Selbst. Sie könnten den Körper wechseln, wann und wie Sie es wollten. Nie wieder Krankheiten. Nie wieder gebrochene Knochen. Nie wieder Angst vor dem Tod. Sie wären unsterblich. Geht nicht, sagen Sie? Doch, sage ich. Die Serie „Altered Carbon“ (Netflix, 2018), basierend auf dem gleichnamigen Roman von Richard Morgan, stellt „das Unsterblichkeitsprogramm“ in der dystopischen Welt des 24. Jahrhunderts vor und outet sich dabei als ein Hybrid aus Blade Runner und Ghost in the Shell. Im Mittelpunkt stehen dabei die sogenannten „Meths“ (in Anspielung auf Methusalem, den Großvater Noahs, der dem Alten Testament zufolge 969 Jahre alt geworden sein soll). Durch den Kauf von Körpern oder mit Hilfe von Klonen verlängern sie ihr Dasein über Jahrhunderte hinweg. Doch das ewige Leben hat sie skrupellos gemacht, vergnügungssüchtig und abgestumpft gegenüber dem Leben. Den Meths gegenüber stehen all jene Menschen, die sich entweder keine oder nur standardisierte neue „Körper“ leisten können. Manche müssen mit dem Vorlieb nehmen, was sie bekommen. Andere lehnen einen neuen Leib aus religiösen Gründen ab und verbringen die Ewigkeit gefangen in immer wiederkehrenden Träumen oder in einer holografisch erzeugten Welt. „Altered Carbon“ ist Science-Fiction. Krimi. Und ein Stück weit Philosophie. Was ist der Mensch? Was ist Seele? Was ist Körper? Und was davon ist wichtiger? Sind wir tatsächlich die Schöpfer einer unendlichen Existenz oder durch die Unsterblichkeitssticks am Ende selbst zu Geschöpfen in endlichen und künstlichen Hüllen geworden?
Und dann war es endlich vorbei. Um 12 Uhr ertönte an allen Frontabschnitten, an denen noch gekämpft worden war, ein Trompetensignal, und die Waffen schwiegen. Man schrieb den 11. November 1918. Der Erste Weltkrieg war nach vier Jahren Dauer mit einem Waffenstillstand zu Ende gegangen, auch wenn es bis zum Abschluss von Friedensverträgen noch ein weiter Weg sein sollte. Ungefähr 65,8 Millionen Soldaten hatten in Belgien und Frankreich, in Ostpreußen, Galizien, Rußland, auf dem Balkan, in Norditalien, in Mesopotamien, Palästina und auf der Arabischen Halbinsel gekämpft, aber auch in deutschen Kolonien in Afrika und Ozeanien. Auf der einen Seite standen die Mächte der Entente, d. h. Frankeich, England und Russland, sowie Italien, Japan und weitere Verbündete, nicht zu vergessen Truppen aus den französischen und britischen Kolonien, aus Kanada, Australien und Neuseeland, und 1917 auch die USA. Ihnen gegenüber standen die so genannten Mittelmächte Deutschland und die multinationale Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, denen sich bald das Osmanische Reich anschloss, das außer der Türkei und Albanien den ganzen Nahen und Mittleren Osten umfasste, sowie Verbündete. Bilanz: rund zehn Millionen Gefallene und 15 bis 21 Millionen dauerhaft duch Verletzungen Geschädigte.
Es ist wieder soweit! In den Kinos flimmern zum zweiten Mal die „Phantastischen Tierwesen“ der britischen Autorin und „Mutter von Harry Potter“, Joanne K. Rowling, über die Leinwand und begeistern große und kleine Zauberer und Hexen, sorry, Zuschauer, natürlich. Da gibt es den süßen Niffler, eine Art bepelztes Schnabeltier mit körpereigenem Kängurubeutel, in den er alle glitzernden und glänzenden Sachen stopft (vorzugsweise Münzen, Goldbarren und Schmuck), die er in seine Pfötchen bekommt. Ebenfalls mit von der Partie ist der Bowtruckle Pickett, der Ähnlichkeit mit einem grünen Miniatur-Baum-Insekt aufweist. Auf Bäumen lebt seine Art denn auch, bevorzugt in solchen, die sich für die Herstellung von Zauberstäben eignen. Von Bowtrucklen weiß man, dass sie aufgrund ihrer Größe gut Schlösser knacken können. Exemplare wie Pickett entwickeln zudem eine relativ große Anhänglichkeit für ihre Beschützer und reagieren entsprechend vergnatzt, wenn man sie für scheinbar unlautere Pläne einspannen will. So geschehen im ersten Teil der „Phantastischen Tierwesen“, als Pickett an den gierigen Kobold Gnarlak gegen wichtige Informationen verkauft werden soll. Natürlich nur zum Schein. Streit vorprogrammiert.
Weitere Tiere (in Auswahl), die die meiste Zeit über im Koffer des Zauberers Newt Scamander (seines Zeichens Autor eines Buches über magische Geschöpfe) leben, hören auf Namen wie Graphorn, Occamy, Knuddelmuff und Murtlap. Einer meiner persönlichen Lieblinge ist allerdings der Böse Sturzfalter, ein Tierwesen, das Reptil und Insekt in sich vereint. Passenderweise bewirkt sein Gift das Vergessen von unschönen, leider aber auch schönen Erinnerungen. Wenn man sich denn daran erinnert. Sturzfalter ernähren sich bevorzugt von menschlichen Gehirnen. Stolpert man also zufällig über seinen recht unscheinbar wirkenden Kokon, bitte nicht berühren, denn einmal geweckt und im Flug begriffen, kann der Böse Sturzfalter eine beachtliche Größe annehmen.
Im Sommersemester 2018 hatte ich das Glück, im Anglistikseminar von Prof. Dr. Elmar Schenkel an der Universität Leipzig einem Vortrag zu lauschen, der die anwesenden Studenten ebenso wie einen promovierten Post-Studenten wie mich nicht nur auf Spurensuche zu den Ursprüngen der Mythen, sondern des menschlichen Erzählens überhaupt führen sollte. Unter dem Titel The Origins of the World’s Mythologies stellte der Journalist, Herausgeber und vergleichende Mythologe Christoph Sorger das gleichnamige, 2012 erschienene Buch des renommierten Indologen, Linguisten und Harvard-Professors E. J. Michael Witzel vor. Eine 688 Seiten starke, bisher leider nur auf Englisch verfügbare Lektüre, die nicht nur erkärt, was ein Mythos ist und was diesen ausmacht, sondern die sich gewissermaßen der Ur-Mythologie widmet, jener Frage, die schon Goethe in seinem Faust umtrieb, wenn er eben jenen sagen lässt: „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Witzels ambitionierte und ebenso vielgelobte wie skeptisch resümierte Mythentheorie erklärt das ursprüngliche Beschreiben von Welt und Umwelt, d.h. die Entwicklung von Mythologien, aus der Evolution und Verbreitung von Homo sapiens von seiner Urheimat Afrika aus in mehreren Wanderungswellen über die ganze Welt. Seit jeher liegt es in der Natur des Menschen, Geschichten zu erzählen. Geschichten über höhere Wesen. Geschichten über die Elemente. Geschichten über Himmel und Erde. Geschichten über „trickster deities“ (Trickster-Götter), die die göttliche Ordnung durcheinanderbringen, indem sie die aufgestellten Regeln brechen, so wie etwa Prometheus, der den Menschen das Feuer bringt. Und eben jene Geschichten sind es, die den Menschen bei seiner Verbreitung über die Kontinente (Witze verwendet den schönen Begriff „Out-of-Africa-movement“) hinweg begleitet und die sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen menschlicher Gemeinschaften gefestigt haben.
Wir haben den Roman vorgestellt. Wir haben Mensch und Monster untersucht. Nun begeben wir uns anlässlich des Frankenstein-Jahres 2018 ins Londoner Royal National Theatre.
Theater mit Geschöpf und Schöpfer
Stille. Dunkelheit. Plötzlich zerreißen Blitz und Donnerschlag das angespannte Nichts.
Eine Apparatur mit einer Art Kokon, darin ein großer Fötus. Erneutes Wetterleuchten, erneuter Donner. Der Fötus bewegt sich. Ein Unwetter wütet. Der Blitz schlägt in die Apparatur des Grauens ein und bringt schließlich das Herz des übergroßen Ungeborenen zum Schlagen. Die Membran reißt. Der Vogel kämpft sich aus dem Ei, sprich, das Wesen ohne Namen sich auf die Welt. Der Zuschauer wird zum Zeugen einer Geburt. Es ist auch hier eine schmerzhafte Geburt, mit Blut, Schleim und Schrei. Da liegt es, das Neugeborene. Gleich einem Säugling schreit es, strampelt, erschrickt vor grellem Licht und lauten Geräuschen. Es windet sich, kriecht, kommt schließlich auf die Beine und läuft ungelenk umher. Frankensteins Kreatur. Der Wissenschaftler hatte in nächtelanger, geheimer Forschungsarbeit aus Leichenteilen einen neuen Körper zusammengesetzt und dann vorübergehend sein Labor verlassen. Als er nach einiger Zeit zurückkehrt und „seine“ zum Leben erwachte Kreatur vorfindet, erschrickt er bis ins Mark. Was er so lange ersehnte, nämlich tote Materie zum Leben erwecken zu können, ist ihm letztendlich gelungen. Doch welch grauenvollen Anblick bietet dieses Wesen! Voller Narben, Rotz und Schmutz, guttural lallend und stammelnd, denn noch hat ihm niemand das Sprechen gelehrt. Frankenstein flieht voller Abscheu, nicht ohne sein Werk zu verdammen: „What have I done?“
Die Leipziger Stadtbibliothek ist gut besucht am vor-halloweenlichen Montag. Anlässlich des 22. Leipziger Literarischen Herbstes macht sich die edition vulcanus daran, den mythologischen Schwerpunkt der allherbstlichen Lese- und Literaturwoche zu setzen. „Brücken bauen“ heißt das Motto 2018, welches, auch im Rahmen der Houston-Week (bezogen auf die 25-jährige Städtepartnerschaft zwischen Leipzig und Houston), kulturelle, literarische, gesellschaftliche, poetische, künstlerische, nachdenkliche, lakonische, zwie- und zweisprachige, historische und eben auch mythologische Verbindungen von Hier nach Dort und Dort nach Hier knüpfen soll.
Im dritten Teil unseres diesjährigen Specials im Zeichen des Schaurigen, das sich bislang mit reitenden Toten sowie Folklore, Geistern und Kürbissen beschäftigt hat, sind wir nun den Mythen um SleepyHollow und dem Reiter ohne Kopf auf der Spur. Den meisten ist die Geschichte wahrscheinlich durch den 1999 erschienenen Film von Tim Burton mit Johnny Depp und Christina Ricci (und natürlich ebenfalls legendär: Christopher Walken als kopflosen Reiter) bekannt. 2013 bekam der düstere, märchenhafte und gleichzeitig skurril anmutende Film, der Grusel und den einen oder anderen Lacher perfekt kombiniert, Konkurrenz durch eine gleichnamige Serie. Dieses Sleepy Hollow (u. a. mit Tom Mison und Nicole Beharie in den Hauptrollen) verlegt die Handlung – per Zeitreise – in die Gegenwart und verbindet dabei Mysterie- und Krimihandlung in mittlerweile vier Staffeln.
Oktober. Herbst. In Parks und Wäldern verfärben sich die Blätter der Bäume. Es ist die Zeit der Ernte. Des Drachensteigens. Der Spinnennetze. Des Schmuddelwetters. Der Umstellung der Uhren auf die Winterzeit. Wir sehen und spüren, dass die Tage kürzer werden. Wir ahnen, dass das Jahr zu Ende geht und wir (vielleicht auch darüber hinaus) anfangen, Bilanz zu ziehen: „Eine trübe, kaltfeuchte Wagenspur:/ Das ist die herbstliche Natur./ Sie hat geleuchtet, geduftet, und trug/Ihre Früchte. – Nun, ausgeglichen,/Hat sie vom Kämpfen und Wachsen genug. –/ Scheint’s nicht, als wäre alles Betrug/ Gewesen, was ihr entwichen?!“ (Joachim Ringelnatz, Herbst)
Der Herbst ist auch die Zeit der Feste und Gedenktage. Erntedank (in den USA und Kanada bekannt als Thanksgiving). Oktoberfest. Reformationstag. Allerheiligen. Buß- und Bettag. Martinstag. Totensonntag. Der Herbst ist Ausgleich (mit der Natur) und Besinnung (auf uns selbst und auf unsere Umwelt). Ein besonderes Fest, das in Deutschland seit einigen Jahren vor allem kommerziell beworben wird, sich trotz vieler regionaler Parallelen bislang aber nur schleppend verwurzelt hat, ist Halloween.
Willkommen zum ersten Teil unseres Blogspecials im Zeichen des Schaurigen!
Lenore fuhr ums Morgenrot Empor aus schweren Träumen: „Bist untreu, Wilhelm, oder tot? Wie lange willst du säumen?“ – Er war mit König Friedrichs Macht Gezogen in die Prager Schlacht, Und hatte nicht geschrieben: Ob er gesund geblieben. (Str. 1)
Die erste Strophe der Ballade Lenore, verfasst vom deutschen Dichter Gottfried August Bürger (1747-1794), fackelt nicht lange und führt den Leser sofort an den springenden Punkt heran, der die gesamte Handlung ins Rollen bringt: Willhelm, Lenores Verlobter, kämpft im Siebenjährigen Krieg und keiner weiß, welches Schicksal ihn ereilt hat. Eines Nachts jedoch wird die Hauptcharakterin von einer unheilvollen Ahnung heimgesucht und stellt den Leser bereits zu anfangs vor eine vollendete Tatsache – der Verlobte ist entweder untreu geworden und im fremden Land geblieben, oder er ist im Kampf gefallen. Es ist ein böses Erwachen, welches in seiner Abruptheit die Ballade eröffnet. Ein böses Erwachen in der Tat, ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte um Lenores unheilvolles Schicksal zieht.
Kennen Sie Heidrun? Falls die Suche nach der Antwort Sie dazu verlockt, in einem Namenslexikon zu blättern oder an den Sonntagsbesuch bei der Oma zu denken, habe ich gute und schlechte Nachrichten. Die gute: Der Name bedeutet so viel wie „geheimnisvolles Wesen“ (Heid– nach germanisch haidu > Art, Wesen; altnordisch rún > Zauber, altenglisch rūn> Geheimnis). Die schlechte: Heidrun (Heiðr) ist sowohl dem Grímnismál (einem Götterlied der Lieder-Edda) als auch dem Gylfaginning (einem Teil der Prosa-Edda) zufolge eine Ziege der nordischen Mythologie. Statt Milch fließt Met aus ihren Eutern. Dieser dient den Einherjern – den in der Schlacht gefallenen Kriegern – in Walhall als Nahrung. Dem Mythos nach steht Heidrun auf dem Dach von Walhall, wo sie vom Baum Lärad (Yggdrasil) frisst, dem Weltenbaum, der aus Teilen des Ur-Riesen Ymir gewachsen ist. Ymir (das erste lebende Wesen) wurde von den Götter Odin, Vili und Vé getötet. Aus den Teilen seines Körpers schufen sie die neun Welten, welche den Kosmos der nordischen Mythologie bilden.
Stonehenge. Geheimnisvoll. Mythisch. Sagenumwoben. Um kaum einen anderen Ort ranken sich mehr Mysterien, als um die jungsteinzeitliche Kultstätte im Süden Englands. Der Steinkreis zieht nach wie vor Besucher aus der ganzen Welt an und gehört zu den touristischen Hauptattraktionen Großbritanniens.
Als ich mit Freunden im April dieses Jahres nach Bristol reiste, gehörte deshalb ein Besuch dieses Weltkulturerbes ganz selbstverständlich zu unserem Programm. Ich hatte Stonehenge bereits 1991 besucht und war damals recht desillusioniert über dessen in meinen Augen arg kommerzialisierte und inadäquate Darbietung; die nahegelegene, stark frequentierte Fernstraße tat ein Übriges dazu, die Aura dieses geschichtsträchtigen Ortes erheblich zu stören. Rotweißes Absperrband flatterte rund um die Anlage im Wind; bei jeder fotografischen Aufnahme musste man aufpassen, dass einem nicht versehentlich ein anderer Besucher durchs Bild lief. Umso erfreuter war ich, bei meinem jüngsten Besuch eine völlig neue, der Bedeutung dieses Kulturplatzes weitaus angemessenere Präsentation vorzufinden.
Mit unserem Beitrag zum Wave Gotik Treffen 2018 wollten wir die Thematik des Frankenstein und seiner Schöpfung einem breiten Publikum auf unterhaltsame Art und Weise näherbringen, was uns auch gelungen ist. Ein volles Haus und interessierte Zuhörer haben uns bestätigt, wie aktuell dieser Roman und seine Grundidee ist.
Umso mehr freute es uns, als mich Marcus Rietzsch, der Herausgeber des Pfingstgeflüster, auf Facebook kontaktierte und anfragte, ob wir nicht Lust hätten, einen Vortragsbeitrag beizusteuern. Das Pfingstgeflüster, ein Bild-Text-Band, der jährlich im Zuge des Wave Gotik Treffens in der Edition Subkultur erscheint, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Impressionen des einzigartigen Musik- und Kulturfestivals festzuhalten und diese in hochwertigem Design zu verewigen. Es bietet Einblicke in Lesungen, musikalische Highlights, Kunstausstellungen und natürlich dem Herz des Leipziger Festivals – die Besucher. Für alle, die diesmal nicht dabei sein konnten, die ein literarisches, zusammenfassendes Erinnerungsstück mitnehmen oder sich Einblicke in Veranstaltungen holen wollen, zu denen sie es leider nicht geschafft haben.
Die Welt. Eine Welt. Unsere Welt. Was bedeutet dieses Wort „Welt“? Ist es der Kosmos (das Weltall)? Oder der Planet, auf dem wir leben? Und wenn wir von „dieser Welt“ sprechen, meinen wir damit gemeinhin einen Zeitabschnitt, der zum einen unsere eigene Lebenspanne umfasst, zum anderen die unmittelbare Gegenwart im Blick hat? Eine bekannte Zeitung trägt den Namen „Die Welt“. Religionen und Mythen kennen die Welt Gottes bzw. die Welt der Götter. So galt etwa für die antiken Griechen die Welt als das Prinzip der Ordnung und der Harmonie. Alles außerhalb davon war Chaos. Moderne Wissenschaftler wiederum untersuchen die Welt der Natur und die Welt des Kosmos. Es gibt die Körperwelt. Seelenwelt. Technikwelt. Scheinwelt. Traumwelt. Die Dritte Welt. Die globalisierte Welt. Literatur kann eine historische, phantastische oder fiktive Welt beschreiben. Der englische Autor Terry Pratchett etwa gilt als der Erfinder der Scheibenwelt. Aber auch das Ich und sein Umfeld wie Familie, Freundeskreis, Partner, Arbeit, eine Gruppe, ein Kulturkreis, eine Gesellschaft können eine Welt bilden. Welt wirkt also im Kleinen wie im Großen. Sie beansprucht Totalität. In der Welt subsumieren sich andere Welten (der Plural von „Welt“ ist erst seit dem 16. Jahrhundert im Sprachgebrauch üblich), die parallel, gleichzeitig oder miteinander verbunden existieren, die sich durchdringen und aufheben, die neu geboren werden oder zugrunde gehen.
Eine für uns geografisch naheliegende und doch gefühlt ferne Welt hat die Keltologin Prof. Dr. Sabine Asmus den Interessierten im Haus des Buches Leipzig vorgestellt. „Keltische Anderswelten und das Leben nach dem Tod“ lautet der Vortrag, zu dem der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie im September 2018 unter dem Jahresthema „Welt der Mythen – Mythen der Welt“ eingeladen hat.
Während Raben in Europa fast ausschließlich als Erkennungstiere von Göttern erscheinen, ist der Rabe in den Kulturen der Nordwestküsten-Indianer selbst eine Gottheit. Er ist sowohl Demiurg als auch Trickster, sowohl Held als auch Schurke, und dies häufig zur gleichen Zeit. In nahezu jeder Schöpfungsmythe der Region ist der Rabe entweder der tatsächliche Schöpfer der Welt oder spielt bei der Schöpfung eine große Rolle. In vielen Mythen erscheint der Rabe in mehreren Gestalten. Dies ist möglich durch die Personifizierung der Tiercharaktere in der Kultur. In der Mythologie der Nordwestküsten-Indianer können Tiere problemlos menschliche Gestalt annehmen und auch ein Leben wie Menschen führen – wobei der Rabe der größte Verwandler von ihnen ist, der in der Lage ist, sich in alles zu verwandeln, um zu bekommen, was er will.
Der Begriff Folklore umfasst die populären Glaubensvorstellungen einer Kultur oder Minderheit und ist somit ein vielschichtiges und breitgefächertes Phänomen der kulturellen Erinnerung und Identität. Es sind Glaubens- und Vorstellungsmuster, welche zwar in Verbindung mit der vorherrschenden Religion entstehen, jedoch weitestgehend außerhalb der etablierten religiösen Institution existieren. Von Traditionen und Bräuchen über Volksmärchen, Sagen und Aberglaube umfasst die Folklore einer Kultur alle Aspekte, die meist bereits seit langer Zeit von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurden. Diese können sich in ihren Feinheiten je nach Land, Landstrich oder sogar Region unterscheiden und bieten für alle Außenstehenden, die diese kennenlernen und verstehen wollen, eine Herausforderung, die aufzunehmen sich lohnt. Will man die Kultur eines anderen Landes kennenlernen, ist die Kenntnis der Folklore unumgänglich.
Zwei Gestalten der populären Imagination sind 2018 zweihundert Jahre alt geworden: Frankenstein und sein Monster. Jeder kennt sie, weil jeder mindestens einen Film über sie gesehen hat, und Boris Karloff als Monster in der Verfilmung von 1931 ist geradezu eine Ikone geworden. Immer wieder variieren Drehbuchautor und Regisseure die Geschichte vom besessenen Wissenschaftler, der aus Leichenteilen einen Menschen zusammenbaut, ihn belebt – meist per Galvanismus – und dann vor seiner monströs geratenen Schöpfung Reißaus nimmt und damit eine Kette katastrophaler Ereignisse in Gang setzt. All diese Versionen gehen letztlich auf einen Roman zurück, der 1818 – zunächst anonym – in London erschien: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ von Mary Wollstonecraft Shelley. Seine Vielschichtigkeit erreichen sie allerdings selten oder vielleicht nie. Denn um puren Horror geht es darin nicht, auch wenn die Grundidee tatsächlich eine Gruselgeschichte war: Mitte Juni 1816 saßen die englischen Dichter Lord Byron und Percy Bysshe Shelley, Shelleys damals 18jährige Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Mary und Byrons Leibarzt und Reisebegleiter John William Polidori in einer Villa am Genfer See, während es tagelang in Strömen regnete. Die Protagonisten der literarischen Romantik unterhielten sich über neueste naturwissenschaftliche Experimente, über die Möglichkeit, künstliches Leben zu schaffen, lasen einander Gespenstergeschichten vor, die aus dem Deutschen ins Französische übersetzt worden waren, und beschlossen dann, selber welche zu erfinden. Bloß Mary wollte lange keine einfallen. Aber dann hatte sie einen Alptraum und ihre Geschichte – und in den folgenden beiden Jahren machte sie ihren ersten Roman daraus.
Mythos [altgriechisch: μῦθος, „Rede“, „Wort“, „Erzählung“, auch „Fabel“, Plural: Mythen; von mytheĩsthai: „reden, lautmalen, erzählen“] ist überlieferte Dichtung oder sagenhafte Erzählung aus der Vorzeit eines Volkes oder einer Volksgruppe, die u. a. von Göttern, Halbgöttern, Naturgeistern, Dämonen, der Entstehung und dem Untergang der Welt, der Erschaffung des Menschen etc. handelt. Mythen können als „symbolischer Ausdruck von Urerlebnissen […] angesehen werden“ (Häcker/Stapf, 2009, 667). Aber auch Ereignisse, Personen und Dinge können – glorifiziert, mit fiktiver Geschichte oder symbolischer Bedeutung ausgestattet – zur Legende, zum Kultbild, Leitbild oder zur Ikone und damit zum Mythos werden.