In Troy wächst Stephen Frys Neuerzählung der griechischen Mythologie um einen weiteren Band zur Trilogie an und zaubert die Leserschaft aufs Neue in die Welt von Helden und Göttern. Vorkenntnisse von Mythos oder Heroes, den Vorgängerbänden, werden jedoch nicht benötigt, Troy lässt sich komplett eigenständig lesen und verstehen. Dabei muss sich der Leser in seiner Wahl jedoch zunächst auf die englische Ausgabe beschränken; wer auf die deutsche Übersetzung warten möchte, benötigt noch etwas Geduld.
Die Reise führt in das legendäre Troja, und ein großer Teil des Buches folgt den Fußstapfen von Homers „Ilias“, bietet aber noch mehr als das. Anders als Homer steigt Fry nämlich nicht erst mit dem Konflikt zwischen Achilles und dem menschlichen König Agamemnon ein, sondern mit der Gründung Trojas selbst. Von hier an beginnt Fry am griechischen Vorbild entlang seine eigene Version des mythischen Stoffes zu stricken und flechtet dabei alle Personen und Nebenhandlungen ein, die später in den Trojanischen Krieg münden oder die für diesen eine Bedeutung haben. Nur so kann man als sonst ungewappneter Leser dann auch wirklich verstehen, was sich im Folgenden abspielt.
Ganze Familiengeschichten werden nachverfolgt und ihre Blutlinien, durchdrungen von göttlicher Intervention, Schicksal und Flüchen, gehen als mythische Fäden in das Gesamtgewebe ein. Die Mühe für den Leser, diesen Faden nicht zu verlieren, zahlt sich aus, und am Ende wird man mit einem tiefergreifenden Verständnis des Troja-Mythos belohnt, welches für die eine oder den anderen wohl fast so kostbar wie das goldene Vlies selbst sein kann. Zugegeben, je nach eigenem Anspruch ist die Lektüre keine ganz leichte Kost, besonders im Hinblick auf das mythische Fundament, welches Fry der eigentlichen Erzählung des Trojanischen Krieges voranstellt. Das Gewebe der verschiedenen Geschichten ist dicht, Handlungsstränge überschneiden sich, gehen ineinander über und auseinander, alles und jeder hängt mit allem und jedem irgendwie zusammen. Die schicksalsspinnenden Moiren als Charaktere in der griechischen Mythologie scheinen so gesehen nahezu ein reflexiver Akt des Mythos selbst zu sein.
Zum Glück hat man auf der persönlichen Reise, sich diesen Ausschnitt vom griechischen Mythos anzueignen, zwei entscheidende Verbündete: Zum einen natürlich Stephen Fry selbst, der mit seinem herrlich trockenem Humor, Charme und Schalk nicht nur ein brillanter Erzähler ist, sondern ein ebenso treffsicherer Didaktiker (bei Apoll!), der den Leser da abholt, wo er gerade ist, und der in verschmitzten Fußnoten immer wieder versichert, dass am Ende alles Sinn ergeben wird.
Sein erzählerisches Genie dabei ist, dass er, obwohl er eine ganz unverwechselbare eigene Stimme in der Erzählung selbst hat, weiß, wie er diese zum Verstummen bringen kann, um der Handlungen und den Charakteren dort Nachdruck zu geben und sie für sich selbst sprechen zu lassen, wo es nötig ist. So wird die Lektüre zum einen niemals langweilig, aber zum anderen auch niemals platt, trivial oder „zu modern“. Die unterschwellige Modernisierung der Sprache ist wahrscheinlich der größte Gewinn für heutige Leser. Frys Sprache ist klar, lebendig und frisch wie ein Gemälde Botticellis und befreit die Persönlichkeit der Akteure von ihrem historischen Firnis, wodurch sie für den Geist des 21. Jahrhunderts nachvollziehbar und verständlich werden. Im Kontrast zu Erinnerungen an meine erste Ilias-Lesung im Original von Homer, die mehr an die Szenen eines gewalttätigen Fiebertraums grenzen, bin ich überzeugt, dass Frys Neufassung mir noch lange von Mnemosyne, Mutter der Musen und personifiziertem Gedächtnis, eingeflüstert wird. Mit Fry im Gepäck bin ich sogar motiviert, Homers Ilias noch einmal, aber besser vorbereitet, einen würdigeren Versuch zu schenken.
Der zweite Champion in der Ecke des Lesers ist die hilfreiche Aufmachung des Buches mit Vorwort und Appendix, welcher wirklich keinen Wunsch offenlässt. Sei es der Index (!!), oder zusätzlich die komplette Auflistung aller Hauptcharaktere, Götter und Monster (nach Faktionen und Generation gegliedert), welche einen schnellen Überblick über die Familienverhältnisse und andere Verbindungen verschafft. Oder der Zeitstrahl zu Beginn des Buches oder das Diagramm der Hauptgottheiten, oder, last but (certainly) not least: die Karte der antiken griechischen Welt, welche zu eigenen Ergänzungen einlädt – bei dieser Ausgabe hat der Penguin-Verlag wirklich an absolut alles gedacht. Sogar insgesamt 31 Abbildungen auf Fotopapier von Gemälden und anderen Kunstwerken, die in Zusammenhang zu den Mythen stehen, haben einen dezenten und bereichernden Platz im Buch gefunden.
Wer sollte sich das Buch also kaufen? Ich denke jeder, der sich für Mythen auch nur im Entferntesten begeistern kann, darf hier ohne großes Grübeln zugreifen. In Troy betritt der Leser eine Welt, die von ihrem Status her irgendwo zwischen Fiktion und Realität pendelt. Klar, die wenigsten glauben, dass Athena und Co. in irgendeiner materiellen Form wirklich existiert haben, aber dennoch bleibt da das vage Gefühl, dass das, was sich im Mythos abspielt, doch mehr Substanz hat als das, was sich üblicherweise in der Fantasy-Abteilung des Buchladens finden lässt. Auch scheinen Theorien über die Verknüpfungen und Widersprüche im Mythos in der Regel von einer anderen Relevanz zu sein, als Spekulationen darüber, wie, meinetwegen, Bösewicht Thanos in Marvels letztem Avengers-Streifen effizienter und schneller der Garaus hätte gemacht werden können, und warum Superheld Ant-Man über diese Lösung nicht erfreut sein würde. Für Fry liegt die Kraft des Mythos in der besonderen Art, auf welche das universell Menschliche auf das Spezielle trifft und dem Licht, das durch diesen Zusammenstoß noch bis in unsere Zeit hinein abstrahlt. Dem Stoff geschuldet, muss sich der Lesende zu Beginn auf eine erhöhte Belastung seines Arbeitsgedächtnisses einstellen, aber jeder, der dabei vergnügt sein will und glaubt, das Lernen nicht zwangsläufig Leiden bedeutet, hat mit Stephen Fry einen starken Partner.
„Troy“ ist 2020 im Penguin-Verlag erschienen.
Ein Beitrag von Sebastian Helm
Literaturhinweis:
Stephen Fry: Troy. Our Greatest Story Retold. (Stephen Fry’s Greek Myths #3). London, Penguin Books Ltd., 2020.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Eine sehr schöne Besprechung, bei der für mich einzig die Frage offenbleibt, ob Fry die zahlreichen antiken Erzählungen, die einander teilweise auch widersprechen, in ihrer Vielfalt wiedergibt, oder ob er eine Einheitsversion aus den verschiedenen Versionen kreiert.
Ich bin ein großer Freund davon, antike Mythologie und moderne Phantastik miteinander zu vergleichen. Was Werturteile angeht, bin ich dann aber doch eher skeptisch.
Vielen Dank für die Rezension.
Ich hatte schon überlegt, mir Stephen Frys Bücher anzuschaffen – jetzt denke ich, werde ich es wirklich tun !