Tierwesen: Über eine mythisch-cineastische Beziehung

Es ist wieder soweit! In den Kinos flimmern zum zweiten Mal die „Phantastischen Tierwesen“ der britischen Autorin und „Mutter von Harry Potter“, Joanne K. Rowling, über die Leinwand und begeistern große und kleine Zauberer und Hexen, sorry, Zuschauer, natürlich. Da gibt es den süßen Niffler, eine Art bepelztes Schnabeltier mit körpereigenem Kängurubeutel, in den er alle glitzernden und glänzenden Sachen stopft (vorzugsweise Münzen, Goldbarren und Schmuck), die er in seine Pfötchen bekommt. Ebenfalls mit von der Partie ist der Bowtruckle Pickett, der Ähnlichkeit mit einem grünen Miniatur-Baum-Insekt aufweist. Auf Bäumen lebt seine Art denn auch, bevorzugt in solchen, die sich für die Herstellung von Zauberstäben eignen. Von Bowtrucklen weiß man, dass sie aufgrund ihrer Größe gut Schlösser knacken können. Exemplare wie Pickett entwickeln zudem eine relativ große Anhänglichkeit für ihre Beschützer und reagieren entsprechend vergnatzt, wenn man sie für scheinbar unlautere Pläne einspannen will. So geschehen im ersten Teil der „Phantastischen Tierwesen“, als Pickett an den gierigen Kobold Gnarlak gegen wichtige Informationen verkauft werden soll. Natürlich nur zum Schein. Streit vorprogrammiert.

Weitere Tiere (in Auswahl), die die meiste Zeit über im Koffer des Zauberers Newt Scamander (seines Zeichens Autor eines Buches über magische Geschöpfe) leben, hören auf Namen wie Graphorn, Occamy, Knuddelmuff und Murtlap. Einer meiner persönlichen Lieblinge ist allerdings der Böse Sturzfalter, ein Tierwesen, das Reptil und Insekt in sich vereint. Passenderweise bewirkt sein Gift das Vergessen von unschönen, leider aber auch schönen Erinnerungen. Wenn man sich denn daran erinnert. Sturzfalter ernähren sich bevorzugt von menschlichen Gehirnen. Stolpert man also zufällig über seinen recht unscheinbar wirkenden Kokon, bitte nicht berühren, denn einmal geweckt und im Flug begriffen, kann der Böse Sturzfalter eine beachtliche Größe annehmen.

Als der erste Teil der „Phantastischen Tierwesen (und wo sie zu finden sind)“ im Jahr 2016 die Nachfolge von Harry Potter antrat, dessen Ära 2011 im finalen Kampf mit Lord Voldemort endete, konnte ich eine gewisse Skepsis gegenüber dem neuen „Stoff“ aus der Rowlingschen Romanschmiede nicht verhehlen. Meine Zweifel zerschlugen sich hingegen schnell. Denn Tiere – ob nun der Fantasie entsprungen oder nicht – bevölkern nicht nur unsere Welt(en). Sie lösen in den meisten Menschen auch eigenartige Emotionen aus. Tiere sind niedlich. Tiere sind treu. Tiere waren und sind des Menschen Helfer und Begleiter. Vor Tieren scheuen wir uns häufig, wir ängstigen uns gar – manche vor Hunden, manche vor Katzen, viele vor Ratten oder Mäusen und ganz sicher vor Löwen, Tigern oder anderen „Räubern“ mit genug Appetit auf Fleisch und mit zu vielen Zähnen im Maul. Schon die Menschen der Steinzeit gaben ihren Tiere einen Platz im kulturellen Gedächtnis. Ein berühmtes Beispiel dafür sind die Höhlenmalereien von Lascaux, die u. a. Pferde, Auerochsen und Wild abbilden. Im Alten Ägypten verehrte man heilige Tiere wie Katze, Stier oder Käfer (auch Skarabäen). Zudem gab es Opfertiere. Tiere für Nahrung und Lasten. Aber auch Tiere, die den Götter (und den Menschen) nicht sonderlich wohlgesonnen waren. Ein solches Tier ist die Schlange. Sie galt und gilt noch heute als gefährlich und geheimnisvoll, aber auch als unberechenbar und janusgesichtig. Geboren aus der Erde wird sie mit dem Beginn der Zeit, den ersten Göttern, Menschen und Mythen in Verbindung gebracht. Ihr Gift kann Schaden hervorrufen bzw. töten. In der ägyptischen Mythologie galt der Schlangengott Apophis als Urfeind des Sonnengottes Re. Da sie aus der Erde stammt, wurde die Schlange also nicht allein mit Leben, sondern auch mit Dunkelheit assoziiert. Die Fähigkeit sich zu häuten, und damit zu „verjüngen“, brachte ihr aber auch den Ruf eines Schutztieres ein (Gesundheit, langes Leben). Noch heute ziert die Schlange den Äskulapstab der Apotheker. In der griechischen Mythologie galt Asklepios (oder Äskulap) als der Gott der Heilkunst, der seine Kompetenzen überschritt, weil er Tote wieder zum Leben erweckte. Im Alten Testament wiederum ist die Schlange die Verführerin von Eva und bringt die Ursünde in die Welt. Stilisiert als Drache steht sie im Christentum stellvertretend für den Teufel.

Der „Physiologus“ (griech. der Naturforscher), entstanden zwischen dem 2. und 4. nachchristlichen Jahrhundert, ist eine Naturlehre bzw. eine Sammlung von 48 Erzählungen, in der die Tiere – allegorisch-heilsgeschichte gedeutet – einen wesentlichen Platz einnehmen. Neben der Bibel war das Werk eines der meistverbreiteste Bücher der Spätantike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit Übersetzungen u. a. ins Lateinische, Arabische, Französische, Äthiopische, Georgische, Russische, Serbische, Angelsächsische, Altisländische und Flämische.

Hier ein kleine Kostprobe, was der „Physiologus“ über den Elefanten, dem Stärke und Weisheit nachgesagt werden, zu berichten weiß: „Die Natur des Elefanten aber ist so beschaffen: Wenn er umfällt, kann er nicht mehr austehen; er besitzt nämlich keine Gelenke in den Knien wie die übrigen Tiere. Wie aber kommt er zu Fall? Wenn er schlafen will, lehnt er sich an einen Baum und schlummert. Die Jäger nun, die um diese Eigenart des Elefanten wissen, schleichen hin und sägen den Baum etwas an. Nun kommt der Elefant, um sich anzulehnen, fällt mit dem Baum und fängt jämmerlich zu trompeten an, und ein anderer Elefant hört ihn und kommt herbei, um ihm zu helfen, doch kann er ihn nicht aufrichten. Nun rufen aber beide, und es kommen zwölf weitere Elefanten, doch selbst diese sind nicht imstande, den Gefallenen aufzurichten. Da nun trompeten sie alle; als Letzter von allen aber kommt ein kleiner Elefant, schiebt seinen Rüssel unter den Elefanten und richtet ihn wieder auf. Die Eigenart des kleinen Elefanten aber ist diese: Wenn man mit seinen Haaren oder Knochen irgendwo räuchert, findet dort weder ein böser Geist noch eine Schlange noch sonst etwas Schlimmes Eingang“ (Phys. 43). In der Deutung des „Physiologus“ wird der erwähnte kleine Elefant mit Jesus Christus gleichgestellt, der den Menschen „aufgerichtet“ habe.

Ein weiterer Grund, warum den Menschen das Tier und vielleicht auch das Tier den Menschen fasziniert (in evolutionshistorischer Hinsicht ist der Mensch ja quasi sein eigenes Tier), mag auch damit zusammenhängen, dass wir Tiere dazu gebrauchen, um uns selbst abzubilden. Vermenschlichte Tiere finden wir in Fabeln, in Märchen und Sagen. Wer kennt nicht den schlauen Fuchs, die gierige Elster, den dummen Esel, den hinterhältigen Raben, das sprechende Pferd Falada oder den König der Löwen? Vertierlichte Menschen hingegen sind da schon schwieriger aufzuspüren und meist erfolgt die Verwandlung (Metamorphose) entweder als Fluch (u. a. im Märchen „Die wilden Schwäne“ oder „Jorinde und Joringel“), als Rache, Strafe (u. a. in der Geschichte der hochmütigen Weberin Arachne, die von der griechischen Göttin Athene in eine Spinne verwandelt wurde) oder als beides gleichzeitig. Ein solch bekannter Fall ist die Geschichte „Die Schöne und das Biest“. Nicht zu vergessen die Verwandlung (1912) von Franz Kafka’s Gregor Samsa in ein Ungeziefer, wobei hier die bloße Existenz menschlichen Lebens selbst als Strafe umgedeutet ist.

In den „Phantastischen Tierwesen“ (Teil 1 + 2) der Kinowelten wirken die Tiere oftmals wie die zum Leben erweckten Zeichnungen von mittelalterlichen Initialen und Handschriften. Solche Darstellungen bilden recht häufig sogenannte Chimären ab, tierische Mischwesen wie etwa den Greifen, die Sphinx oder das geflügelte Pferd Pegasos. Die ursprüngliche Chimäre (griech. chímaira > Ziege) der griechischen Mythologie bestand aus Teilen des Löwen, der Ziege und auch des Drachens. Als sie Mensch und Tier bedrohte, erhielt Bellerophon, ein Enkel des Sisyphos (des Gründers und Königs von Korinth), den Auftrag, die Chimäre zu töten. Seine Mission gelang. Die christliche Allegorie hat später den Kampf des Bellerophon als Sieg des heiligen Georg über den Drachen (das Böse, den Teufel) religiös umgedeutet.

Im aktuellen Teil der „Phantastischen Tierwesen“ geht es nicht darum, ein mythisches oder märchenhaftes Monster zur Strecke zu bringen, sondern gegen den Zauberschurken Gellert Grindelwald (verkörpert von keinem anderen als Johnny Depp) vorzugehen. Dabei zeigt sich, Tier und Mensch müssen zusammenhalten, um dem Bösen zu trotzden. Und: Der sein Unwesen treibende Halunke hat als Zauber (in Menschengestalt) etwas derart Raub-Tier-haftes an sich, dass dem Zuschauer gewiss der eine oder andere Schauder über den Rücken läuft.

Der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie hat den  „Tieren im Mythos“ 2017 sogar sein Jahresthema gewidmet. Eine Gestaltung unseres „Mythisch-literarischen Bestiariums“ steht derweil freilich noch aus. Es lohnt sich aber – deswegen und natürlich wegen unseres Blogs – hin und wieder auf der Seite vorbeizuschauen. In der Zwischenzeit finden Sie die Tiere wie gewohnt da, wo sie hingehören: an Ihrer Seite, im Zoo oder in freier Wildbahn. Ganz sicher aber im Kino.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweis:

Physiologus. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Reclam: Stuttgart 2005.

©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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