„Wir haben keine Mythologie …

Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“ (Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie)

Es sei Zeit für eine „neue Mythologie“ postulierte der Philosoph, Schriftsteller und Altphilologe Friedrich Schlegel (1772-1829) in seiner 1800 erschienenen „Rede über die Mythologie“, die Teil des „Gespräch[s] über die Poesie“ ist, eine Mythologie, die es verstünde, „eine alle Schichten der Gesellschaft verbindende geistige Kultur zu realisieren“ (Stolzenberg, S. 73 ff.) und dabei die Poesie nicht nur als Mittel zum Zweck erkläre, sondern als höchste Instanz und Ausdrucksform des Realismus. „Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode“ (Schlegel, Rede. S. 174). In der Mythologie also, fließt alles zusammen. Die Frühromantik suchte nach einer Mythologie, die den philosophischen Reflexionsstand der Gegenwart veranschaulichte. Das, was die Natur und den Menschen antreibt, sollte ästhetisch greifbar gemacht werden. Eine utopische, wenn auch verständliche Sinnsuche, bedenkt man, dass mit der Aufklärung und dem rasanten Aufstieg der Naturwissenschaften das „Alte“, in dem sich vor allem die Religion verankert fand, zunehmend an Bedeutung verlor. Die Mythologie als Brücke also sollte es sein, als moderne Memoria und als Wegbereiterin des „Neuen“.

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Zukunft im Digital: Über Hoffnung und Angst in der Utopie

Zählen und Erzählen

Unsere erste Rechenmaschine ist die Hand. Mit Fingern, das heißt digital, haben wir immer gerechnet. Seit wir aufrecht gehen, haben wir Zeit und Raum zum Bezeichnen und damit zum Zählen. Bis heute gibt es Kulturen, die mit Fingern, Händen und Zehen rechnen. Im Mittelalter etwa bedeutete der geschlossene Kreis zwischen Daumen und Zeigefinger 100. Die Scheiben oder Kugeln am Abakus können als ausgelagerte Fingerknöchel gedeutet werden.

Der Mensch ist ein messendes Wesen, er zählt oft und viel, um sich Orientierung zu verschaffen, etwas zu überprüfen oder zu verkaufen und einzukaufen. Er macht Kerben oder knotet Zahlen, schreibt an und berechnet die Erscheinungen des Mondes (lat. mens, der Monat). Im Deutschen sind Zählen und Erzählen ganz nah beieinander. Zählen heißt ursprünglich, eine Kerbe machen, eine Delle, ein Tal einschneiden, eine Markierung also im Raum. (Daraus wird über den Umweg des böhmischen Namens Joachimsthal eines Tages sogar der Taler und daraus wiederum der Dollar.) Erzählen wiederum folgt dem Präfix er-, was auf eine größere Bewegung in einem Raum verweist (erkunden, erforschen, erraten), nicht einfach auf einen Schnitt. Auch hier kommt die Hand ins Spiel, die das Erzählen begleitet durch Gestik, ja, Gefühle erweckt bei den Hörern, weil sie anrührt oder auch die Welt ertastet, die Erinnerungen beschwört. Das englische Verb to tell gibt noch deutlicher die Identität von erzählen (to tell a story) und zählen (to tell the time) preis.

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