In der nordischen Mythologie gibt es im Bereich der Entstehung und dem Vergehen der Welt einige Motive, die sich durch die Brille der modernen Kosmologie wunderbar interpretieren lassen und von denen ihrer drei in diesem Beitrag dargestellt werden sollen. Das heißt jetzt keineswegs, dass heutige wissenschaftliche Erkenntnisse in den Mythen vorweggenommen wären oder dass die Altvorderen hier tiefere oder prophetische Einblicke in die Natur gehabt hätten, bevor neuartige Beobachtungsmöglichkeiten eine Empirie in dem Sektor überhaupt erst möglich gemacht haben. Wir lesen im Folgenden nichts aus den Mythen heraus, sondern hinein. Das ist aber gerade in der Interpretation von Mythen nichts Ehrenrühriges, sondern im Gegenteil etwas, was den zeitlosen Charakter eines Mythos unterstreicht, kann man doch durch die Applikation heutiger Erkenntnisse an die jahrhundertealte Bilderwelt eben diese Bilder unbeschadet in die heutige Zeit transferieren und so an die Bilder geknüpfte Lehren, gesellschaftlicher oder spiritueller Natur, in die Neuzeit tragen, gar nutzbar machen. Man darf dabei nur nicht vergessen, dass diese Interpretation keinesfalls mit der Vorstellungswelt derjenigen übereinstimmt, die mit diesen Bildern Geschichten erzählt oder sie verschriftlicht hatten, sondern nur unseren eigenen Blickwinkel darstellen. Ein erquickliches Vergnügen ist es dennoch oder auch gerade deshalb.
„Wie wir Menschen aus Riesen gemacht wurden“ weiterlesenRagnarök oder: Von modernen Riesen und jugendlichen Helden
„Die Söhne Thors werden Mjöllnir tragen, zum Schutz gegen neue Feinde. Warum sollte kein Riese überleben? […] Die neuen Asen werden über die Taten in der Vergangenheit reden, wie Thor neun Schritte vor der Midgardschlange zurücktrat und als einziger der alten Götter siegte, wie Odin die Runen erfand und den Dichtermet heimholte. Die Asen werden im Schutt, von Gras überwachsen, ihr Brettspiel finden, das sie lieben. Und sie werden die goldenen Figuren neu setzen, Losstäbe werfen und die Zukunft erforschen.“ (Eine Neue Welt, In: Tetzner, Germanische Götter- und Heldensagen, S. 135)
Die Reise der Helden hat begonnen, sagt die ältliche Supermarkt-Kassiererin mit dem merkwürdig durchdringenden Blick und dem Lächeln, welches stets mehr meint, als es zu sagen scheint. Verrückt sei sie, behaupten die Einwohner der norwegischen Stadt Edda, sind sie es doch seit Jahrzehnten gewohnt, beim Einkauf allerlei prophetische und in ihren Augen unsinnige Bemerkungen zu hören. Auch dem jungen Magne Sejer, unlängst mit seiner chaotisch-neurotischen Mutter und seinem durchtrieben-schlauen Bruder Laurits in den Ort am Fjord gezogen, flößt die Dame Unbehagen ein. Bei ihrer ersten Begegnung hat sie auf merkwürdige Weise seine Stirn berührt und seitdem passiert etwas mit ihm. Magne scheint sich auf eigenartige Weise zu verändern.
„Ragnarök oder: Von modernen Riesen und jugendlichen Helden“ weiterlesenEine Reise zu den Riesen
„Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt,
Die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand;
Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer;
Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.“
(Adelbert von Chamisso, Das Riesenspielzeug)
Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als ich Das Riesenspielzeug zum ersten Mal entdeckte; in einer illustrierten, ziemlich zerfledderten Ausgabe, die allerlei deutsche Balladen zum Inhalt hatte und die auf „westliche“ Umwege in die DDR (genauer gesagt in das an der Elbe gelegene und ganz und gar nicht riesige, sondern vielmehr kleinbürgerliche Torgau) eingereist war. Bis heute ist die Ballade von Adelbert von Chamisso (1781-1838) aus dem Jahr 1831 einer der wenigen Texte, die ich aus dem Stehgreif zitieren kann, sobald ich das Wort „Riese“ höre. Riese, das weckt nicht nur die Assoziation eines Wesens, das sehr viel größer ist als man selbst, sondern auf gewisse Weise auch unerreichbar, mit großer Kraft ausgestattet, über der Welt stehend und diese auch aus einem ganz anderen Blickwinkel wahrnehmend. Etwas, das riesenhaft ist, wirkt unüberwindlich und lässt alles andere im Vergleich dazu klein und unbedeutend erscheinen. Riesen sind auch selten freundlich (geschweige denn menschenfreundlich), sieht man einmal vom „Big Friendly Giant“ (Disney, 2016) ab. Zudem werden die gigantischen Mythen- bzw. Fantasie-Zweibeiner öfter als dümmlich charakterisiert. Man denke da an den armen Grawp oder Grawpy aus Harry Potter, den Bruder des halbriesigen Rubeus Hagrid, der Hermine mit einer Fahrradklingel zu beeindrucken sucht. Im Grimmschen Märchen Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen kegelt der Protagonist gar mit den Köpfen von Riesen um die Wette.
„Eine Reise zu den Riesen“ weiterlesen