Schöpfung, Helden, Ethik und Utopie: Zu Alexander Rauchs „Mythos im Judentum“

Einige der bekanntesten Themen der Hebräischen Bibel (des Alten Testamentes) sowie der talmudischen und rabbinischen Schriften zu hinterfragen, ob in ihnen nicht auch ein mythischer Kern stecke, hat sich Alexander Rauch mit seinem Buch Mythos im Judentum vorgenommen, das 2021 in der Reihe „Kleines Mythologisches Alphabet“ des Leipziger Verlages Edition Hamouda erschienen ist.

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Wir sind Legion – Ein Besuch bei Beelzebub und Freunden

Es sind nicht mehr als einhundert Kilometer von Vilnius nach Kaunas, aber mein Zug braucht mehrere Stunden für die Strecke, bummelt durch die flache Landschaft zwischen Wäldern, Wiesen, Seen und Sümpfen dahin. Wenn ich mich zurücklehne und die Augen schließe, sehe ich die baltische Landschaft trotzdem, sie ist ein Bernstein zwischen Meereskieseln, stumpf an der Oberfläche, schimmernd im Inneren, fest und weich zugleich. Eingeschlossen im erstarrten Harz wie Insekten liegen behütet die Städte zwischen Meer und Kiefern, zwischen Sümpfen und Sand. Eine ruhige, friedliche Landschaft, schwer vorstellbar, dass sich hier die Heimat des Bösen befinden soll.

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Eine Auslotung des modernen Geistes: Linus Hausers „Kritik der neomythischen Vernunft“

Kurz gesagt: Ich will die hohe Bedeutung eines sich szientistischer und technizistischer Metaphern bedienenden neuen religiösen Denkstils für die Moderne aufweisen. […]. Es wird sich herausstellen, dass sich in naturwissenschaftlichen Eliten eine Art doppelter Wirkungsgeschichte von Ideen ereignet. In einem wechselseitigen Inkognito ist der geniale Nobelpreisträger zugleich banalstem religiösem Gedankengut anhängender Neomythologe […].“ (Hauser Bd. 1, S. 23)

In meinen bisherigen Beiträgen habe ich schon öfters auf sogenannte „Neomythen“ bzw. „neomythische“ Denkweisen verwiesen, um gewisse Impulse moderner bzw. gegenwärtiger Erzählungen zu charakterisieren. Diese Begrifflichkeiten und das zugrundeliegende Konzept stammen von dem eben zitierten Gießener Theologen und Philosophen Linus Hauser, der sich mit dem Thema in seinem Großwerk intensiv auseinandergesetzt hat. Ich möchte diesen Beitrag nutzen, um darüber einen knappen Überblick zu geben. Es ist freilich nicht durchführbar, ein dreibändiges Werk mit knapp 2000 Seiten auf vier Standardseiten zu ca. 400 Wörtern erschöpfend vorzustellen, gerade hinsichtlich des mehr als 200 Jahre umfassenden ideengeschichtlichen Horizonts, den Hauser eröffnet und der wesentlich in der Abarbeitung exemplarischer Persönlichkeiten besteht. Ich hoffe dennoch das Wichtigste vermitteln und den einen oder anderen Leser anregen zu können, die Hauptideen zu durchdenken oder die „Kritik der neomythischen Vernunft“ einmal zur Hand zu nehmen.

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Ordnung, Opfer und Unsterblichkeit: Ein Rundgang durch das Ägyptische Museum in Leipzig

Unsere Oktober-Exkursion führte das Team vom MYTHO-Blog ins Ägyptische Museum der Universität Leipzig, genauer genommen in die Sammlung des in Dessau geborenen Ägyptologen Georg Steindorff (1861-1951), der auf seinem Fachgebiet nicht nur als einer der führenden Gelehrten seiner Zeit galt, sondern in den Jahren 1923/24 auch das Amt des Universitätsrektors innehatte. Die umfangreichen Ausstellungsstücke, welche der Besucher auf drei Etagen in den ehemaligen Bankräumen des Leipziger Krochhochhauses bestaunen kann, stammen aus Ausgrabungen in und um Gizeh, Aniba (südlich von Assuan) und Qau el-Kebir (Mittelägypten). Ein Großteil der Sammlung umfasst dabei Kleinkunst des Grab- und Hausgebrauchs vom Alten Reich bis in die Ptolemäerzeit. Zunächst Teil der privaten Gelehrtensammlung, verkaufte Steindorff eine Vielzahl der Objekte 1936 an die Universität, ehe er aufgrund seiner jüdischen Herkunft dauerhaft in die USA emigrierte.

Auf der Führung durch die Sammlung hatten wir nicht nur das Gefühl in eine für uns fremd und doch erstaunlich nahbar wirkende Zeit und Kultur einzutauchen, sondern wir erfuhren auch so manch Bekanntes, aber auch Neues. Ein spannender Rundgang, den wir angesichts der aktuellen Corona-Restriktionen, gern mit unseren Leserinnen und Lesern teilen möchten.

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Der Mythos Seuche oder: Die Epidemie in der Mythologie

Während uns gerade ein Phänomen und vielleicht schon ein Mythos namens Coronavirus in seinen mephistophelischen Fängen hält und eine goethianische Entschleunigung des gesamten gesellschaftlichen Lebens bewirkt, überschlagen sich Politiker und die sie beratenden Wissenschaftler und Mediziner in einer veloziferischen Orgie von Maßnahmen. Ohne selbst innezuhalten und zu denken, zu reflektieren, so scheint es manchmal. Gefangen in einer weltweiten Dynamik wird die Pandemie eines Atemwegserkrankungen auslösenden Virus, wie sie uns jährlich in Form der Influenza begegnet, zu einer Pandemie der Bewusstseins- und Gesellschaftsveränderung.

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Von heiligen Wassern und gesponnenen Fäden – Gedanken über das Schicksal

Es ist eine gewaltige, immer-sprudelnde Fontäne aus Wasser inmitten einer Höhle, schlicht, abgelegen, vergessen und blutrot funkelnd, wenn ein Sterblicher in ihr umkommt. Die Macher des Films Sindbads gefährliche Abenteuer aus dem Jahr 1973 (Regie: Gordon Hessler) haben einiges an Effekten auf die Darstellung des Schicksalsbrunnens verwendet, welchen die Reisenden um den legendären Kapitän am Ende ihres vorherbestimmten Weges aufsuchen müssen. Schicksal, Schicksal, Schicksal hat zuvor schon das Allwissende Orakel in seinem Tempel prophezeit. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss. Die Helden besiegen das Böse im letzten Moment. Dabei wird alles noch einmal in die Waagschale geworfen: Tod und Leben, Liebe und Hoffnung, Mut und Opfer. Ein wunderbarer Film, der mich seit meiner Jugend begleitet. Dem Schicksalsbrunnen wohnt darin eine eigene, unberechenbare und doch wissende Kraft inne, obwohl das Motiv in einer Sindbad-Geschichte überraschen mag. Denn Schicksalsquellen sucht man in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht vergeblich. Schon eher wird man dazu in der Nordischen Mythologie fündig. Dort wird der Schicksalsbrunnen meist als Urdabrunnen (Urdbrunnen) bezeichnet. Im Gylfagynning, einem Hauptteil der in Prosa verfassten Snorra-Edda, die auf den isländischen Skalden Snorri Sturluson (1179-1241) zurückgeht, heißt es dazu:

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Zwischen Mythen, Religion und Geschichte – Eine Reise nach Israel

November/Dezember 2019

Am Bahnhof von Tel Aviv: ein junger Israeli, Rucksackreisender, mag Deutschland, lernt Deutsch und versucht zwei jungen Deutschen zu erklären, dass sie eine Kultur haben. Wir, eine Kultur? Haben wir nicht! Ich würde dir nie empfehlen, Deutsch zu lernen, sagt die junge Frau. Warum lernst du Deutsch?

– Warum soll ich nicht Deutsch lernen? Etwa weil ich Jude bin?

– Oh nein, sondern, weil es so schwer ist. Der, die, das und so weiter!

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Streit um Babel-Bibel, oder: Was man mit einem Mythos machen kann

In den Jahren 1902 bis etwa 1904 tobte ein Streit, der, wie einer seiner Protagonisten mit leichter Übertreibung rückblickend feststellte, die Gebildeten von Kalkutta bis Kalifornien und von Norwegen bis Kapstadt sowie in Deutschland breite Volksmassen erregte (Lehmann, S. 52). Ausgelöst worden war er von dem international renommierten Assyriologen Friedrich Delitzsch (1850 – 1922), Professor für Orientalische Philologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) zu Berlin und Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen, die später Teil des Pergamonmuseums werden sollte.

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Streit um Mount Shasta

Landschaften sind untrennbar mit der Praxis traditioneller indianischer Religionen verbunden. Im Gegensatz zum Christentum sind tribale Religionen nicht theologisch im Sinne der Gesamtheit göttlicher Wahrheiten. Das Fortbestehen traditioneller indianischer Religionen ist nur durch Zeremonien und Rituale gesichert, die häufig an speziellen Plätzen durchgeführt werden. Diese Plätze können Orte sein, an denen Geister leben oder die als Brücken zwischen der profanen Welt und dem Heiligen dienen.

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„Wir haben keine Mythologie …

Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“ (Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie)

Es sei Zeit für eine „neue Mythologie“ postulierte der Philosoph, Schriftsteller und Altphilologe Friedrich Schlegel (1772-1829) in seiner 1800 erschienenen „Rede über die Mythologie“, die Teil des „Gespräch[s] über die Poesie“ ist, eine Mythologie, die es verstünde, „eine alle Schichten der Gesellschaft verbindende geistige Kultur zu realisieren“ (Stolzenberg, S. 73 ff.) und dabei die Poesie nicht nur als Mittel zum Zweck erkläre, sondern als höchste Instanz und Ausdrucksform des Realismus. „Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode“ (Schlegel, Rede. S. 174). In der Mythologie also, fließt alles zusammen. Die Frühromantik suchte nach einer Mythologie, die den philosophischen Reflexionsstand der Gegenwart veranschaulichte. Das, was die Natur und den Menschen antreibt, sollte ästhetisch greifbar gemacht werden. Eine utopische, wenn auch verständliche Sinnsuche, bedenkt man, dass mit der Aufklärung und dem rasanten Aufstieg der Naturwissenschaften das „Alte“, in dem sich vor allem die Religion verankert fand, zunehmend an Bedeutung verlor. Die Mythologie als Brücke also sollte es sein, als moderne Memoria und als Wegbereiterin des „Neuen“.

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Verbotene Früchte

Es ist wohl die bekannteste Geschichte um Verbot, Verführung und Vertrauensbruch des christlichen Abendlandes: Von allen Bäumen im Garten Eden durften Adam und Eva essen, außer von einem. Der “Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen” (1. Mose, 2:9) wird er genannt. Auf Einflüsterung der Schlange pflückt Eva aber doch eine Frucht von seinen Zweigen und teilt sie mit ihrem Mann, worauf das Menschenpaar des Paradieses verwiesen und die Erbsünde über die Menschheit gebracht wird.

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Person und Mythos – Die heilige Elisabeth von Thüringen

„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Dies ist die Lebensbeschreibung und die Legende der gottseligen St. Elisabeth, der Tochter des edlen Königs von Ungarn, die nach Gottes Willen und Fügung mit dem edlen Fürsten Landgraf Ludwig von Thüringen vermählt wurde.” (Leben und Legende, S. 7)

Mit diesen Worten beginnt der Dominikaner Dietrich von Apolda (vermutlich 1230-1302) seine Vita, welche zwischen 1289 und 1291 entstand: die Vita der heiligen Elisabeth von Thüringen. Diese schillernde Gestalt des Mittelalters, heilige Landespatronin von Thüringen und Hessen, erfährt hier eine Aufarbeitung im Sinne von “Leben und Legende”: neben den Fakten finden sich viel Erzählstoff und Geschichten um die Person Elisabeth von Thüringen, die zur Bildung eines unverkennbaren Mythos führten.

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Verwandlung

„Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue
Körper, so treibt mich der Geist. Ihr Götter, da ihr sie gewandelt,
Fördert mein Werk und lasset mein Lied in dauerndem Flusse
Von dem Beginne der Welt bis auf meine Zeiten gelangen!”

(Ovid, Metamorphosen, Buch 1, Vs. 1-4)

Alles um uns herum befindet sich in steter Veränderung. Jeder Aspekt unseres menschlichen Lebens führt uns das Tag für Tag vor Augen, und dennoch tun sich die meisten Menschen mit Veränderungen eher schwer. “Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefasst sein”, sagte Johann Wolfgang von Goethe, wobei er wohl eher auf den eben beschriebenen, täglichen Umgang mit dem steten Fluss des Neuen anspielt, als die Verwandlung einer jungen Frau in eine Kuh.

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