Jay Mendelsohn, ein 81-jähriger Mathematiker und Computerwissenschaftler im Ruhestand, nimmt 2012 an dem Seminar über Homers „Odyssee“ teil, das sein Sohn Daniel Mendelsohn im Frühjahrssemester an dem kleinen, aber feinen Bard College in der Nähe von New York gibt. Anschießend machen beide eine Mittelmeer-Kreuzfahrt, die den Spuren des Helden dieses mehr als zweieinhalb Jahrtausende alten griechischen Epos folgt. Anders als Odysseus, der nach vielen Irrungen und Abenteuern schließlich auf seiner heimatlichen Insel Ithaka landet, erreichen sie dieses Ziel aber nicht, da aufgrund von Streiks im Zuge der griechischen Wirtschaftskrise die Reiseroute geändert werden muss. Ein Jahr nach Beginn des Odyssee-Seminars erleidet der alte Herr einen Schlaganfall, der ihn ins Pflegeheim bringt, wo er sich eine Infektion zuzieht, an der er stirbt. So einfach lässt sich die Handlung von Daniel Mendelsohns Roman „Eine Odyssee“ zusammenfassen, dessen amerikanische Originalausgabe 2017 unter dem Titel „An Odyssey. A Father, a Son and an Epic“ bei Alfred A. Knopf, New York, erschienen ist und dessen deutsche Übersetzung der Siedler-Verlag (München) 2019 herausbrachte. Aber so einfach ist es nicht …
„„Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich“ – Wie ein Roman eine klassische Dichtung ins Heute holt“ weiterlesen"Ich bin Circe" – Weibliche Irrfahrten durch die Griechische Mythologie
Fast jeder kennt die Irrfahrten des Odysseus, von denen der griechische Dichter Homer in seiner „Odyssee“ berichtet. Gemeinsam mit der „Ilias“ gehört das Epos sowohl zu den ältesten als auch zu den berühmtesten Dichtungen der abendländischen Literatur. Folgt man der Poetik des Philosophen Aristoteles, ist der Inhalt schnell erzählt: „Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohn nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde“. (Aristoteles, Poetik, 17)
„"Ich bin Circe" – Weibliche Irrfahrten durch die Griechische Mythologie“ weiterlesen„Leicht ist der Abstieg zur Unterwelt“ – Eine mythische Reise unter Tage
Der Begriff „Unterwelt“ weckt in uns verschiedenste Assoziationen. Manch einer verbindet damit etwas Düsteres, Kriminelles; eine Parallelwelt, in der Menschen leben und wirken, die sich einen eigenen Raum fernab gängiger Normen und Gesetze geschaffen haben. Für andere bedeutet „Unterwelt“ ein Ort unter Tage, fernab vom Licht, bedrückt von Enge und Mangel an frischer Luft, wie es über Jahrhunderte lang im Kohle- und Erzbergbau der Fall gewesen ist. Die „Unterwelt“ ist also eine räumliche Abgrenzung von der Welt, die wir kennen, die den Besucher mit besonderen Begebenheiten und Ansprüchen konfrontiert. In kultureller und mythischer Deutung ist sie auch die Welt, in der die Seelen der Verstorbenen nach dem Tod einziehen und leben, ein Reich, das für den Sterblichen verschlossen bleibt. Sie ist eine Vorstellung, ein Konstrukt, das wir uns in Geschichten und Legenden imaginieren und bevölkern. Vielleicht, um uns dadurch unsere Angst vor dem Dunkeln (und die Unterwelt wird mit Dunkelheit per se in Verbindung gebracht), dem Unbekannten, dem Unterbewussten in uns selbst und in unserer Umwelt einen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht auch, um uns das Wissen um den Tod, der letzten Schwelle zum Unbekannten, die uns allen vorherbestimmt ist, erträglicher zu machen. Der Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung (1875-1961), hat die „Unterwelt“ mit den sogenannten Mutterarchetypen in Zusammenhang gebracht; das Gebärende, Fruchtspendende und Leben bringende einerseits, schließt andererseits das Geheime, das Finstere, Todbringende und Abgründige wie in einem Kreislauf mit ein. Oder, wie es die Alchemisten, ausgehend von ihrer mythischen Schrift, der Smaragdtafel des Hermes Trismegistos, auszudrücken wussten: Das Oberen ist das Untere. Das eine existiert nicht ohne das andere. Das passt in die dualistische Vorstellung, die dem Menschen zu eigen ist, man denke da an Gut und Böse, Groß und Klein, Laut und Leise, Himmel und Hölle, Schwarz und Weiß etc. Und so muss es – fast zwangsläufig – neben der Oberwelt auch einen Ort jenseits davon geben.
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