Symbolon – Europas Kinder auf Reisen: Eine Erzählung von Florian Russi

Was ist Europa? Die Frage scheint so simpel wie kompliziert. Europa, das ist der zweitkleinste Kontinent der Erde mit drei Zeitzonen, derzeit siebenundvierzig unabhängigen Staaten und über siebenhundert Millionen Einwohnern. Europa assoziieren wir im Allgemeinen mit dem „Abendland“, das, der in der Schule vermittelten geographischen Definition zufolge, im Westen vom Atlantik und im Osten vom Ural respektive dem Kaukasus eingefasst wird. Europa ist die Geburtsstätte mehrerer Weltreiche, Schauplatz unzähliger Konflikte und Auseinandersetzungen, Ursprung zweier Weltkriege und infolgendessen auch der Ursprung der Europäischen Union, einer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, der bis heute achtundzwanzig Staaten angehören, wobei neunzehn davon mit dem „Euro“ auch einen einheitlichen Währungsraum bilden. Europa, das ist eine Idee, wie es der französische Journalist Bernard-Henri Lévy postuliert hat, die Wiege der abendländischen Kultur, vor allem aber ist Europa ein ureigener Mythos.

Für den Autor Florian Russi bildet dieser Mythos um den griechischen Göttervater Zeus und die phönizische Königstochter Eurṓpē (altgriechisch „Εὐρώπη“) den Ausgangspunkt seiner 2019 im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Erzählung „Symbolon – Europas Kinder auf Reisen“. Diese Reise beginnt zunächst in der Gegenwart, in der ein junges Paar während eines Aufenthalts auf der Mittelmeerinsel Kreta die Bekanntschaft mit einer älteren Dame schließt, welche vielleicht nicht ganz das ist, was sie zu sein scheint, es sich aber nicht nehmen lässt, den beiden eine Geschichte zu erzählen.

Zeus, oberster Gott des griechischen Pantheons, war von der Schönheit und Reinheit der jungen Eurṓpē derart verzückt, dass er sich in einen Stier verwandelte, um sich ihr anzunähern. Neugierig und vom Duft des Tieres betört, beschloss Eurṓpē, auf dem Stier zu reiten, woraufhin dieser mit ihr davoneilte und die Königstochter nach Kreta entführte. Dort gebar sie Zeus drei Söhne: Minos (den Begründer der minoischen Kultur), Radamanthys und Sarpedon. An dieser Stelle nun entspinnt Florian Russi, der neben Jura auch Philosophie und Kommunikationswissenschaften studiert hat und seit 2004 märchenhafte und mythische Erzählungen, Fabeln und Philosophenbiografien veröffentlicht, das Abenteuer. Zeus übergibt seinen Söhnen Radamanthys und Sarpedon ein sogenanntes „Symbolon“, eine Tonscherbe, und schickt diese damit auf eine besondere Reise, wobei Reise in diesem Fall nicht nur einen Aufbruch ins Leben oder das Erwachsenwerden meint, sondern einem sowohl göttlichen als auch irdischem Zweck dienen soll.

Das „Symbolon“ vereint in der griechischen Antike eine ganze Reihe von Bedeutungen: Es war Erkennungszeichen, Teilnahmemarke für Gerichtsverhandlungen oder die athenische Volksversammlung. Es konnte aber auch eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung für Fremde repräsentieren und war darüber hinaus ein Zeichen der Freundschaft respektive der Gastfreundschaft, was auch die ursprüngliche Bedeutung von „Symbolon“ gewesen ist. Man brach eine Tonscherbe, um einander später wiederzuerkennen und sich vor allem zu erinnern. Eben diese Bedeutung hat das „Symbolon“ in Russis Erzählung. Einst teilte Zeus eine Tontafel mit dem nordischen Göttervater Odin, dem keltischen Gott Teutates und dem slawischen Gott Perun; ein Zeichen des gegenseitigen Respekts sowohl gegenüber den Göttern als auch den Menschen. „Sollte die Zahl der Erdbewohner jedoch zunehmen, wollten wir uns erneut treffen und nach Wege suchen, wie wir uns verständigen und gegenseitig helfen könnten.“

Eben jenes Treffen zwischen Göttern und Menschen ist es, das Radamanthys und Sarpedon vorbereiten helfen sollen, indem sie sich auf die Suche nach den übrigen Tonscherben begeben. Von vier Gefährten begleitet und mit drei magischen Schriftrollen im Gepäck machen sich die Brüder auf den Weg. Radamanthys wählt den Seeweg für seine Reise, die ein wenig an die Irrfahrt des Odysseus erinnert. So durchquert er die Säulen des Herakles (bei Russi „die Säulen des Bal“), muss sich dem vielköpfigen Schlagenungeheuer Pyra (Hydra) stellen, landet in der Inselstadt Atris (die an das legendäre Atlantis erinnert), unternimmt eine Fahrt in die Unterwelt (Hades), bereist die Geisterwelt der keltischen Feen, begegnet seiner großen Liebe, die er trotz des Einsatzes seiner Zauberrollen nicht retten kann, da die Götter ihren Tod schicksalhaft bestimmt haben, und wird dabei beständig mit Bräuchen und Riten, Mythen und Geschichten konfrontiert.

So begegnen Radamanthys und seine Gefährten dem fiktiven Volk der Asuri, die jedes Jahr in einer bestimmten Nacht ein Fest begehen, an dem die Lebenden und die Toten gleichermaßen teilhaben. Allerdings ist diese Feier nicht von Traurigkeit, sondern von Fröhlichkeit und Erinnern geprägt.

„Am folgenden Morgen versammelten sich die Bewohner der Umgebung rund um den Tanzplatz. Dann traten einige feierlich ein paar Schritte zurück und öffneten den Zugang zum Inneren des Platzes. In würdevoller Haltung schritten nun die Toten ein. Einige trugen weiße Kleider, andere bunte Laken oder auch Felle, so wie sie es wohl zu ihren Lebenszeiten gewohnt waren. Einige waren unbekleidet. Sie waren reine Skelette. Die Trommeln wurden geschlagen und Flöten und Saiteninstrumente gespielt.“

Russi erweckt hier das Motiv des Totentanzes, welches vor dem Hintergrund der ersten Pestwellen des 14. Jahrhunderts in der bildenden Kunst Einzug hielt, allegorisch zum Leben. Der Tod ist allen gewiss. Der Tod unterscheidet nicht zwischen Arm und Reich und er fragt nicht nach Stand, Macht oder Alter. Man kann dem Tod nicht entkommen, darf ihn aber nicht nur mit Trauer, sondern auch mit Fröhlichkeit begegnen. Dabei schreibt Russi dem Totentanz zugleich das Motiv des „Día de Muertos“ (Tag der Toten) aus dem altmexikanischen Glauben ein, wo die Lebenden mit den Toten sinnbildlich gemeinsam speisen, tanzen und „beisammen sind“.

Ganz dem Symbolhaften verpflichtet, wie es der Titel der Erzählung bereits vorwegnimmt, ziehen sich Motive aus europäischen Mythen und Sagen durch Russis Geschichte. Der Autor unternimmt es, aus den Elementen verschiedener Mythologien sozusagen einen Hyper-Mythos zu schaffen, den Mythos des vereinten Europas. Es geht um die Suche nach den Wurzeln von Götter, Menschen und Gemeinschaft, der Überwindung von Gefahren, und der Begegnung mit dem Fremden, das letztendlich vertrauter erscheint, als die Vorstellung es zunächst vermuten lässt. So begegnet der mit einer Eselskarawane über Land reisende Sarpedon dem Zwerg Miko, welcher den Zeussohn bei der ersten Begegnung um einige der mitgeführten Schätze erleichtert. Wütend nimmt Sarpedon die Verfolgung des Diebes auf.

„Der Zwerg lief über eine Wiese auf einen Wald zu. Bevor er den erreichen konnte, musste Sarpedon ihn gestellt haben. So sehr er sich jedoch sputete, blieb der Abstand zwischen ihm und dem Verfolgten der gleiche. Je länger die beiden durchs Gelände rannten, umso mehr kam es Sarpedon so vor, dass der kleine Mann immer mehr an Größe zunahm. Schließlich, als sie beim Wald angekommen waren, drehte sich Miko zu ihm um und wuchs vor seinen Augen zu einem Riesen heran.“

Aus der anfänglichen Gefahr und der Angst wächst nach und nach Zutrauen zwischen den beiden. Miko ist es gar, der Sarpedon eine magische Flöte überreicht, mit der er ihm zu Hilfe eilen kann. Zudem führt der Zwerg die Reisenden zur Quelle der Weisheit, die ihnen Glück, Erkenntnis und das Streben nach Gerechtigkeit verheißt. Damit formuliert Florian Russi auch das Grundanliegen seiner Erzählung, denn wie der Rückentext bereits andeutet, sind Verweise auf die unmittelbare Gegenwart absichtlich in den antiken Plot eingewoben.

Bereits seit seiner Jugend beschäftigt den früher als Richter arbeitenden und heute als Vorstandsvorsitzenden des Trägerwerks Soziale Dienste tätigen Autor die Geschichte, vor allem aber auch die Idee von Europa, welche durch die Herausforderungen der letzten Jahre, man denke da an Finanzkrise, Flüchtlingsströme und den Aufstieg rechtsorientierter Regierungen, in den Hintergrund gerückt zu sein scheint. Allegorisch hat Russi anhand der Reisegeschichten der Brüder Radamanthys und Sarpedon seinem Text jene Symbole und Motive eingeschrieben, die wir mit Europa verbinden bzw. als „europäisch“ assoziieren. Motive aus Kultur, Literatur, Musik, Götterwelt, Philosophie – manche bekannt, andere unbekannt. Am Ende steht nicht nur die Frage, wie Menschen und Götter sich quasi aneinander annähern oder gemeinsam gerecht miteinander umgehen und herrschen können. Es geht auch indirekt um die Frage nach Europas Ursprüngen, den Wurzeln und Gründungsmythen.

Auffällig ist dabei, dass Russi die gesammelten Geschichten auf den Reisen der beiden Brüder mit dem Handel verbindet. Handel ist das, was – aller Unterschiede zum Trotz – andere Länder und Gemeinschaften miteinander verbindet. Handel überwindet auch das Fremdsein, denn es bricht neue Tonscherben und kann aus Zwergen Riesen machen. Mit dem Handel verbreiten sich Nachrichten. Mit den Nachrichten reisen aber auch Geschichten. Der Handel erzeugt für Russi das eigentliche Gewebe, das Götter und Menschen näher zusammenbringt. Damit knüpft der Autor nicht nur an das Motiv des historischen Wirtschafts- und Warenaustausches an, das nachweislich bereits in der Antike florierte und nicht nur die Regionen des späteren Kontinent Europas, sondern auch Ägyptens und des Nahen Ostens miteinander verband, er verweist ebenso auf das Prinzip des Kulturtransfers, der sich nachweislich durch Gemeinsamkeiten in den Vergleichen der Ursprünge von „Götterbiografien“ wie etwa der von Aphrodite oder Zeus belegen lässt.

Ob es den beiden Brüdern am Ende gelingt, das Treffen zwischen Göttern und Menschen zu bewirken und, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, sollte jeder in der Lektüre selbst entdecken. Denn Russi nimmt nicht nur Radamanthys und Sarpedon mit auf die Reise, sondern ebenfalls den Leser, der nicht nur mit Mythen und Motiven aus der Geschichte und Kultur Europas konfrontiert wird, sondern dabei auch stets das gegenwärtige Europa zwangsläufig mit vor Augen hat.

Vielleicht ist es an der Zeit für uns, wieder ein paar Tonscherben zu brechen. Und obwohl viele Orte, Personen, Götter, Halbgötter, Monster, Fabelwesen und Naturgeschöpfe bei Russi Allegorie bleiben, schillert der Kern der Gedanken doch immer wieder durch. Wo kommen wir her und wo gehen wir hin und was ist nun eigentlich Europa? Das ist das Gute an Reisen, dass sie doch im Grunde nie enden.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweis:

Florian Russi. Symbolon. Europas Kinder auf Reisen. Mitteldeutscher Verlag: Halle/Saale, 2019.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Symbolon – Europas Kinder auf Reisen: Eine Erzählung von Florian Russi“

  1. „Was ist Europa?“

    Das ist eine Frage, die sich nicht pauschal beantworten lässt. Heute würde ich Europa als Subkontinent beschreiben, der mit Asien den Kontinent Eurasien bildet. Kulturell, wirtschaftlich, ideell, politisch und politisch wird Europa allerdings als Kontinent wahrgenommen. Weltberühmt ist die Europäische Union (EU) mit aktuell 27 Mitgliedsstaaten (Stand März 2022). Der Start war Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (Römische Verträge 1957).

    Betrachten wir Europa als eigenständigen Kontinent, so hat dieser mehr als 700 Millionen Einwohner.

    Europa hat allerdings sehr viele Mythen zu bieten, die sich auf die Antike beziehen. So gelten die griechischen Stadtstaaten der Antike als Wiege Europas, siehe dazu die minoische und mykenische Kultur.

    Extrem spannend ist natürlich der Mythos der phönizischen Europa, die von Zeus als Stier auf die griechische Insel Kreta entführt wurde ->

    https://www.mythologie-antike.com/t85-europa-eponyme-heroine

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