„Und wie vor Jahrtausenden erzählt uns jede Nacht der nächtliche Himmel die immer wieder neue Geschichte von dem Leiden der Königstochter Andromeda, er erzählt uns von der Strafe ihrer Eltern und der Erlösung durch den jugendschönen Perseus und all die vielen Geschichten, die bewusster gelehrter Sternglaube und volkstümliche Weiterdeutung vor nahezu 2500 Jahren an den Himmel gezaubert haben.“
(Wilhelm Gundel: Sterne und Sternbilder im Glauben des Altertums und der Neuzeit, Bonn & Leipzig 1922, S. 80)
Die Sterne beherrschen das Firmament der Nacht. Antiken Vorstellungen zufolge unterliegen das Leben und Schicksal der Menschen dem Einfluss der Gestirne. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Sternbilder den damaligen Lebensbereichen der Griechen entspringen, wie dem Meer und der Schifffahrt, der Welt der Jagd sowie dem bäuerlichen Bereich. Zahlreiche Sternbilder, deren Bedeutung sowie göttlichen Eigenschaften und Einwirkungsmöglichkeiten sind eng mit mythischen Vorstellungen verknüpft. Die natürlichen und wiederkehrenden Zyklen von Sonne, Mond und Sternen als ordnender Teil der Welt fanden Einzug in die europäische Erzähltradition.
Ein Auszug des Mythos um Perseus zeigt die enge Verknüpfung zu den Sternbildern, aus denen wir mehrere Gestalten aus der heutigen Astronomie kennen, und erzählt gleichzeitig von der Entstehung eines Sternenbilds. Nachdem der Held Perseus der Gorgone Medusa den Kopf abschlägt und unter Anwendung seiner drei erhaltenen Zaubergegenstände – Tarnkappe, Zaubertasche, Flügelschuhe – entkommt, landet er in Äthiopien. Hier rühmt sich zuvor die Königin Kassiopeia damit, schöner als die Nereiden zu sein, woraufhin der Meeresgott Poseidon mit einer Sturmflut ein Seeungeheuer, den Walfisch Keto, ans Land schickt, der Menschen und Tiere verschlingt. Ein Orakelspruch verheißt Rettung, wenn die schöne Tochter Andromeda dem Unhold geopfert werde. An einen Felsen gekettet wird sie ihrem Schicksal überlassen. Doch Perseus, der indes davon erfahren hat, erscheint auf dem göttlichen Pferd Pegasus, das aus der Kehle der Medusa entsprang und tötet das Ungeheuer mit Hilfe des Hauptes der Medusa. Anschließend heiratet er die schöne Andromeda. Ihre Mutter Kassiopeia wird zur ewigen Strafe aufgrund ihrer vermessenen Prahlerei verstirnt, während viele andere Gestalten der griechischen Mythologie von geneigten Göttern zur Belohnung oder Rettung ihren ewigen Weg als Sternbild ans Firmament finden.
Schöpfungsmythen und Erzählungen vom Ursprung der Sterne weisen bei vielen Völkern erstaunliche Ähnlichkeit auf, wie die Vorstellung von Sternen als Elemente aus Feuerfunken. Manchmal werden Sterne als Lampen oder Löcher, Fenster oder Luken in der Himmelsdecke gedacht sowie als Gegenstände aus Gold und Silber oder besetzt mit Rubinen und Diamanten. Konträr dazu besteht die Idee des Himmels als Ozean, wodurch Sterne – wie bei den Azteken – als Fische gedeutet wurden oder wie im alten Ägypten fahrend in Booten über das Himmelsmeer.
Ätiologische Märchen erklären, wie Himmelskörper an den Himmel kamen, was sie bedeuten und wie sie ihren Namen erhielten. In einem dieser Märchen aus Rumänien, in dem die Erde noch in Dunkelheit gehüllt ist, erhält ein Mädchen allnächtlichen Besuch von einem Unbekannten. Um herauszufinden, wer sie besucht, bestreicht sie ihre Brust mit Ruß. Mit Entsetzen stellt sie fest, dass ihr Bruder einen Kreis aus Ruß um seinen Mund trägt. Sie und ihre Eltern sind so erbost, dass der Bruder in den Himmel rennt. Das Mädchen folgt ihm. Im Himmel verwandelt sich der Knabe in den Mond, das Mädchen in die Sonne und die emporwirbelnden Funken in die Sterne. Seitdem verfolgt die Sonne stets den Mond, der sich im Dunkeln hält, um nicht entdeckt zu werden.
Fallende Sterne können zu einer magischen Empfängnis, Conceptio Magica, führen, oder anzeigen, dass jemand sterben wird. Sie können sich in Menschen verwandeln oder Menschen werden als Strafe in einen fallenden Stern verwandelt. Ein Held kann einen Stern in Form eines Mädchens heiraten. In Märchen erscheinen Himmelskörper als freundliche Ratgeber, Führer und Helfer. Sie steigen aus Mitleid vom Himmel herab, trösten verlassene Kinder und verzweifelte Menschen, zeigen dem hoffnungslosen Jäger einen ergiebigen Waidbezirk, geben wunderbare Geschenke oder dienen als Schutz bietender Rückzugsort. Als (Erkennungs-)Zeichen zeigt ein Stern auf der Stirn die edle Herkunft an oder ermöglicht einem König, seine Kinder wiederzuerkennen und seine Frau zu finden.
Als Antagonisten treten Sterne unter anderem in dem Eskimo-Märchen Die Schwestern und die Sternenmänner auf. In diesem hat ein Häuptling drei Töchter – eine davon ist sehr fleißig. Die anderen verrichten ihre Arbeit nie gut. Abends jedoch blicken sie zu den Sternen und träumen von einem fernen unbekannten Bräutigam. Eines Tages wachen sie auf und stellen fest, dass sie plötzlich nicht mehr zu Hause sind. Zwei schöne Männer kommen und sagen: „Eure Gedanken haben uns erreicht. Wir haben euch als unsere Bräute zu uns, zu den Sternen geholt“. Am Tag darauf befehlen die Sternenmänner ihren Frauen, sie sollen Zwiebellauch schneiden, dürfen aber nicht die Zwiebeln herausziehen. Nach einigen Tagen harter Arbeit und großem Rätseln ziehen die zwei Schwestern eine Zwiebel heraus und plötzlich sehen sie durch das entstandene Loch ihr Dorf unter sich und sie bekommen Sehnsucht. Sie beginnen heimlich ein großes Seil aus Grashalmen zu flechten. Bei ihrer Flucht werden sie von den Sternenmännern entdeckt, die ihnen fluchend hinterherrufen: „Vergeblich seid ihr geflohen. Wer einmal in der Welt der Sterne war, kann nicht mehr zu den Menschen gehören“ und ihnen das Seil abschneiden, wobei das Seil zur Erde fällt. Auf dem Weg zu ihrem Dorf wollen die Schwestern an einem See rasten, und als sie ihre Füße im Wasser abkühlen wollen, verwandeln sie sich in zwei Sterne.
In dem Märchen „Die drei Spiegel der Zauberin“ ist eine Zauberin sogar in der Lage, Gestirne zu beeinflussen und zu fangen. Mit ihren letzten Atemzügen auf dem Totenbett bietet sie dem Helden an, ihm zu helfen sein Versprechen zu erfüllen, den glänzenden Stern, den silbernen Mond und die glühenden Sonne zu finden. Dazu fängt sie diese in ihren Zauberspiegeln. Im norwegischen Märchen Die schöne Pflegetochter und die drei Flüchtlinge ist eine Frau im Besitz dieser drei Gestirne. Ein Ehepaar bekommt den sehnlichen Wunsch nach einem Kind erfüllt. Da sie so arm sind, dass sie für keine Taufe aufkommen können, geht der Mann auf die Suche nach einem Taufpaten. Nach mehreren erfolglosen Versuchen trifft er eine Frau, die verspricht, sich um die Tochter zu kümmern, aber nur wenn sie die Tochter mitnehmen kann. Sie überlassen ihr das Mädchen. Es lebt bei der Frau und es geht ihr dort sehr gut. Die Frau geht eines Tages auf Reisen. Das Mädchen darf in der Zeit alles tun, außer drei der Zimmer zu öffnen.[i] Als das Mädchen das erste Zimmer öffnet, saust ein Stern an ihr vorbei. Die Frau ist bei ihrer Rückkehr ausgesprochen wütend, aber vergibt dem Kind. Während der nächsten zwei Reisen wiederholt sich dies allerdings, sodass auch Mond und zuletzt Sonne entkommen. Dieses Mal hilft kein Flehen und Betteln. Das Mädchen muss die Pflegemutter verlassen und muss sich zwischen zwei Strafen entscheiden – sie wählt stumm zu sein. Ein Prinz findet sie und nimmt sie zur Frau, weil sie so schön ist. Sie gebärt das erste Kind. Eines Tages wird dies von der Pflegemutter geraubt, dazu benetzt diese die Lippen und eine Hand des Mädchens mit Blut und murmelt: „Wenn du erwachst, wirst du wissen, was Schmerz ist. Das, was du am liebsten auf der Welt hast, wird dir genommen und dich traurig machen wie ich es war, als ich durch deine Schuld den Stern verlor.“ Dies passiert auch mit ihren zwei weiteren Kindern und das Mädchen kann sich nun nicht mehr den Hexenvorwürfen widersetzen und auch der Prinz kann sie nicht retten. Sie wird zum Scheiterhaufen geführt und soll hingerichtet werden. Plötzlich erscheint eine wunderschöne Frau mit zwei Knaben und einem Baby auf den Armen, löst die Fesseln des Mädchens und mit den Worten: „Ich habe die Macht, alles zu nehmen, aber auch die Macht alles zu geben“ gibt sie sich als Mutter Natur zu erkennen, ihre einstige Pflegemutter, gibt ihr ihre Stimme zurück, überreicht die Kinder und verschwindet mit: „Du hast inzwischen erfahren, wie es ist, wenn einer Mutter die Kinder genommen werden. Meine Kinder waren der Stern, der Mond und sie Sonne, die ich durch deine Schuld verloren habe.“
Die Menschen haben schon immer in ihre Erzählungen eingebunden, was sie gesehen haben und was sie beschäftigt hat. So etwas Faszinierendes und Fernes wie die leuchtenden Sterne treten deshalb in so vielen Funktionen in allen Erzählgattungen auf. Der Zauber, der sich aus ihrer Unerreichbarkeit ergibt, spiegelt sich im magischen Auftreten der Sterne in den Märchen wider.
Ein Beitrag von Janin Pisarek
Janin Pisarek ist Erzählforscherin und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte in der historisch-vergleichenden Erzählforschung liegen in Verwandlungen und Mahrtenehen der europäischen Volksmärchen sowie den dämonologischen Sagen und Sagengestalten des deutschsprachigen Raumes. In diesen Bereichen ist sie vielseitig publizistisch aktiv. Seit 2018 ist sie Redakteurin der Zeitschrift Heimat Thüringen. Seit Anfang 2019 ist sie Teil des interdisziplinären Projektes Forgotten Creatures, das Sagengestalten erforscht und vielseitig vermittelt. Bei Rohnstock Biografien managt sie autobiografische Erzähl- und Buchprojekte.
Literaturhinweise:
R. Drößler, Als die Sterne Götter waren. Sonne, Mond und Sterne im Spiegel von Archäologie, Kunst und Kult, Düsseldorf 1976
Verlag Herder [Hrsg.], Griechische und römische Mythologie, Freiburg im Breisgau 1990
H. Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Reinbeck 1974.
Wilhelm Gundel: Sterne und Sternbilder im Glauben des Altertums und der Neuzeit, Bonn & Leipzig, 1922.
Stegemann, Art. „Stern“, In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. VIII, 1935, Sp.458-467.
K. Schier, Art. „Astralmythologie“, In: Enzyklopädie des Märchens, Bd.1, 1977, Sp.921-928.
S. Früh [Hrsg.], Märchen von den Sternen, Krummwisch 2012
Stith Thompson, Motif-index of folk-literature. A classification of narrative elements in folktales, ballads, myths, fables, mediaeval romances, exempla, fabliaux, jest-books, and local legends, Bloomington 1955-1958.
S. Früh [Hrsg.]: Märchen von Hexen und weisen Frauen, Krummwisch 2008.
Anmerkungen:
[i] Dieses Motiv ist besonders bekannt aus dem Märchen vom Mädchenmörder „Blaubart“ (ATU 312) von Charles Perrault, in dem die Protagonistin während der Abwesenheit ihres Mannes eine Tür im Haus nicht öffnen darf, es ebenso aus Neugier und Langerweile tut und dafür bestraft werden soll.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Andromeda ist schon wirklich sehr interessant. Es gibt eine Reihe von „königlichen Sternbildern“ – und dazu gehört auch das Sternbild Andromeda. Es ist natürlich etwas unklar, weshalb es im Rahmen der Mythologien und Religionen sehr oft um die Sternbilder geht. In der griechischen Mythologie ist es so, dass Andromeda nach ihrem irdischen Tod von Athene zum königlichen Sternbild Andromeda erhöht wurde. Weiß der Geier, vielleicht haben die Sterne eine Seele oder sonstwas…. -> https://www.mythologie-antike.com/t137-andromeda-tochter-des-kepheus-cepheus-und-der-cassiopeia-kassiopeia
Hallo Herr Fischer,
eine mögliche Antwort auf Ihre Frage, warum Sterne in Mythen und Religionen oft eine wesentliche Rolle spielen ist die, dass sie über Jahrtausende der nächtlichen Orientierung und Zeitrechnung dienten. Zwei wesentliche Elemente der kulturellen Entwicklung des Menschen und schließlich auch der Seefahrt noch bis vor zwei Jahrhunderten. Die antiken Astralmyten erwecken heute sogar den Eindruck, dass sie in ihrer Zeit Basiselemente allgemeiner und sogar höherer Bildung waren. Sie sind oft so mehrschichtig und hintergründig, dass sie dem Unterstufenschüler zum Erlernen von Lesen, Schreiben und unreflektiertem Deklamieren gedient haben mögen. Die Mittelstufe könnte anhand der Mytheninhalte ausserdem moralisch-erzieherische Aspekte, Recht, astronomische Grundlagen und Geschichtliches erörtert haben. Manche Inhalte aber, so scheint es, erfuhr man erst auf gehobener Bildungsstufe, als Geheimlehre innerhalb mystischer Zirkel wie den Orphikern, als angehender Priester, oder als Mitglied der Eliten.
Eine Vermutung, die darauf basiert, dass schon in der Antike viele der alten griechischen Mythen scheinbar sebst von Poeten, Geschichtsschreibern und anderen Literaten nicht mehr verstanden wurden.
Astralmythen halfen, auswendig gelernt, ein Leben lang dem Seemann sich der einprägsamen Sternbilder zu erinnern, sich an der nächtlichen Abfolge der Sterne, ihrer Höhe über dem Horizont zeitlich und örtlich zurechtzufinden. Selbst mir als modernem Mensch helfen die antiken Sternbilder, mich nachts am Himmel zu orientieren, die ungefähre Lage der Ekliptik zu erkennen, den Polarstern ausfindig zu machen und zwischen Fixsternen und Planeten zu unterscheiden. Freilich nur auf einem ganz einfachen Level als Sternenkieker. Nicht alle, aber einige der Sternbilder erinnern mich beim Betrachten an die mit ihm verbundenen Mythen. Dann staune ich jedes Mal aufs Neue und bin fasziniert von der überragenden Phantasie, die die Erfinder der Sternbilder hatten, gerade bei so markanten Sternbildern wie Stier, Löwe, Jungfrau, Skorpion, Delphin, Nördliche Krone, Schwan oder Orion. Jedesmal geht mir beim Anblick das Herz auf.
MfG
I. Marzahn