Helden. Heroes. Heroen. Als Kind und Teenager wurde ich nicht müde, mithilfe diverser (halb)göttlicher Helden der griechischen und römischen Mythologie dem zuweilen tristen Alltag zu entfliehen. Meine allererste Begegnung mit diesen coolen Typen hatte ich als Schulkind im Alter von 11 Jahren – in den Lesebüchern der fünften und sechsten Klassenstufe fanden sich mehrere phantastische Nacherzählungen griechischer Heldensagen. Ich kämpfte, bangte und litt mit Odysseus und Herakles. Im Kino unserer Kleinstadt lief mindestens einmal jährlich Desmond Davis‘ Film „Kampf der Titanen“ (1981), in dem der tapfere Perseus gegen allerlei furchteinflößendes mythisches Personal antreten muss, ehe er die liebreizende Andromeda zärtlich in seine starken Arme schließen kann.
An Sonn- bzw. Feiertagen tummelten sich im TV-Programm weitere heroische Gestalten; so müssen sich beispielsweise „Jason und die Argonauten“ in Don Chaffeys Verfilmung von 1963 gegen Harpyien, Skelettkrieger, Naturgewalten und die siebenköpfige Hydra zur Wehr setzen. Ray Harryhausens Stop-Motion-Technik hauchte den Kreaturen diverser Filme effektvoll Leben ein. Im Laufe der Jahre wurde die Filmwelt um zahlreiche (Neu)Verfilmungen der klassischen griechischen Sagen reicher, oftmals recht beeindruckend umgesetzt , z.B. mit „Troja“ von Wolfgang Petersen aus dem Jahr 2004, den „Percy Jackson“-Verfilmungen (2010 und 2013) sowie „Hercules“ von Brett Ratner aus dem Jahre 2014 oder „Krieg der Götter“ von Tarsem Singh (2014), um nur einige zu nennen. Batman, Superman und die Helden der Marvel-Filme ergänzen den Kosmos um moderne und modern interpretierte Helden. Oftmals behielt und behält sich der eine oder andere Regisseur jedoch vor, den mythologischen Stoff recht frei zu interpretieren. Hinzu kommen zahlreiche Bücher zum Thema, die die literarische Landschaft bereichern.
Helden also überall.
And then a hero comes along
Ein Held (lateinisch heros, mittelhochdeutsch helt, althochdeutsch helid, altsächsisch helið, altnordisch hǫlðr) „[…] ist einer, der von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärcke begabet, durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben.“ (Zedler, Bd. 12, Sp. 1214 f.)
Soweit, so gut. Helden spielten und spielen in unserem Bildungskanon eine bedeutsame Rolle. Ohne Recken wie Herakles, Odysseus, Jason oder Theseus wären die Götter der Antike den Menschen wohl recht entrückt geblieben. Helden waren und sind eine Art Mittler zwischen den oftmals recht weltfremd von ihren hohen Sphären herunter agierenden Göttern und den Sterblichen hienieden.
Stephen Fry, Schauspieler, Comedian, TV-Moderator, Drehbuchautor, Produzent und Schriftsteller und überaus kreatives Enfant terrible der der britischen Kulturszene, ist es gelungen, die Masse an Neuinterpretationen der griechischen Sagen kongenial zu bereichern. Sein 2018 erschienenes Buch „Mythos. Was uns die Götter heute sagen“ (Aufbau Verlag) erzählt die Geschehnisse auf und um den Olymp auf erfrischend neue und unkonventionelle Weise und eroberte die Bestsellerlisten im Sturm. Im März 2021 erschien es neu als Taschenbuchausgabe.
Mit „Helden. Die klassischen Sagen der Antike neu erzählt“, erschienen 2020 im Aufbau Verlag (Berlin), liegt nun der zweite Teil der als Trilogie angelegten Erzählreihe vor. Teil 3 hat die Geschehnisse rund um den Trojanischen Krieg zum Thema, ist bereits im englischen Sprachraum erschienen und wird sicher bald auch in deutscher Übersetzung im Buchhandel erhältlich sein.
Übermenschlich und doch menschlich
Stephen Fry stellt in „Helden“ sieben Helden und eine Heldin vor, die uns mehr oder auch minder bekannt sind: Perseus, der die Medusa köpft und das Seemonster Ketos tötet; den mit ungeheurer Kraft ausgestatteten Herakles, der die eigene Frau mitsamt den gemeinsamen Kindern ermordet und als Sühne zwölf übermenschliche Aufgaben lösen muss, darunter die Vernichtung der vielköpfigen Hydra und die Säuberung der riesigen Rinderställe des Königs Augias; Bellerophon, der den legendären Pegasos fängt und gemeinsam mit diesem die feuerspeiende Chimäre tötet; den Sänger Orpheus, der seine verstorbene Frau aus der Unterwelt zurückholen will und dabei scheitert; Jason, der sich als Anführer der Argonauten mit diesen auf die Suche nach dem goldenen Vlies begibt; Ödipus, der das berühmte Rätsel der Sphinx löst und der unwissentlich seinen eigenen Vater tötet sowie seine eigene Mutter ehelicht und somit die grausame Prophezeiung erfüllt, die ihm einst geweissagt worden war; Theseus, der den Minotaurus zur Strecke bringt; schließlich die jungfräuliche Jägerin Atalante, unter deren Mitwirkung der kaledonische Eber erlegt wird und die sich den Argonauten anschließt.
Fry, von Kindesbeinen an Fan von Zeus & Co., nimmt den Leser mit auf eine turbulente und sehr vergnügliche Reise in die Welt der griechischen Mythologie. Jedoch ist dies keine betuliche Wanderung mit klassisch erhobenem Zeigefinger, sondern ein rasanter Ritt auf dem Pegasos. Frys Göttergeschichten bersten schier vor Erzählfreude, vor pulsierendem Leben, vor Saft und Kraft und (britischem) Humor. Da wird geliebt und gehasst, gefeiert und gekämpft, gerächt und verführt, was das Zeug hält. Helden ist eine weitere Sammlung von Geschichten, die Mythos in puncto Unterhaltungswert und sprachlicher Brillanz in nichts nachsteht.
Der Verdienst dieser Geschichten ist, dass uns seine Protagonisten trotz aller übermenschlichen Fähigkeiten zutiefst vertraut erscheinen; sie haben Fehler und Vorzüge, unterliegen verschiedenen Einflüssen, erleben Tragödien. Ihre Eigenheiten lassen sich durchaus auf uns übertragen. Herakles bekommt Wutanfälle, ist aber dennoch ein hilfsbereiter, durch und durch ehrlicher Charakter, Ödipus brüstet sich gern mit seiner Schlauheit, Perseus und Bellerophon sind smarte, charmante Typen, Atalante ist stolz und aufrichtig, Theseus gewieft, Orpheus romantisch und sanft, Jason ein Herzensbrecher. Tapfer sind sie alle. Fry schreibt in der Einführung: „[…] Doch einige Männer und Frauen beginnen, auf ihre eigene innere Stärke und ihren Verstand zu bauen. Das sind die Männer und Frauen, die es – entweder mit oder ohne Hilfe der Götter – wagen werden, die Welt sicherer zu machen, damit die Menschen wachsen und gedeihen können. Das sind die Helden.“ (Helden, S. 19)
Die Fülle an mythologischen Gestalten, Orten und Begebenheiten ist schier überbordend. Zur Orientierung sind dem Buch allerhand praktische Ergänzungen beigefügt: eine Genealogie der griechischen Götter sowie eine Landkarte; zudem findet sich im Anhang eine ausführliches Personen-Verzeichnis, quasi ein Who’s who der griechischen Sagenwelt. Ferner enthält der Band einen ansprechenden Abbildungsteil mit Darstellungen aus der bildenden Kunst. Zahlreiche informative Fußnoten, zum Teil mit Verweis auf Geschichten, Figuren und Begebenheiten, die Fry in „Mythos“ bespricht, ergänzen die Erzählungen. Die Geschehnisse werden nicht chronologisch wiedergegeben; vielmehr widmet der Autor jedem seiner vorgestellten Helden ein eigenes Kapitel, geht dabei auch auf zuweilen bestehende Ungereimtheiten der Zeitabläufe ein.
Kräftig, deftig, aber immer mit Gefühl
Wenn unser Lernen und Erleben mit Emotionen verbunden wird, dann bleibt das Gelernte besser im Gedächtnis verankert, das hat die Hirnforschung längst bewiesen. Wenn die Vermittlung von Wissen gar nun in derart unterhaltsamem, witzigem und zuweilen schnodderigem Tonfall erfolgt, so macht sie umso mehr Spaß. Es sind Textstellen wie diese, die man nicht so schnell vergisst:
„Er [Ödipus] blickte hoch und sah eine geflügelte Gestalt, die auf einem Felsvorsprung über ihm hockte. […]
Ein menschliches Gesicht, der Körper eines Löwen […].
‚Guten Morgen, Herr‘, sagte Ödipus.
‚Herr? Herr? Bist du blind?‘
‚Verzeihung, ist schwer zu sagen. Ich bin mir noch nicht mal sicher, wo dein Gesicht ist und wo dein Arsch.‘
‚Oh, das wird ein Spaß, dir beim Sterben zuzusehen‘, sagte die Sphinx, während ihr Löwenfell sich sträubte.
‚Da kannst du lange warten‘, gab Ödipus zurück. ‚In nächster Zeit habe ich das jedenfalls nicht vor. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss hier durch.‘
‚Nicht so schnell! Niemand kommt hier durch, ohne zuvor ein Rätsel gelöst zu haben.‘
‚Oh, verstehe. Das Rätsel, warum deine Mutter dich bei der Geburt nicht erwürgt hat? Nein?‘
Die Sphinx, die sich selbst für ausnehmend schön hielt – was sie in der Tat auch war –, spuckte vor Wut. ‚Du wirst das Rätsel lösen oder sterben!‘ Sie wies auf die steil abfallende Klippe neben sich.
‚Uah. Fies. Also dann mal los. Hab nicht den ganzen Tag Zeit. Muss vor Abend in Theben sein.‘
Um Fassung ringend nahm die Sphinx Platz. Jemand wie Ödipus war ihr noch nie untergekommen.“ (Helden, S. 313 f.)
Frys Figuren sprechen nicht salbungsvoll, nicht melodramatisch. Sie bedienen sich einer modernen Sprache, die man sich überall dort hört, wo es zwanglos zugeht.
Zeitgemäß sind auch die Verweise auf Helden unserer Popkultur. Harry Potter, der berühmte Zauberschüler darf nicht fehlen, auch der weise Jedi-Meister Yoda aus Star Wars wird zitiert: „Tu es. Oder tu es nicht. Es gibt keinen Versuch.“ (Helden, S. 88)
Fry erzählt in leichtem Tonfall selbst dramatische Ereignisse, ohne jedoch deren Tragik zu schmälern. So trauert Daidalos, der den Tod seines Sohnes Ikarus mit ansehen muss:
„‘Oh Ikaros, Ikaros, mein geliebter Junge. Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum musstest du so nahe an der Sonne fliegen?‘
Tragisches Wehklagen wie dieses hat man seitdem von Generationen von Vätern gehört – nur dass der gerufene Name jeweils ein anderer war. Es ist das Schicksal mancher begabter Kinder, zu nahe zur Sonne aufzusteigen und abzustürzen, ganz gleich wie viele Male man sie vor Gefahr gewarnt hat. Manche überleben, viele aber nicht.“ (Helden, S. 397)
Frys Erzählstil ist auf eine respektlose Art respektvoll. Sprachlich elegant, ironisch distanziert und dabei dramaturgisch fein ausbalanciert lässt er die Leser teilhaben an Kämpfen, Freuden und Leiden seiner Figuren.
Eine weitere Stärke des Buches besteht darin, dass der Autor auf Erklärungen und Deutungen der Geschichten verzichtet. Mythen seien mehr als offen für Interpretationen, schreibt er im Nachwort, und dass er hoffe, dass man sich dabei ertappt, wie man während des Lesens das Buch sinken lässt, um [über verschiedene Aspekte] zu spekulieren.
Helden sind zeitlos
„Für alle namenlosen Helden. Vielleicht sind Sie einer von ihnen.“ So lautet das dem Buch vorangestellte Zitat.
Helden sind wir alle. Die einen kämpfen in den Kliniken Tag für Tag um das Leben ihrer Patienten, andere unterrichten in Schulen, transportieren Fahrgäste, arbeiten im Einzelhandel. Wir gehen unseren täglichen Pflichten nach, versorgen uns und unsere Angehörigen und mühen uns durch die Herausforderungen unseres Alltags.
Wir treten nicht (mehr) gegen schreckenerregende mythologische Gestalten an. Unsere Gegner sind andere: ein neuartiges, bedrohliches Virus, Kriege, der Klimawandel mit den sich abzeichnenden Konsequenzen und nicht zuletzt unsere eigenen, inneren Dämonen.
Vielleicht vermag uns die Beschäftigung mit den Helden der Mythologie ein wenig in der Bewältigung unserer eigenen Herausforderungen unterstützen. Andere nicht nur siegen, sondern auch grandios scheitern zu sehen, mag einen die Unbilden des eigenen Lebens besser hinnehmen lassen.
Dieses Buch kann durchaus dazu beitragen. Eine fesselnde, zuweilen vergnügliche und dabei äußerst lehrreiche Lektüre.
Ein Beitrag von Isabel Bendt
Literaturhinweise:
Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Band 12, Leipzig 1735; Reproduktion der Ausgabe 1732 – 1754: Graz, Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1999.
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