Schlafende Götter und andere Träumer – Über das Werk von H. P. Lovecraft

Fragt man, welche Autoren im 20. Jahrhundert eine neue Mythologie erschaffen haben, so denkt man zuerst an J. R. R. Tolkien (Mittelerde) und George Lucas (Star Wars). Als dritter im Bunde sei hier H. P. Lovecraft genannt, dessen Werk zwar nicht so massiv in das Alltagsbewusstsein wie die anderen beiden eingedrungen ist und wohl auch nicht ganz so vielen Leuten bekannt sein dürfte, aber dennoch weit mehr Kreise als nur eine breite Leserschaft angezogen hat. Die eher bedeutungslosen Verfilmungen will ich nicht erwähnen, aber es gibt etliche Spiele [1], die in Lovecrafts Welt angesiedelt sind, und im World Wide Web sind auf seinen Geschichten basierende Meme omnipräsent.

Da Lovecraft 1937 verstarb, sind alle seine Werke ab 2008 gemeinfrei, und das Internet bietet daher einen großen legalen Fundus an kostenlosen PDFs oder anderen E-Buch-Formaten. Ich persönlich bevorzuge aber immer noch ganz altbacken das Blättern in Papier [2]. Sein gesamtes Werk spielt in einem eigenen geschlossenen Universum, d.h. es gibt zwischen allen einzelnen Geschichten verbindende Elemente, keine ist wirklich eigenständig. Fiktive Orte und Protagonisten, selbst mit leichten Widersprüchen in der Darstellung Einzelner, tauchen immer wieder auf. Es existieren regelmäßig auftretende, übernatürliche bzw. weit über das menschliche Verständnis hinaus wirkende Mächte mit in einer Art Genealogie und Hierarchie, sprich Gottheiten, denen die handelnden Personen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. In fast allen Geschichten ist ein sublimer Schrecken präsent, der die Protagonisten ängstigt und in vielen Fällen in den Wahnsinn treibt. Der Wahnsinn kommt dermaßen häufig vor, dass er ein archetypischer Aspekt für ein lovecraftartiges Umfeld geworden ist. In dem erstmalig 1981 erschienen Pen-and-Paper-Rollenspiel Call of Cthulhu [3] gibt es eine variable Eigenschaft „geistige Stabilität“, die den Geisteszustand der Spielerrolle beschreibt und mitunter dazu führt, dass sie recht frühzeitig ausscheidet, sodass Kampagnen über mehrere Abenteuer hinweg, wie man sie in anderen RPGs gewohnt ist, eher selten sind.

Das alles qualifiziert für das Horror-Genre. Mit außerirdischen Welten und Wesen kommt auch etwas Science-Fiction hinein, aber dies war spätestens seit Shelleys Frankenstein ein typischer und wiederkehrender Aspekt des Genres. Die Kombination der Faktoren a) abgeschlossene Welt mit festen „Regeln“, b) die religiös-spirituelle Komponente und c) das sich über den allgemeinen Bekanntheitsgrad hinaus mittlerweile entwickelte Eigenleben dieser Welt in anderen Publikationen verschiedenster Art rechtfertigt m. E. darüber hinaus die Klassifizierung als eigenständige Mythologie, auch wenn sie in Umfang und Tiefe nicht das Niveau von Tolkiens oder Lucas‘ Bilderwelt erreicht.

Interessant in dem Zusammenhang ist auch, dass Lovecraft einen rudimentären Ansatz einer eigenen Sprache entwickelt hat, die aber im Gegensatz zu Tolkiens ausführlichem und komplexem Regelwerk [4] lediglich aus ein paar wiederkehrenden Phrasen besteht. Erwähnenswert ist hier „Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn aus The Call of Cthulhu (dt. „Cthulhus Ruf“), was so viel bedeutet wie „In seinem Haus in R’lyeh wartet träumend der tote Cthulhu“ und den Kerntopos in Lovecrafts Mythos beschreibt. Zudem verwendet Lovecraft häufig etwas veraltetes Vokabular – ausnahmslos und mir ohne Anspruch auf Vollständigkeit persönlich aufgefallen z.B.: betwixt statt between und shewn statt shown –, was den Texten einen leicht altertümlichen und damit ebenfalls mythischen Anstrich verleiht.

Im Prinzip besteht Lovecrafts Gesamtwerk aus einer Sammlung von Kurzgeschichten. Die einzigen Ausnahmen sind der Roman The Case of Charles Dexter Ward („Der Fall des Charles Dexter Ward“) sowie die Kurzromane At the Mountains of Madness („Berge des Wahnsinns“) und The Shadow over Innmouth („Schatten über Innsmouth“), wovon allerdings nur der letztere auch initial als Buch erschienen ist. Die anderen beiden sind zunächst episodenweise in Pulp-Magazinen erschienen, ihre einzelnen Kapitel sind dabei so in sich abgeschlossen und mit Wiederholungen gespickt, dass die gesamte Geschichte auch verständlich ist, wenn man den Anfang oder eine Ausgabe verpass haben sollte. Zwei der Kurzgeschichten möchte ich genauer beleuchten, die aus unterschiedlichen Gründen aus dem Gesamtwerk hervorstechen: History of the Necronomicon („Geschichte und Chronologie des Necronomicon“) und The Quest of Iranon („Iranons Suche“).

History of the Necronomicon: Dies ist keine Geschichte im eigentlichen Sinne mit einer Handlung, sondern liest sich mehr wie enzyklopädischer Eintrag in einem wissenschaftlichen Werk über ein im 8. Jahrhundert geschriebenes mystisches Buch, dem „Necronomicon“, welches in Lovecrafts anderen Geschichten häufig auftaucht. Dieser kurze Text (in [2], S.672f, gerade mal zwei Seiten) ist aus zweierlei Gesichtspunkten interessant. Zum einen ergibt er nur dann einen Sinn, wenn man die übrigen Geschichten, in denen das besagte Buch auftaucht, kennt und Rückbezüge aufstellt. Ohne weitergehende Kenntnisse über die Welt Lovecrafts hat dieser Text keinerlei erzählerischen Inhalt. Zum anderen wird der Titel des Buches in etlichen anderen Horror-Produktionen benutzt, so als wäre „Necronomicon“ ein allgemein aus der menschlichen Historie bekannter Begriff, was ein (pseudo)enzyklopädischer Eintrag ja geradezu suggeriert. Als Beispiel sei der Film Army of Darkness („Armee der Finsternis“) [5] genannt, in dem das dortige Necronomicon ohne jeden Bezug auf Lovecraft eine entscheidende Rolle spielt. Dies zeigt den immensen Einfluss von Lovecraft auf die restliche kunstschaffende Welt und ist ein weiteres Mosaiksteinchen zur Klassifizierung des Gesamtwerkes als eigenständige Mythologie.

The Quest of Iranon: Für sich allein betrachtet ist diese Geschichte als einzige nicht im Bereich Horror angesiedelt, sondern klassische Fantasy, ohne jetzt den genauen Inhalt spoilern zu wollen. Hier fehlen völlig die sonst „üblichen“ Elemente des Finsteren, des unterschwelligen Schauers oder die boshaften Wesen jeglicher Art, was sie einzigartig und schon allein deshalb zu meinem persönlichen Favoriten macht. Dennoch ist sie auch ohne den sonst allgegenwärtigen Horror vollständig in das Lovecraftsche Universum eingebunden, was einige Ortsnamen belegen, die sich auch woanders, nämlich in der Untergruppe des sog. „Dream Cycle“ seiner Geschichten finden lassen, was darauf hindeutet, dass sie ebenfalls in der Welt, den sogenannten „dreamlands“, spielt, die man nur über einen Traum erreichen kann.

Der Schlaf, der Traum bzw. die Traumreise ist ein grundlegender Aspekt, der sich durch einen Großteil des Werkes zieht. Wie schon vorab erwähnt, gibt es die schlafenden Gottheiten, allen voran Cthulhu, die, wenn sie eines Tages erwachen sollten, großes Unheil oder auch gleich den Untergang über die Menschheit bringen werden, aber auch die Protagonisten, die in eine andere Dimension reisen, wenn sie träumen. In The Dream-Quest of Unknown Kadath („Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“) unternimmt Randolph Carter, der noch in mehreren anderen Geschichten auftaucht und von dem gutmutmaßt wird, dass er ein Alter Ego von Lovecraft selbst darstellen soll [6], eine ausgiebige Abenteuerreise durch die Traumlande. Das lässt jetzt laienpsychologisch vermuten, dass Lovecraft vom eigenen Wunsch nach der Flucht in eine andere Welt vor der realen und grausigen umgetrieben wurde und dies literarisch verarbeitet hat. Auch der weiter oben erwähnte Buchtitel „Necronomicon“ soll nach Lovecrafts eigener Aussage ihm im Traume eingefallen sein [7].

Die andere Dimension der Traumlande und die Welt der Menschen bilden eine Einheit, allein schon wegen der boshaften Gottheiten, die sich in beiden Welten tummeln, aber mit auch vom Menschen überwindbaren Grenzen. Und diese Überwindung passiert in einem speziellen Schlafzustand, der das mit einer Art luziden Träumens ermöglicht und nur von wenigen gemeistert werden kann. Wer dies, wie Carter, mit Mühe schafft, hat in der Traumwelt wenn auch eingeschränkte, aber doch wenigstens vorhandene Handlungsmöglichkeiten gegen die übernatürlichen Bedrohungen, während in der realen Welt der Mensch diesen Bedrohungen nichts außer Flucht, auch in den Wahnsinn, entgegensetzen kann. Der Traum, nicht als völlige Irrealität, sondern mit spürbaren Wechselwirkungen zur wirklichen Welt, erinnert hier durchaus an schamanische Geistreisen.

In der öffentlichen Wahrnehmung hat der Traumzyklus einen weit geringeren Stellenwert als die furchteinflößende Vorstellung von böswilligen Gottheiten, The Elder Ones, die nur der Schlaf davon abhält, uns alle zu vernichten. Das Bild von Cthulhu, ein anthropomorphes Wesen mit dämonischen Schwingen und einen an einen Tintenfisch erinnernden Schädel, ist unglaublich weit verbreitet, in allen möglichen Stilvariationen, und daher auch wohl sehr vielen bekannt, die nie etwas von Lovecraft selbst gelesen haben. Der Traum-Aspekt ist aber wie ausgeführt ein zentraler und wichtiger Grundbestandteil des Wesens der Lovecraftschen Welt, daher zum Abschluss mein Lieblingszitat aus The Silver Key, das durchaus philosophischen Tiefgang hat, wenn es um Wahrnehmung und Realität sowie den durch erstere erzeugten Platz des Menschen in letzterer geht:

„All life is only a set of pictures in the brain, among which there is no difference betwixt those born of real things and those born of inward dreamings.”

Ein Beitrag von Andreas Mang


Andreas Mang studierte Physik in Dortmund, diplomierte 1994 in nicht-linearer Spektroskopie an Halbleitern und arbeitet jetzt in der freien Wirtschaft mit Computern. Er ist privat im Schützenwesen und der Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung sowie noch ein paar Vereinen aktiv. Autor von „Aufgeklärtes Heidentum – Philosophien, Konzepte, Vorstellungen“ (2012).


Anmerkungen:

[1] https://www.brettspiel-news.de/index.php/component/tags/tag/h-p-lovecraft

[2] The Complete Fiction of H.P. Lovecraft; Race Point 2014

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Call_of_Cthulhu_(Rollenspiel)

[4] J.R.R. Tolkien; The Lord of the Rings (Appendices E & F); Harper Collins 1990

[5] https://www.imdb.com/title/tt0106308/

[6] https://en.wikipedia.org/wiki/Randolph_Carter

[7] https://www.hplovecraft.com/creation/necron/letters.aspx

Titelbild von Waldkunst auf Pixabay

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