Schamanismus bei den Tlingit in Südostalaska

Der Schamanismus war ein wichtiger Bestandteil des Lebens der Tlingit im Südosten Alaskas. Jeder Clan hatte seinen eigenen Schamanen, der als (Ver-)Mittler zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Welt diente. Sowohl Männer als auch Frauen konnten Schamanen werden. Die Eignung dazu konnte sich bereits in einem frühen Alter zeigen. Manchmal zwang man sogar Personen, gegen ihren Wunsch Schamane zu werden, weil sie eine zufällige Begegnung mit einem Geist gehabt hatten. Eine Berufung konnte nicht zurückgewiesen werden, da dies Krankheit oder Tod zur Folge hatte. 

Wenn ein künftiger Schamane schließlich bereit war, ging er auf eine Visionssuche in die Wildnis, um seinem Hilfsgeist zu begegnen. Zuvor reinigte er sich durch Fasten und sexuelle Abstinenz. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erschien ein Tier vor dem Novizen und wurde von ihm getötet. Er schnitt einen Teil der Zunge des Tieres ab und bat den Tiergeist, bestimmte Kräfte auf ihn zu übertragen und so eine Allianz zu bilden.

Schamanen waren für das allgemeine Wohlergehen ihrer Clanmitglieder zuständig. Sie sicherten Erfolg bei der Jagd und dem Fischfang, dienten als militärische Berater und sagten künftige Ereignisse voraus. Ihre wichtigste Aufgabe war die Heilung von Krankheiten. Der Behandlungsprozess wurde von der Ursache der Krankheit bestimmt. Glaubte man, dass eine Hexe die Krankheit verursacht hatte, musste der Übeltäter identifiziert und zu einem Geständnis gezwungen werden. Wenn man jedoch dachte, dass die Krankheit durch Seelenverlust entstanden war – entweder, weil die Seele des Patienten von Geistern weggelockt oder weil sie durch Erschrecken aus dem Körper ausgetreten war – musste der Schamane sie ausfindig machen und zu dem Kranken zurückbringen. In extremen Fällen begab sich der Schamane in eine tiefe Trance, die ihn befähigte, in das Land der Toten zu reisen, in das sich die Seele des Patienten verirrt hatte. 

Schamanische Gegenstände

Die Tlingit glaubten, dass alles in der Natur beseelt war. Geistwesen wohnten in schamanischen Objekten, die als Gegenstände von großer Macht angesehen wurden. Sie besaßen eigene Kräfte und konnten sich angeblich von selbst bewegen.

Schamanische Objekte dienten dazu, den Schamanen mit der Geisterwelt zu verbinden. Rasseln und Trommeln erzeugten die Perkussionsgeräusche, die notwendig waren, um die Geister herbeizurufen. Die Designs auf schamanischen Gegenständen stellten verschiedene Geister dar. Tlingit-Schamanen trugen Masken, die sie befähigten, die Kräfte ihres Hilfsgeistes anzunehmen. Der Schamane verwandelte sich in den Geist, den die Maske repräsentierte. Wenn der Geist von dem Träger der Maske Besitz ergriff, imitierten dessen Bewegungen und die Geräusche, die er machte, die Eigenschaften des jeweiligen Tieres. Einige Objekte wurden auf Patienten gelegt, um sie zu heilen. In anderen Abschnitten der Zeremonie verwendete man einen Wahrsageknochen, um in die Zukunft sehen zu können. Schamanen benutzten auch die Kleidung und Waffen von Kriegern, um böse Geister zu bekämpfen.

Schamanische Objekte riefen Respekt, Ehrfurcht und manchmal sogar Angst hervor. Sie konnten nur in angemessen kontrollierten Situationen betrachtet oder berührt werden. Die Assistenten des Schamanen waren die einzigen, denen der Umgang mit seinen Paraphernalia gestattet war. Für Laien war der Kontakt gefährlich und musste deshalb vermieden werden. Wenn die Objekte nicht verwendet wurden, verwahrte man sie in kleinen Kisten. Diese befanden sich entweder in Teilen des Hauses des Schamanen, zu denen Besucher keinen Zugang hatten, oder in Verstecken tief im Wald, sodass Nichtinitiierte nicht mit ihnen in Berührung kommen konnten. Schamanen bestattete man gewöhnlich mit den rituellen Paraphernalia, die sie während ihres Lebens verwendet hatten. Mitglieder der Gemeinschaft mieden diese Grabhäuser, da sie glaubten, dass sie krank werden oder sogar sterben konnten, wenn sie der spirituellen Kraft der Objekte ausgesetzt waren. 

Geisthelfer

Aldona Jonaitis analysierte schamanische Objekte aus 23 Gräbern und identifizierte ungefähr zwei Dutzend Tiere: Landotter, Tintenfisch und Bär kamen am häufigsten vor, gefolgt von Adler, Schwertwal, Rabe, Frosch, Bergziege, Austernfischer und Lachs. Diese Hilfsgeister waren häufig Tiere, die Grenzgebiete der Umwelt bewohnen. Man glaubte, dass ihr Verhalten die übernatürliche Fähigkeit repräsentierte, sich durch die verschiedenen Bereiche des Kosmos zu bewegen. 

Unter den in der schamanischen Kunst dargestellten Tieren ist der Landotter der wichtigste. Er war der mächtigste Geist im Dienste des Tlingit-Schamanen. Nur dieser hatte die Macht, ihn zu beherrschen und ihn sich dienstbar zu machen. Die Tlingit erzählen Geschichten von Menschen, die sich verlaufen hatten oder ertrunken waren und von Landottern gefangen wurden. Diese Unglücklichen wurden in „Landotter-Dörfern“ gefangen gehalten, bis sie selbst in diese Tiere verwandelt wurden. Schamanen konnten sie manchmal retten, doch die meisten Geschichten stimmen darin überein, dass ein Mensch verloren war und nie zurückkehren konnte, wenn er die Nahrung der Otter annahm oder ihrem Ruf folgte.

Außer der Entführung von Menschen glaubte man, dass Landotter Wahnsinn, Naturkatastrophen wie Stürme und Erdbeben, Krankheiten und Unfälle verursachten. Besonders ängstigend war der Gedanke, dass alle Landotter ursprünglich Menschen waren und deshalb die Intelligenz und das Wissen von beiden Spezies besaßen. Dies befähigte sie, Personen zu sich zu locken, indem sie menschliche Stimmen imitierten oder sogar ein Elternteil oder anderer Verwandter zu sein schienen.

Der Rabe war zweifellos das wichtigste Tier in der Mythologie und Kunst der Nordwestküste. Daher überrascht es nicht, dass man ihn auch häufig in schamanischen Ausdrucksformen findet. Er war der Stammvater eines mächtigen Clans, Kulturbringer, aber auch ein trickreicher Spaßvogel. Unter anderem formte er die Landmassen der Erde und brachte das Tageslicht in die Welt. Man glaubte auch, dass der Rabe sowohl Schamanen als auch Hexen ihre Kunst gelehrt hatte.

Der Lachsjunge

Die Darstellung des Lachses in der schamanischen Kunst hängt möglicherweise mit der bekannten Mythe vom Lachsjungen zusammen. Sie erzählt von einem Mann aus dem Kik-sa-de-Clan, der einen kleinen Jungen hatte. Eines Tages ging dieser zu seiner Mutter, um etwas zu essen. Sie schnitt ein Stück von getrocknetem verschimmeltem Lachs ab und gab es ihm. Aber er warf es weg, was die Lachsmenschen ärgerte, so dass sie beschlossen, ihn zu bestrafen. Sie verschworen sich mit der Möwe, die eine Schnur aus der Membran von Laich machte. Als der Junge in die Schlinge trat, nahm die Möwe die Schnur in ihren Schnabel und zog ihn ins Wasser. Daraufhin fingen ihn die Lachse und brachten ihn weg in ihr Land, weit hinaus ins Meer.

Im folgenden Frühling machten die Lachsmenschen ihre Kanus bereit und brachen zu ihren Lieblingsflüssen auf. Mit ihnen war der Junge, der jetzt in einen silbernen Lachs verwandelt worden war. Er wurde den Fluss hinauf geschickt, wo man ihn gefangen hatte. Die Mutter, die am Wasser stand und um ihren verlorenen Sohn trauerte, sah in dem klaren Wasser zu ihren Füßen einen schönen Lachs. Sie rief ihren Ehemann, der mit seinem Fischhaken schnell den Fisch fing und ihn ihr gab, um ihn aufzuschneiden. Als sie versuchte, mit ihrem blauen Muschelmesser den Kopf abzutrennen, fand sie einen kupfernen Halsring, welchen sie als den erkannte, den sie am Hals ihres verlorenen Sohnes befestigt hatte. Sie rief ihren Mann, der sagte: „Ja, unser Sohn ist in einen Lachs verwandelt worden..“ 

Er wickelte den Lachs in eine Matte aus Zedernrinde. Am Morgen hatte sich dieser in einen jungen Mann verwandelt. Er sagte, dass die Lachsmenschen ihn als ihren Schamanen zurückgeschickt hatten und ihn in ihrer Sprache Ah-ko-tarts nannten. Er gab hervorragende Proben seiner Zauberkunst und etablierte sich dadurch als ein mächtiger Schamane.

Das Ende des Schamanismus

Mit der Ankunft der Europäer an der Nordwestküste begann die Bedeutung der Schamanen zu schwinden. Epidemien von Pocken, Tuberkulose und anderen eingeschleppten Krankheiten forderten zahllose Opfer und schwächten den Glauben der Tlingit an ihre Schamanen. Die Missionare und Zivilbehörden verfolgten Schamanen und unterwarfen sie grausamer und demütigender Bestrafung. Um die Ausrottung des Schamanismus zu sichern, inhaftierte die Regierung Schamanen in Gefängnissen außerhalb von Alaska. Diese Repressionen, zusammen mit der Unfähigkeit der Schamanen, die von den Europäern mitgebrachten Krankheiten zu heilen, trugen schließlich zum Niedergang des Schamanismus bei. Einige Schamanen praktizierten noch bis in die 1950er Jahre.

Schamanische Objekte wurden so aggressiv gesammelt wie andere Formen der materiellen Kultur der Tlingit. Sammler scheuten selbst vor dem Diebstahl schamanischer Paraphernalia aus Gräbern nicht zurück. Teilweise gaben auch zum Christentum konvertierte Tlingit sakrale Objekte, die sie als eine Art „spirituellen Giftmüll“ betrachteten, bereitwillig an Sammler weg.

Der Tlingit-Schamanismus, wie er einst praktiziert wurde, existiert heute in dieser Form nicht mehr. Obwohl es keine Schamanen mehr gibt, bestehen jedoch die Glaubensvorstellungen, die dem Schamanismus zugrunde liegen, weiter fort. Einige der alten Rituale und schamanischen Praktiken sind abgewandelt und in moderne Zeremonien und Aktivitäten integriert worden.

Die Tlingit glauben weiterhin, dass schamanische Objekte über große Kräfte verfügen und Personen Schaden zufügen können, die nicht Mitglieder des Clans des Schamanen sind, dem sie gehörten. Aus diesem Grund gibt es auch unterschiedliche Auffassungen unter den Tlingit hinsichtlich der Rückgabe von schamanischen Objekten aus Völkerkundemuseen. Das Council of Traditional Scholars des Sealaska Heritage Institute revidierte seine ursprüngliche Position, die die Ausstellung von schamanischen Objekten in Museen ablehnte. 2008 verabschiedete es eine Resolution, in der die Vorgehensweise für die zeremonielle Behandlung und Ausstellung von schamanischen Objekten festgelegt sind, in der Hoffnung, dadurch die Öffentlichkeit über Schamanismus und schamanische Objekte aufzuklären und Tlingit-Betrachter zu schützen. 

Ein Beitrag von Dr. Claudia Roch


Literaturhinweise:

Warwell, Allen. Tangible Visions. Northwest Coast Shamanism and its Art. New York: Monacelli Press 1996.

Worl, Rosita. „Die Bedeutung von Kunst und AT.ÓOW für die Tlingit im Südosten Alaskas“, in: Deutscher Museumsbund e. V. (Hrsg.), Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Berlin: 2021, S. 126-132.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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