Wie so oft in den Geschichten, fängt alles bei einem großen Festgelage in der Hallen eines nordischen Häuptlings an. Die Männer sitzen in Reihen auf langen Bänken an den Tischen, die sich unter der Last der Speisen biegen. Vor Kopf thront der Häuptling im Kreise seiner engsten Vertrauten. Nur jene Krieger, die sich den meisten Ruhm erworben und die wertvollste Beute gemacht haben, erhalten einen Ehrenplatz an seiner Tafel. Mit ihnen plant er zukünftige Raubzüge und berät über politische Entscheidungen. Es geht heiter und vor allem laut zu. Die Männer essen und trinken ausgiebig, es werden Witze erzählt und aus den uns bekannten Trinkhörnern fließt der Met in Strömen. Dann zu späterer Stunde erhebt sich aus ihrer Mitte der Skalde, und die Krieger, mittlerweile recht angeheitert, verfallen zwar nicht in Schweigen, doch immerhin kehrt genug Ruhe ein, dass die meisten im Raum ihn hören können. „Hört meine neueste Dichtung, ruhmreicher Herr!“, beginnt der Skalde und seine dunkle volle Stimme ertönt im Raum. Er ist Isländer und die, das weiß jeder, sind die besten Skalden. „Ich will euch erzählen von den alten Tagen, von ruhmreichen Schlachten und großer Beute. Aus der Zeit, als Island noch nicht besiedelt war“. Als seine Worte langsam verhallen, wird es stiller in der Halle, die Krieger auf den hinteren Bänken recken die metschweren Köpfe und lauschen seinen Worten, als der Skalde beginnt zu singen …
So oder ähnlich stellt es sich der Volksmund heute vor, wenn wir an die „Wikinger“ denken: Raue Gesellen, die mit Hilfe ihrer Drachenboote plündern, morden und brandschatzen. Man denkt an die berühmt-berüchtigte Berserkerwut, die Männer in todesverachtende Krieger verwandelt; an mythische Wesen wie Drachen, Trolle, Alben und Zwerge, die in der rauen Wildnis des Nordens leben, und über all dem thronend das archaische Pantheon um den düsteren Kriegs- und Totengott Odin in Walhalla. Die Wikingerzeit (793-1066 n.Chr.) mit ihren historischen und fiktiven Gestalten, die Geschichten und Legenden aus dem Norden faszinieren bis heute. Dabei wurde die auf uns gekommene Sagaliteratur – längere Prosageschichten – meist von anonymen Autoren des 13. und 14. Jahrhunderts verfasst. Die vielen verschiedenen Verfasser und der lange Entstehungszeitraum der Sagas machen es schwierig, präzise Angaben darüber zu treffen, warum und wann genau jemand diese Texte geschrieben hat. Klar ist allerdings, dass es sich um gebildete Autoren gehandelt haben muss, die ein Interesse hegten, die eigene Vergangenheit zu beschreiben und dadurch ihren Zeitgenossen zugänglich zu machen. Die Sagas sind daher ein Kulturgut, das seinesgleichen sucht.
Mit der erstmaligen Übertragung ins Deutsche ermöglichen die drei Bände der Sagas aus der Vorzeit. Von Wikingern, Berserkern, Untoten und Trollen es uns heute wieder in Welt der Wikinger einzutauchen. Verantwortlich für diese großartige Ausgabe nordischer Literatur zeichnet sich wieder einmal Deutschlands bekanntester Skandinavist und Experte für die alten Kulturen des Nordens, Professor Rudolf Simek und sein Übersetzerteam von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn aus. Mit dem zweiten Band, den Wikingersagas legt Simek uns insgesamt zehn Erzählungen vor, die sich auf den ersten Blick wenig von den Heldensagas unterscheiden. Die typischen gattungsbezogenen Erzählmotive sind Brautwerbungsfahrt, Gestaltwandlung, Schwurbrüderschaft, Vaterrache, Grabraub und sogar vereinzelt das Märchenmotiv der bösen Stiefmutter. Zudem treten phantastische Elemente wie Zwerge, Riesen, Alben und Trolle auf. Allein, im Unterschied zu den Heldensagas entstammen die Hauptakteure nicht dem Adel, sondern kommen meist aus der großbäuerlichen Gesellschaftsschicht. Ein kleines Detail, das man bei der Lektüre geflissentlich überlesen mag, das allerdings viel über den Charakter der hier dargestellten Sagas aussagt: Es fehlt das tragische Element der Heldensagas. Die Abenteuer der Wikingersagas nehmen ein glückliches Ende, und die in diesem Band vorgestellten Helden erreichen oft ein hohes Alter (Pfeile-Odd sogar ein biblisches von gut 300 Jahren). Doch bis es soweit ist, müssen die Helden viele Hindernisse und Gefahren meistern, Schlachten schlagen und sich gegenüber ihren Konkurrenten beweisen.
Im Unterschied zu den Sagas in Band I beziehen sich die Sagas aus Band II inhaltlich und genealogisch stark aufeinander und bilden damit ein hervorstechendes Merkmal. Die ersten vier Erzählungen des Bandes, die Saga von Thorstein, Vikings Sohn, die Saga von Fridthjof dem Kühnen, die Saga von Gautrek oder Saga von Gaben-Ref und die Saga von Hrolf, Gautreks Sohn, bilden einen Zyklus, der über mehrere Generationen hinweg von der Geschichte dieser Familie berichtet. Noch stärker tritt das genealogische Moment im zweiten Saga-Zyklus über die Männer aus Hrafnista (heute der kleine Ort Ramsta in Nordnorwegen) in den Vordergrund. Die Sagas von Ketil Lachs, seinem Spross Grimm Zottelwange, die Saga von Pfeile-Odd und An Bogenbieger sind ein Beispiel für die Anknüpfung von literarischen Texten an historische Personen im mittelalterlichen Island: Während viele der Sagas aus der Vorzeit in einer nebulösen, heroischen Vergangenheit angesiedelt sind, spielen die Geschichten der Männer aus Hrafnista nur wenige Generationen vor der Besiedelung Islands, die im Jahre 870 begann. Die Bedeutung dieser Sagas wird auch dadurch deutlich, dass einige der angesehensten Familien Islands ihre Abstammung auf die Männer aus Hrafnista zurückführen, beispielsweise das Geschlecht der Sturlungen, deren bekanntester Vertreter Snorri Sturluson (1178-1241), der Verfasser der Prosaedda und der Heimskringla, war. Auch innerhalb der Isländersagas finden sich Protagonisten wie Egil, Skalla-Grims Sohn oder Grettir aus der Saga von Grettir, Asmunds Sohn, die sich als Nachfahren der Hrafnistamänner bezeichnen.
Die beiden letzten Sagas der Sammlung (Saga von Hromund, Greips Sohn und die Saga von Asmund Heldentöter) weisen beide das Merkmal auf, dass sie in der hier vorliegenden Form mit großer Wahrscheinlichkeit auf weit ältere Versionen zurückgehen. Besonders augenfällig wird dies in der Saga von Asmund Heldentöter. Erst spät im 13. oder 14. Jahrhundert entstanden, finden sich hier deutliche Spuren der lateinischen Gesta Danorum des Historiographen Saxo Grammaticus. Auch der Höhepunkt der Saga, der Kampf zwischen dem Helden Asmund und seinem Halbbruder Hildibrand, zeigt eine gewisse Gemeinsamkeit zu dem weit älteren althochdeutschen Hildebrandtslied (9. Jahrhundert).
Ebenso unterhaltsam wie kritisch zu betrachten sind die bisweilen derben, fast schon komischen Momente in den Sagas. Es mag aus heutiger Sichtweise emanzipiert anmuten, wenn die Königstocher Thornbjörn sich als eigenständige Herrscherin versucht. Diese ist nämlich der Meinung, dass sie durchaus auch allein in der Lage wäre zu regieren und bittet ihren Vater König Eirek, ihr doch bitte den dritten Teil seines Reiches zur selbstständigen Verwaltung zu überlassen. Vater Eirek gesteht ihr dies stirnrunzelnd zu und die Prinzessin zieht auch gleich los. Interessant ist hier, dass die Saga sie ab sofort als „König Thorberg“ bezeichnet und auch konsequenterweise von „dem König“ und „ihm“ spricht. Man denkt hier unwillkürlich an Brünhild aus dem Nibelungenlied. Das Motiv des Wettstreits mit den Brautwerbern verstärkt nur diesen Eindruck. Doch ist die junge Dame recht arrogant in ihrem Auftreten, sodass sich dann doch ein kleines süffisantes Lächeln auf die Lippen des Rezensenten schleicht, wenn Keitl, der Bruder des Protagonisten Hrolf, ihr mitten in der Schlacht das blanke Hinterteil mit der Schwertklinge kräftig versohlt. Gleich Brünhild, die im nächtlichen Ringkampf Siegfried unterliegt, verwandelt sich König Thorberg von dem unabhängigen Herrscher wieder zurück in die höfische Königstocher Thornbjörn und bittet dann auch gleich ganz artig, dass sie zu ihrem Vater zurück dürfe. Ganz richtig, die Saga verwendet (zumindest in der Übersetzung) hier den Begriff „höfisch“. Vielleicht doch ein kleiner versteckter Hinweis auf die Zeit der Niederschrift dieser Geschichte gegen Ende des 13. Jahrhunderts und deren Verständnis von weiblichen Herrschern? Die Parallelen zum Nibelungenlied sind nach Meinung des Rezensenten in jedem Falle vorhanden.
Es finden sich in den Wikingersagas aber auch Momente, die zum Nachdenken anregen. Bleibt die Gesamterzählung der Saga von Gautrek oder Saga von Gaben-Ref eher schwankhaft, klingt doch ein (wenn auch übertrieben dargestelltes) Moment der harten Lebensrealität an, wenn Snotra, die Tochter des Bauern Skafnartung, den Sinn des sogenannten „Familienfelsens“ erklärt:
„Hier bei unserem Hof gibt es eine Felswand, die Gyllingsklippe heißt,
und dort ist ein hoher Felsen, den wir Familienfelsen nennen. Er ist sehr
hoch und so steil, dass kein Lebewesen den Sturz von dort überleben kann.
Er heißt deswegen Familienfelsen, weil wir mit ihm unsere Familie verkleinern,
wenn es scheint, als ereignen sich seltsame Dinge. […] Wenn wir Geld verlieren,
eine Hungersnot kommt oder wenn sich hier irgendetwas
Seltsames und Ungewöhnliches ereignet, brauchen wir nicht weiterzuleben“
Der „Familienfelsen“ als Ort der ehrenvollen Selbsttötung in Notzeiten. Sicherlich überspitzt die Saga dieses Moment, in dem sie Skafnartung und einen Knecht sich allein ob der Ankunft Refs am nächsten Morgen nach dieser Szene glücklich vom Felsen stürzen lässt (eine wie gesagt, derbe Zuspitzung, die eher den Geiz des Bauern ins Lächerliche zieht), doch lassen sich solche Szenen auch als eine zynische Bemerkung über das von Hunger und Not, aber auch von Pragmatismus geprägte Leben der Bauern interpretieren. Dass generell ein Hauch Pragmatismus und weniger heroisches Verhalten durch die Wikingersagas weht, zeigt sich vor allem an dem Verhalten der Helden in der Schlacht. Ist man es von den Protagonisten der Heldensagas gewohnt, lange Dialoge vor oder sogar während des Kampfgetümmels zu hören, halten es die Männer in diesen Geschichten eher kurz und schmerzlos. So in der Saga von Thorstein, Vikings Sohn, wenn Ötunfaxi, der Erzfeind Thorsteins, besiegt ist und gerade zu seiner letzten großen Rede ansetzen will, reißt ihm dieser kurzentschlossen die Gedärme raus, denn ihm (Thorstein) „schien es nutzlos, ihn weiter schwatzen zu lassen, wenn er etwas dagegen tun konnte […].“. Thorstein und die anderen Charaktere der Wikingersagas sind allesamt Pragmatiker auf der Suche nach Ruhm und Ehre, die ihre gesteckten Ziele gnadenlos verfolgen. Das haben sie mit den Heldensagas gemein, handeln aber auch nach den damaligen Ehrenvorstellungen des Kriegertums. So gilt ihnen nächtliches Töten als ehrlos, wie das Sprichwort náttvíg eru morðvíg („Bei Nacht töten heißt morden“) aus der Isländersaga von Egil, Skalla-Grims Sohn bezeugt. Die Helden der Wikingersagas sind aber auch nicht „höfisch“ im Sinne des 11. und 12 Jahrhunderts, was vielleicht ein Anzeichen dafür sein könnte, dass die Verfasser der Sagas ihrem Publikum eben einen Hauch der eigenen archaischen Vergangenheit präsentieren wollten.
Gibt es etwas an diesem Band zu kritisieren? Eigentlich nicht, denn wie auch schon in Band I finden sich die hilfreichen Stammbäume am Ende jeder Saga und erleichtern es so dem Leser, den Überblick über die einzelnen Protagonisten zu behalten. Wem ist dieses Buch nun zu empfehlen? Natürlich erstmal all jenen, die sich für das Thema „Wikinger“ interessieren und einmal Geschichten von vor gut 900 Jahren lesen möchten. Am besten trifft es jedoch der (anonyme) Verfasser am Ende der Saga von Hrolf: „Ob wahr oder nicht: Möge derjenige sich unterhalten fühlen, der es zulässt, die anderen sollen nach anderer Unterhaltung suchen, die ihnen besser gefällt“. Dem, finde ich, ist nichts mehr hinzuzufügen.
Ein Beitrag von Leonhard Lietz
Literaturhinweis:
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
klingt nach einem guten Weihnachtsgeschenk! Neue Blicke auf die Wikingerseelen, ahoi!
Elmar Schenkel