Ein Erlebnisbericht unserer Australienfachfrau Birgit Scheps-Bretschneider beim Erzählen von Grimms Märchen bei den Aborigines.
Simpson Wüste, Zentralaustralien 2001
Es ist später Nachmittag, wir sind eine lange Strecke gelaufen, haben im Wüstengebiet von pmara jutunta Buschpflaumen gesammelt und bereiten nun das Lager für den Abend und die Nacht vor.
Eine der Frauen macht Feuer, wir stellen unsere Billys, kleine verbeulte Alutöpfchen, in die Glut und kochen Tee. Wir Frauen sitzen nun zusammen und schwatzen, die Kinder suchen die Spinnifexbüschel nach kleinen Eidechsen ab und spähen nach Kaninchenlöchern. Die Jungen haben sich aus Ästen kleine Speere geschnitzt und wollen noch große Jagdbeute machen. Auch die Männer, die gemeinsam in der Wüste unterwegs waren, kommen nun zum Lagerplatz. Sie bringen zwei große Perentie-Echsen mit, die unser Abendbrot sein werden. John schneidet unten und oben am Bauch ein Loch in den Perentie und zieht dann den Darmtrakt heraus. Die Echsen können nun in die heiße Asche gelegt werden, der Rücken nach unten und der Bauch nach oben. Heiße Asche, etwas Glut und Erde obenauf – jetzt heißt es nur noch warten, bis alles gar ist.
Molly und Noreen sitzen mit mir im Sand. Sie schauen zu, wie ich meine Notizen mache und lachen über meine kleine Schrift, die sich, etwas krumm wie eine Ameisenstraße, über das Tagebuchblatt zieht.
„Ihr whitefellas müsst immer alles aufschreiben! Die wichtigen Dinge hat man doch im Kopf und nicht in der Tasche!“ Molly hält mir eine Buschpflaume unter die Nase und neckt mich: „Nun, schau doch mal in dein Buch, was das hier ist!“ Die Frauen kichern. Ich sehe Molly an und sage „Kupaarta“. Sie nickt und zeigt auf ihre Hand. „Und das hier?“
„Iltja“ sage ich und zeige ihr meinen Zeigefinger – „tjipmaara“, den Handrücken „iltja tapa“ und dann zupfe ich sie an den Haaren und sage „punga“. Molly schnalzt anerkennend und sagt dann: „Das ist ja auch einfach, aber was ist mit richtigen Stories – gute und lange Stories? Ich wette, da brauchst du wieder dein Heft und musst schreiben und nachlesen! Eine ganze Story – soviel kannst du dir bestimmt nicht merken!“
Das kratzt natürlich an meiner Ehre und so verspreche ich, eine Geschichte zu erzählen, eine echte Geschichte aus Germany und ganz ohne Notizbuch. Inzwischen ist es auch dunkel geworden, die Perenties müssen noch eine Weile garen und wir haben Zeit.
Nach und nach finden sich alle Frauen unserer Gruppe an unserem Feuer ein, sie alle wollen meine Geschichte hören. Sie fragen: „Was ist das für eine Geschichte, wer hat sie Dir erzählt?“
„Ich habe sie sehr oft von meiner Großmutter gehört und auch meine Mutter hat sie mir und ich habe sie meinem Sohn oft erzählt. Sie ist bei uns sehr bekannt und die Kinder hören sie gern.“
Ich begann: „Es war einmal vor langer Zeit eine Mutter, die hatte eine kleine Tochter. Das Mädchen war brav und jeder mochte sie gern. Von ihrer Großmutter, die weit entfernt im Wald wohnte, hatte sie eine rote Mütze bekommen, die sie immer trug. Deshalb nannte man das Mädchen bald überall Rotkäppchen.“
„Warte mal“ sagte Molly, „was hat sie für einen Clan-Namen? Du gehörst zu meinen Schwestern, bist Napaltjarri. Dann ist die Mutter Napananka und die Großmutter Napangardi. Also ist Rotkäppchens Mutter Napurrula … ja“, freut sich Molly, „Rotkäppchen ist Napaltjarri wie wir beide! Rotkäppchen Napaltjarri, mein Clan, unsere Story!“ stellt sie stolz, mit einem nachdrücklichen Blick in die Frauenrunde, klar.
Ich fuhr fort: „Eines Tages rief die Mutter Rotkäppchen zu sich und sagte: „Die Großmutter ist krank. Hier hast Du einen Korb mit Kuchen und Wein, den bringst du ihr, damit sie wieder gesund wird.“
Die Frauen hören mitfühlend zu, dann fragt Noreen: „Wie krank ist denn die Großmutter? Sollte man nicht eine nungari (traditionelle Heilerin) hinschicken? Die kann die Großmutter doch gesund machen! Es ist doch schade um den Kuchen und den Wein!“
„Vielleicht sollte Rotkäppchen diese Dinge essen, sie ist noch klein und braucht Kraft.“
„Ganz genau, Du hast gesagt, die Großmutter lebt weit weg, da ist es besser, sich gut zu stärken, wenn man solche guten Sachen zum Essen hat! Dann schafft Rotkäppchen den Weg viel besser.“
„Außerdem soll auch die Mutter davon essen. Wer weiß, wie lange der Kuchen überhaupt reicht, was man im Bauch hat, kann einem niemand wegnehmen!“
„Sie muss auch sehr zeitig losgehen, sonst wird dann die Sonne zu heiß und sie muss im Schatten rasten und warten bis es wieder kühler wird. Dann ist die Granny vielleicht schon tot.“
„Sie muss auch ihren Grabstock mitnehmen…“
Noreen stoppt das Stimmengewirr und sagt sehr bestimmt: „Rotkäppchen nimmt den Grabstock mit und bringt der Großmutter etwas vom Bauchfett des Perentie. Sie kann es heiß machen und die Großmutter wird es trinken. Davon kriegt sie Kraft und wird gesund.“ Alle sind einverstanden.
Die Aufmerksamkeit wendet sich nun wieder mir zu. Ich erzähle weiter:
„Die Mutter sagte zu Rotkäppchen: „Und geh direkt zur Großmutter und komme nicht vom Wege ab, Du bist sonst in Gefahr…“
Wieder werde ich unterbrochen.
„Warum geht die Mutter nicht mit? Sie hat doch die Verantwortung!“ „Genau!“
Alle reden durcheinander und die Männer, die abseits am Feuer sitzen und mit Stöcken in der heißen Asche rund um die backenden Perenties stochern, werden aufmerksam und kommen interessiert zu uns herüber.
„Sie lässt ihre kwaarra (kleines Mädchen) allein in den Wald gehen und bleibt mit dem Kuchen zu Hause!“ ruft ihnen Molly aufgeregt zu, „das ist doch unverantwortlich! “
„Sie hätte doch mindestens kwaiya oder kalya (ältere Schwester oder älterer Bruder) mitschicken können!“ meint Lenni.
„Wir machen uns nun große Sorgen!“
Die Emotionen schlagen hohe Wellen.
„Napurrula ist eine schlechte Mutter, man sollte sie bestrafen!“ stellt Wenten, der Familienchef fest. „Darüber reden wir noch später. Jetzt erzähl weiter.“
Die Männer setzen sich zu uns.
Ich setze meine, nun etwas an die Situation angepasste Geschichte fort: „Rotkäppchen nahm den Korb mit dem Bauchfett und ihren Grabstock und lief in den Wald. In den Zweigen sangen die Vögel, durch die Blätter der Bäume tanzten Sonnenstrahlen und malten auf dem Waldweg helle und dunkle Muster. Rotkäppchen blieb stehen, hörte den Vögeln zu oder sie hopste den Sonnenstrahlenmustern hinterher. Aber sie blieb auf dem Weg.“
Die Frauen nicken, wenn auch etwas zögerlich. Rotkäppchens Verhalten scheint ihnen nicht so richtig zu gefallen.
„Doch Rotkäppchen war nicht allein im Wald. Der Wolf, der sich hinter den Bäumen versteckte, folgte ihr leise und beobachtete das Kind ….“.
Fragende Blicke meiner Zuhörer, also erkläre ich: „Ein Wolf ist ein Tier, so ähnlich wie ein Dingo. Er ist listig und hat immer Hunger.“
„Aber wie kann sich so ein Wolf hinter den Bäumen verstecken, ist er denn so dünn?“ Inawintji zeigt ratlos auf die zahlreichen dürren Akazien und Eukalyptusbäume ringsum.
Ich forme aus meinen Armen einen großen Kreis und erkläre:
„Wir haben ganz, ganz dicke Bäume in unserem Wald und auch viel Gestrüpp, da kann sich ein Wolf wirklich gut verstecken.“
Noreen widerspricht: „Kein Tier kann sich verstecken, wenn Rotkäppchen richtig aufpassen würde, hätte sie ihn, seine Spuren und seinen Geruch doch schon längst bemerkt. Was hat sie nur von ihrer Mutter gelernt?“
Ich bin nun doch ein wenig verunsichert, ob ich die Geschichte fortsetzen soll, doch meine Zuhörer wollen hören, was weiter geschah.
„Der Wolf sprang auf den Weg und sagte zu Rotkäppchen: „Wohin gehst mit deinem Korb? Zeig doch mal, was du da drin hast!“ Rotkäppchen rief: „Ich gehe zu meiner Großmutter, sie ist krank und ich bringe ihr … etwas, damit sie wieder gesund wird.“
Listig sprach der Wolf: „Schau mal Rotkäppchen, die vielen schönen Blumen hier zwischen den Bäumen. Du solltest ein paar davon pflücken und sie deiner Großmutter mitnehmen.“
Das findet die Zustimmung meiner Zuhörerinnen, sie meinen, Rotkäppchen würde zwischen den Blumen auch Heilkräuter für die Großmutter finden und vielleicht sogar sugarback (wilder Honig) zum Naschen. Also eine wirklich gute Idee vom Wolf.
„Rotkäppchen stellte den Korb an den Wegesrand und begann nach Heilkräutern und Blumen zu suchen.
Der Wolf rannte indessen zum Haus der Großmutter, öffnete die Tür, lief ins Haus und sah die schlafende Großmutter. Mit einem Satz war er bei ihr, riss das Maul weit auf und verschlang die Großmutter mit einem Bissen. Dann zog er das Nachthemd an, setzte sich die Schlafhaube der Großmutter auf und legte sich ins Bett.“
Hier mache ich eine Pause, nicht sicher, ob ich das Bild des als Großmutter verkleideten Wolfes richtig vermittelt habe. Und tatsächlich, die Kleidung steht im Mittelpunkt der Diskussion. Nachthemd und Schlafhaube sind den Wüstenbewohnern fremd, eine Verkleidung ist aber für den Fortgang der Geschichte wichtig. Wir einigen uns auf T-Shirt und einen Akubra, den breitkrempigen Lederhut der australischen Männer.
Nun kann die Geschichte weitergehen: „Der Wolf lag nun im Bett und wartete. Rotkäppchen hatte derweil einen schönen Strauß Blumen gepflückt …“ (Noreen mault leise: „keine Heilkräuter, na das gibt Ärger …..“) „… und näherte sich dem Haus der Großmutter. Sie wunderte sich, dass die Tür offenstand und ging ins Haus.“
Wieder werde ich unterbrochen, Johnny fragt: „Hat sie denn die Spuren nicht gesehen, die auf dem Weg waren? Sie ist ja so unvorsichtig!“ Alle stimmen dem zu und missbilligen die offenkundige Sorglosigkeit. Rotkäppchen ist kein Sympathieträger.
„Das Mädchen rief “Großmutter, ich bin es, Rotkäppchen Napaltjarri! Ich bringe Dir Bauchfett vom Perentie, damit Du bald gesund wirst!“.
Sie sah die liegende Gestalt im Bett, die sich den Hut tief ins Gesicht gezogen hatte.
Rotkäppchen trat näher heran und fragte verwundert: „Aber Großmutter, was hast Du nur für eine große Nase?“
„Damit ich dich besser riechen kann!“ antwortete der Wolf mit verstellter Stimme.
Die Frauen tuscheln aufgeregt, ich höre „…ist Napaltjarri wirklich so dumm?… Na, wenn das meine Tochter wäre ……..“
Ich will jetzt nicht mehr diskutieren, nur noch schnell die Geschichte hinter mich bringen und erzähle unbeirrt weiter: „Rotkäppchen trat näher ans Bett heran und fragte: „Aber Großmutter, was hast Du nur für große Augen?“
„Damit ich dich besser sehen kann!“
„Aber Großmutter, was hast Du nur für große Hände?“
„Damit ich Dich besser packen kann!“
„Aber Großmutter, was hast Du nur für ein schrecklich großes Maul?“
Meine Zuhörer hören gespannt zu:
„Damit ich dich besser fressen kann!“ und bei diesen Worten sprang der Wolf aus dem Bett und verschlang auch das Rotkäppchen.“
Zu meiner Überraschung gibt es große Zustimmung und Erleichterung unter der Zuhörerschaft:
„So ist es richtig, jetzt hat sie ihre Strafe gekriegt!“ „Sie hat ja nicht mal Kräuter gefunden, nur Blumen und ist den Sonnenstrahlen hinterhergejagt.“
„Die Mutter hätte er auch noch fressen sollen, sie hat dem Kind nicht viel beigebracht!“
Dieser Teil des Märchens wird offenbar als eine Art Happy End betrachtet. Mein Publikum ist zufrieden mit dem pädagogischen Gehalt, der noch lange Gesprächsstoff bieten wird.
Ich belasse es dabei, den Teil mit dem Jäger und der Rettung von Großmutter und Rotkäppchen erzähle ich nicht mehr.
Die Geschichte selbst gehört von nun an zu meinem „Pflichtrepertoire“ an Stories, ich muss sie bei jedem Besuch immer wieder erzählen.
Ein Beitrag von Dr. Birgit Scheps-Bretschneider
© Birgit Scheps-Bretschneider
Es ist immer faszinierend, wie sehr sich Geschichten und Mythen verändern, wenn sie auf kulturelle Unterschiede stoßen. Kein Wunder, dass es von allen Märchen und Legenden so viele verschiedene Varianten gibt. Und schön, dass diese Tradition noch heute aufrechterhalten wird, inklusive des kulturellen Austausches.
Die verschiedenen Auffassungen von GUT und BÖSE
DUMM oder LISTIG sind verblüffend. Was für uns grausam ist,
scheint für die Zuhörer GERECHT.