Roger Caillois (1913-1978) ist hierzulande nur wenigen bekannt. In Frankreich sind seine Werke recht verbreitet und es erscheinen immer wieder Bücher oder Texte aus dem Nachlass. Auf Deutsch sind unter anderem seine poetisch-mythologischen Studien zu Steinen erschienen, zum Kraken, zur Dissymmetrie, das einflussreiche Die Spiele und die Menschen, eine Autobiographie und ein Buch über Patagonien. Caillois stand den Surrealisten nah und war Mitbegründer des Collège de Sociologie in Paris, das Untersuchungen zum Heiligen und zur Irrationalität überhaupt vorantrieb. Er wählte 1939 jedoch das Exil in Argentinien, von wo aus er den französischen Widerstand gegen die deutsche Okkupation publizistisch unterstützte. Hier lernte er auch Jorge Luis Borges kennen, den er nach dem Krieg in Frankreich und Europa bekannt machte.
Caillois‘ Denken stellt eine interessante Kombination aus französischer Rationalität und Phantastik dar. Gerade aus dieser Polarität heraus entwickelt er Kontinuitäten, Parallelen und Mosaike, die sich aus den verschiedensten Formen des Wissens zusammensetzen. Steine regen ihn an zu mythologischen Exkursen, phantastische Erzählungen bilden Brücken zu Ereignissen in der biologischen oder mineralischen Welt. Das nun auf Deutsch erschienene Der Mythos und der Mensch ist ein Frühwerk von 1938 und eher eine Sammlung von Aufsätzen denn eine homogene These. Caillois wurde ein großer Stilistiker, hier jedoch sieht man ihn bei Probeläufen zwischen akademischem, wissenschaftlichem Publizieren und essayistischer Eleganz.
Der erste Aufsatz ist gespickt mit Fußnoten aus der biologischen Forschung seiner Zeit. Die Referenzen dienen der Absicherung seiner auch später immer wieder produktiven Intuition, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Mythen und biologischen Mustern. Es geht zunächst um die berühmt-berüchtigte Gottesanbeterin oder Mantis, der man nachsagt, dass sie nach oder während der Kopulation das Männchen auffrisst. Die Fangschrecken praktizieren also einen sexuellen Kannibalismus, der evolutionär gar keinen Sinn zu haben scheint. Das hat die Mythenmacher der ganzen Welt, wie Caillois zeigt, in Bewegung gesetzt; von Afrika bis Asien und Europa wimmelt es von Mantis-Geschichten. Vielfach sind sie als Schreckszenarien für Männer erzählt worden, die hier Kastrationsängste imaginär ausleben. Die Gottesanbeterin, schreibt Callois, sei wohl das Insekt, das das menschliche Empfinden am stärksten beeindruckt habe. Die vergleichende Mythologie verhilft ihm zu einer vergleichenden Biologie, denn er postuliert Menschen und Insekten als Teil derselben Natur. Die Fiktionen der Menschen werden inspiriert von den Taten der Tiere; der Mensch wiederholt im Imaginären die Handlungen der realen biologischen Wesen. Wo das Insekt agiert, mythologisiert der Mensch. Gerade das Maschinenhafte dieses und vieler Insekten faszinierte Menschen seit jeher. Sie haben etwas Roboter- und Automatenartiges, was insbesondere die Moderne zu neuen Fiktionen von beseelten Puppen (wie etwa bei E.T.A. Hoffmann) anregte. Letztlich, und hier nähert sich der sonst die Psychoanalyse verdammende Autor Freud an, sieht Caillois in der Faszination für die Gottesanbeterin eine Todessehnsucht. Der Mythos, schreibt er, entstammt einer Vorstellung, die eine Sogwirkung auf die Phantasie ausübt. Der Mythos ist der Schatten der Tat, denn „überall weben dieselben Fäden dieselben Muster.“ (92)
Mit seinem Aufsatz über den Mimetismus in der Natur und der menschlichen Psychasthenie – der körperlich-seelischen Erschöpfung und geringen Belastbarkeit – spinnt er diese Fäden fort. Zunächst gibt er uns einen Zugang zu den phantastischen Höhlen und Tunneln der Mimikry in Flora und Fauna. Allein diese Seiten suggerieren mit Recht eine Verbindung zwischen Naturphänomenen und Phantastik. Es gibt die gestaltauflösende Färbung, wenn nur noch Flecken, nicht aber der Körper als solcher noch sichtbar ist. Es gibt Blendfärbung, die Lichteindrücke verzögern, Metamorphosen, die wehrlosen Tierchen ein gefährliches Aussehen verschaffen. Eine Raupe kann einen Schlangenkopf erzeugen, ein Schmetterling kann einem riesigen Raubvogel gleichen. Die Homochronie kann dafür sorgen, dass Tierchen Kieselsteinen, Samenkörnern oder Schleim gleichen. Baumwanzen werden zu Flechten, Heuschrecken zu Zweigen, Falter zu Kot. Der Fall der Blattschrecke ist allerdings tragisch: sie knabbern sich gegenseitig auf, weil sie sich für Blätter halten. Caillois findet hier eine biologische Magie am Werk, nämlich in dem Streben nach Angleichung, nach Herstellung von Gleichheit. Hier kommt die menschliche Psychasthenie ins Bild, die Caillois als Entpersönlichung und Angleichung an den Raum ansieht. Das Aufgeben der Person folgt einer Regression: „Das Leben weicht um eine Stufe zurück.“ (121) Caillois erblickt hier wieder eine Sogwirkung, die der Entropie, der gleichförmigen Materie, denn die Welt tendiere zur Eintönigkeit (126). Der Raum wird zur auslöschenden Form – hier scheint Caillois seinen damaligen Obsessionen aufzusitzen, die sich im Bild der „Sogwirkung“ wiederholt. Doch bietet dieses Bild neue Ausblicke – etwa die Verbindung zu solchen Raumforschern wie d’ Arcy Wentworth Thompson (1860-1946), einem Mathematiker und Biologen, der die Evolution mithilfe von Geometrie erklärt (um es etwas platt zu sagen). Die Mimikry, hätte Caillois ergänzen können, bietet einen Fundus für Fiktionen und für das Schreiben selbst. Schreibend blenden wir, führen auf falsche Fährten oder erzeugen Schreckgestalten und Gespenster.
Von den weiteren Aufsätzen seien vor allem „Schattenspiele auf Hellas“ und „Paris, ein moderner Mythos“ erwähnt. Im ersteren versucht er, über die Beschreibung des Palastes von Knossos auf Kreta in die mythischen Lebenswelten der minoischen Kultur einzudringen. Der Essay über Paris als Mythos zeigt die mythischen Wurzeln der literarischen Werke über Paris, die im 19. Jahrhundert entstanden: von Victor Hugo, Eugène Sue bis Balzac. Balzac liefert im Übrigen ein großartiges Motto für diese Reflexionen: „Die modernen Mythen werden noch weniger verstanden als die alten Mythen, obwohl wir von den Mythen zerfressen werden.“ (163)
Unter den Phantasien, die Paris zum Hintergrund haben, sind insbesondere auch sehr populäre Thriller wie Die Geheimnisse von Paris, Fantomas oder Das Phantom der Oper, weil gerade bei diesen Werken für ein Massenpublikum mythische Konzepte greifen. Caillois praktiziert hier als einer der ersten eine Form der Literatursoziologie, die zwischen E- und U-Literatur nicht mehr unterscheiden will. Paris als Magnet der Imagination – das war übrigens auch ein Grund, warum Mircea Eliade, der rumänische Religionswissenschaftler, immer wieder Balzac las.
Der Essayband bietet einen Einstieg in die Denkmethoden und Forschungsinteressen von Roger Caillois, dessen Werk sich später in diese vorgezeichneten Richtungen weiterentwickeln wird. Es geht ihm immer um ein zentrales anthropologisches Thema: „Es ist im Menschen ein Schattenbereich, dessen nächtliche Herrschaft sich auf die meisten seiner Gefühlsreaktionen wie auch auf die meisten Regungen seiner Einbildungskraft erstreckt und mit dem sein Wesen in jedem Augenblick rechnen und sich auseinandersetzen muss.“ (192)
Der handliche Band wird abgerundet durch zwei substanzielle Nachworte des Übersetzers Peter Geble und der Reihenherausgeberinnen Anne von der Heiden und Sarah Kolb.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweis:
Roger Caillois, Der Mythos und der Mensch. Übers. und mit einem Nachwort von Peter Geble, Hg. Anne von der Heiden, Sarah Kolb. August Verlag, Berlin 2023.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.