Einer der vorigen Blog-Beiträge behandelte die Rolle des Raben in der Mythologie der Nordwestküsten-Indianer – er ist einer der prominentesten Trickster in den indigenen Kulturen Nordamerikas. Mittlerweile bedienen sich die Indianer auch zeitgenössischer Medien, um die Trickstergeschichten zu erzählen. Im Jahr 2004 eroberte der Trickfilm Raven Tales: How Raven Stole the Sun die Leinwände indigener und internationaler Filmfestivals. Die Jury des ImagineNATIVE in Toronto kürte den 26-minütigen Trickfilm zur Best Television Production des Jahres. Auf dem American Indian Film Festival in San Francisco wurde er mit dem Best Animated Short Award ausgezeichnet. Weitere Preisverleihungen folgten und machten Raven Tales zu einer der erfolgreichsten Produktionen des Native American Film. Die mittels CGI (Computer-Generated Imaging) realisierte 3D-Animation wurde von dem Cherokee Chris James entwickelt und von den in Calgary ansässigen New Machines Studios in Zusammenarbeit mit dem Kwakwaka’wakw-Künstler Simon James produziert.
Der außergewöhnliche Erfolg des Pilot-Films veranlasste die Produzenten, Raven Tales als Serie zu konzipieren. Mit der Produktion der neuen Episoden wurde 2005 begonnen. Eine erste Ausstrahlung im Fernsehen erfolgte 2006 über Kanadas indigenen Fernsehsender APTN. 2014 entstand schließlich Raven Tales: The Movie, ein auf der Serie basierender Animationsfilm in Spielfilmlänge.
Die Filme erzählen die Abenteuer des Raben. Jede Episode konzentriert sich auf eine andere Rabengeschichte (oder eine Geschichte, die vom Raben eingeleitet wird), die von der Mythologie verschiedener indianischer Stämme adaptiert wurde. Ein großer Teil des Humors der Raven Tales basiert auf den Interaktionen ihrer wiederkehrenden Charaktere.
Die prominentesten Figuren der Serie sind Rabe, Adler und Frosch. Konturen und Federzeichnung dieser computeranimierten Figuren erinnern an das traditionelle Design der indianischen Nordwestküstenvölker und basieren auf Schnitzereien von Simon James. Ihre Mimik und Gestik weisen anthropomorphe Züge auf. In der Körperhaltung des Raben spiegeln sich abwechselnd Ungeduld, Hyperaktivität und Resignation. Dies wird durch die schnelle, jungenhafte Sprache des Raben unterstrichen, die ihm von Evan Adams verliehen wird. Adams – Schauspieler, Schriftsteller und Arzt vom Volk der Coast Salish – ist durch seine Rollen in Filmen wie Smoke Signals und The Business of Fancydancing bekannt und gehört zu den Stars des Native American Film. Die Stimme des Adlers ist Ian Reid, ein Heiltsuk-Künstler; die weibliche Frosch-Figur wird von der Schauspielerin Carmen Moore synchronisiert. Nebencharaktere der Raven Tales sind Menschen. In neuen Episoden kommen außerdem weitere mythische Wesen hinzu.
Im Pilot-Film orientieren sich Wortlaut und plastische Darstellung unter anderem stark an Bill Reids Erzählung The Raven Steals the Light (1996). Den Figuren im Film wird jedoch weitaus mehr Intelligenz zugewiesen als in Reids Version der Geschichte. Sie kommunizieren häufiger und ihre Darstellung ist menschlicher als in der Textvorlage.
Raven Tales: How Raven Stole the Sun ist die Adaption einer populären Haida-Mythe, bezieht aber auch Elemente der Kwakwaka’wakw und der Salish mit ein. Erzählt wird die Geschichte vom Lichtdiebstahl des Raben. Er langweilt sich und beschwert sich ständig bei seinem Bruder, dem Adler, der sein Bestes versucht, ihn zu ignorieren. Eines Tages erzählt ihnen der Frosch von einem alten Mann, der die Gestirne des Himmels in Truhen in seiner Hütte am Fluss bewahrt. Der neugierige Rabe verwandelt sich in eine Fichtennadel und wird von der Tochter des alten Mannes verschluckt, als sie aus dem Fluss trinkt. Er schläft und wächst in dem Mädchen heran, bis er als Rabenkind geboren wird. Mit Hilfe seiner Überredungskünste, seines kindlichen Charismas und gelegentlicher Tobsuchtsanfälle bewegt er den alten Mann dazu, die Truhen zu öffnen. In dem Moment, als dieser dem Rabenkind die letzte Truhe aushändigt, nimmt der Rabe seine wahre Gestalt an und flieht mit dem Licht durch das Rauchabzugsloch, welches seine Federn – die bislang weiß gewesen waren – schwärzt. Die Welt ist in Licht gehüllt. Der alte Mann bemerkt zum ersten Mal die Schönheit seiner Tochter und erkennt nun den Sinn des Lichts.
Manuela Müller sieht in Tricksterfilmen wie Raven Tales eine Revitalisierung der oralen Tradition der indigenen Völker Nordamerikas, wobei der moderne Filmemacher als Geschichtenerzähler fungiert. Ein Problem stellt lediglich die Bildhaftigkeit des Mediums dar, denn „[i]n den ursprünglichen Traditionen können Trickster als sprachliche Zeichen, die sich im Prozess der Imagination zu mentalen Bildern wandeln, definiert werden“ (Müller 2009: 51). Erschwert wird die Visualisierung des Tricksters auch durch den Sprachwechsel: Die Filmsprache ist Englisch, wodurch ein gänzlich neuer Kontext entsteht, in dem sich die Mythen gegenwärtig bewegen. Gerade durch den Film als populäres Medium ist es dem Mythos jedoch möglich, nicht nur viele – vor allem junge – Indianer, sondern auch allgemein eine größere Zahl von Zuschauern zu erreichen: „Es ist unsere Hoffnung, dass Raven Tales künftigen Generationen vermitteln wird, dass die Kultur der amerikanischen Ureinwohner noch lebendig ist und sich weiterentwickelt. Wir sehen kein Ende ihres Wachstums in der nahen Zukunft“ (Simon James in Native Networks 2005).
Ein Beitrag von Dr. Claudia Roch
Literaturhinweise:
Manuela Müller: Trickster im Native American Film. Die Weiterführung der oral tradition. München: Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung 2009.
Native Networks: Simon James. 2005. <http://www.nativenetworks.si.edu/ENG/rose/kientz_c.html> (06.07.2011)
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.