Ragnarök oder: Von modernen Riesen und jugendlichen Helden

„Die Söhne Thors werden Mjöllnir tragen, zum Schutz gegen neue Feinde. Warum sollte kein Riese überleben? […] Die neuen Asen werden über die Taten in der Vergangenheit reden, wie Thor neun Schritte vor der Midgardschlange zurücktrat und als einziger der alten Götter siegte, wie Odin die Runen erfand und den Dichtermet heimholte. Die Asen werden im Schutt, von Gras überwachsen, ihr Brettspiel finden, das sie lieben. Und sie werden die goldenen Figuren neu setzen, Losstäbe werfen und die Zukunft erforschen.“ (Eine Neue Welt, In: Tetzner, Germanische Götter- und Heldensagen, S. 135)

Die Reise der Helden hat begonnen, sagt die ältliche Supermarkt-Kassiererin mit dem merkwürdig durchdringenden Blick und dem Lächeln, welches stets mehr meint, als es zu sagen scheint. Verrückt sei sie, behaupten die Einwohner der norwegischen Stadt Edda, sind sie es doch seit Jahrzehnten gewohnt, beim Einkauf allerlei prophetische und in ihren Augen unsinnige Bemerkungen zu hören. Auch dem jungen Magne Sejer, unlängst mit seiner chaotisch-neurotischen Mutter und seinem durchtrieben-schlauen Bruder Laurits in den Ort am Fjord gezogen, flößt die Dame Unbehagen ein. Bei ihrer ersten Begegnung hat sie auf merkwürdige Weise seine Stirn berührt und seitdem passiert etwas mit ihm. Magne scheint sich auf eigenartige Weise zu verändern.

Ragnarök nennt sich eine seit Januar 2020 ausgestrahlte dänische Fantasy- und Cominig of Age-Serie des Streamingdienstes Netflix. Ein Titel, der dem Zuschauer das mythische Fundament gewissermaßen vorgibt, auch wenn die Handlung in der Gegenwart angesiedelt ist. Ragnarök meint in der Nordischen Mythologie im Grunde so viel wie „Schicksal der Götter“, genauer genommen handelt es von deren Kampf gegen die Riesen (der MYTHO-Blog berichtete), in dessen Folge die Welt untergeht. In der Völuspá, einem 66-strophigen Gedicht, in welchem eine Seherin ihre Weissagungen vorträgt, wird dieses Ende besungen:

„Schwarz wird die Sonne, die Erde versinkt ins Meer,
Vom Himmel schwinden die heitern Sterne,
Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,
Die heiße Lohe beleckt den Himmel.“

(Völuspá, 56)

Im fiktiven nordischen Edda (eine bewusst gewählte Anspielung auf die nordischen Götter- und Heldensagen) soll sich nun die eigentlich finale Schlacht zwischen Göttern und Riesen ereignet haben. Die Götter waren im Anschluss Geschichte. Und die Riesen? Haben überlebt. Wie, wird nicht erklärt, nur, dass sie sich jetzt mit Nachnamen Jutul nennen und als vierköpfige Familie seit Ewigkeiten mehr oder minder offensichtlich die Geschicke Eddas lenken. Großunternehmer. Reich. Privilegiert. Rücksichtslos. Und vor allem unempathisch sowohl gegenüber der Umwelt als auch gegenüber ihren Mitmenschen, über die geklagt wird, dass sie die Riesen früher einmal als die „wahren Götter“ verehrt hätten. Früher. In der Gegenwart sind Menschen lediglich Mittel zum Zweck. Sie sind eben da. Und wer eine Gefahr für das Familiengeheimnis zu werden droht, wird gesellschaftlich kaltgestellt, aus dem Freundeskreis verbannt oder gleich umgebracht.

Der Tod an einer Mitschülerin von Magne und den als Menschen getarnten Riesenkindern Saxa und Fjor ist es denn auch, der den zweiten roten Faden durch die auf sechs Folgen verteilte Handlung trägt. Magne mag die von der Polizei als Unfall kategorisierte Erklärung nicht so recht glauben. Etwas ist faul in Edda und er will wissen, was. Es muss etwas mit dem Wasserwerten im Fjord und der Fabrik der Jutuls zu tun haben, denn die Verstorbene war selbsternannte und dadurch in der Schule vielbelächelte Umweltaktivistin. Auf jeden Fall entwickelt Magne im weiteren Serienverlauf mehr und mehr übernatürliche Kräfte. Plötzlich kann er einen Hammer fast 600 Meter weit werfen, ist schneller als Jusain Bolt, unglaublich stark (was selbst die Riesin Ran in einem Wettbewerb im Armdrücken kaum zu glauben vermag) und kann das Wetter nicht nur vorhersagen, sondern es auch beeinflussen.

So einen wie ihn hat es die letzten tausend Jahre nicht gegeben, stellt die Riesenfamilie besorgt fest. Um Magnes Geheimnis auf die Spur zu kommen, versucht sie es mit klassisch-beiläufigem Ausfragen, einem feuchtfröhlichen Met-Trinkgelage sowie Drohungen in der alten Sprache (Altnordisch). Man will sichergehen. Thor, Wettergott und Beschützer der Menschen, ist der gefährlichste Gegner der Riesen gewesen; „der Riesen Geschlecht erschlug er ganz“ heißt es etwa im altnordischen Götterlied Thrymskvida (Lied von Thrymr). Aber die Riesenfamilie ist sich uneins. Unter Umständen könnte er auch die Wiedergeburt eines anderen Riesengeschlechts sein.

In der Nordischen Mythologie tummeln sich schließlich jede Menge Riesen. Jötunn werden sie im Allgemeinen bezeichnet, die Gefräßigen. Diesem Ruf werden sie als Familie Jutul (noch so eine auffällige Ähnlichkeit) auch in der Serie Ragnarök gerecht, u.a. werden rohe Herzen von mit bloßer Hand erjagten Rentieren oder gar noch lebende Vögel verspeist. Und darüber hinaus: Süßigkeiten. Denn, so beklagt das weibliche Riesenoberhaupt, sie sind alle bequem geworden, lieben die Digitalisierung und die Annehmlichkeiten ihres Reichtums sowie amerikanische Fernsehserien. Zudem scheinen einige Familienmitglieder auch noch echte Gefühle für die Menschen zu entwickeln. Eine ganz und gar unriesige Entwicklung, die mit zu den Glanzpunkten der Serie gehört. Egal ob boshaft, zweifelnd, konfliktbeladen, skrupellos oder gefühlig – die Riesen in Ragnarök haben sich den eigentlich so verachteten Menschen ganz gut angepasst.

Dagegen wirkt Magne, die jugendliche Inkarnation von Thor, zumindest was seine Gesichtsmimik angeht, stoisch wie eine Mumie. Er soll der Held der Geschichte sein. Aber an Helden glaubt er im Grunde selbst nicht, wie auch, ist er doch mit einer Lese-Rechtschreibschwäche geschlagen, wenn nicht stoisch, dann hibbelig oder oft zu stark als ihm und anderen guttut. Zudem wird er ständig von seiner Mutter bevormundet und von seinem Bruder Laurits aufs Korn genommen. Ein Held und Feind der Riesen, der mit entschlossen gezücktem Hammer durch die Lande streift, sieht wahrlich anders aus. Allerdings passt Magne/Thor ins Bild des postheroischen Helden, dem der Freiburger Soziologe Ulrich Bröckling in seinem 2020 bei Suhrkamp erschienenen Buch „Postheroische Helden. Ein Zeitbild“ einen umfassenden Diskurs gewidmet hat.

Darin geht er u.a. den Fragen nach, ob das klassische Heldenbild noch zeitgemäß ist, wie es sich, vor allem im Verlauf der historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts und im Zuge der Digitalisierung, verändert hat und, ob wir Helden generell noch brauchen; damit sind jene Vorbilder gemeint, an die man glauben, denen man nacheifern und sich in gewisser Weise sowohl sinnbildlich als auch faktisch unterwerfen bzw. sie zumindest verehren kann, in dem man die Erinnerung an sie lebendig erhält. Die gute Nachricht ist: Der Held war nie weg und er wird auch weiterhin seine Existenzberechtigung einfordern, als Stereotyp ebenso wie als reales Transformationsobjekt. Er ist quasi gekommen, um zu bleiben. „Wenn etwas Helden auszeichnet, dann ist es ihre Exzeptionalität.“ (Bröckling, S. 23) Sie sind rar. Sie besitzen übermenschliche Kräfte. Sie überschreiten die Ordnung. Sie bringen Opfer. Sie benötigen Antagonisten und agieren oft allein. Sie sind in der Regel männlich. Sie verlangt nach Heldentaten. Sie können scheitern und sind oft auch tragische Gestalten. Sie sind sterblich. „Helden faszinieren […] nicht nur, indem sie begeistern, sondern auch, indem sie verstören. Vor allem tote Heroen entfalten eine gespenstische Präsenz.“ (Bröckling, S. 55)

Der Grundtypus des Helden ist also in Magne/Thor angelegt, doch wie bei jedem Helden ist die Bewusstmachung – der Weg zu seiner Bestimmung – erst einmal steinig. Zumal er mit seinem Drang nach Gerechtigkeit und dem Willen, der Wahrheit um seine verstorbene Mitschülerin unbedingt auf die Spur kommen zu müssen, fast schon ein wenig antiquiert daher kommt angesichts der zunehmenden Ich-Zentrierung der Post-Moderne. Oder der doch etwas zu spaßig daherkommenden Darstellung eines Marvel-Thor. Ein schöner Konflikt, den die Serie hier auftut und der hoffentlich in einer zweiten Staffel noch ausgebaut wird.

Eine weitere Stärke von Ragnarök ist, dass die Serie aktuelle Probleme (wie etwa der Umwelt) in die Handlung einbaut. Die Riesen sind immer noch hier und noch immer zerstören sie die Welt, weiß die ältliche Supermarkt-Kassiererin zu sagen. Es gibt also viel zu tun. Und das Ende ist so episch, wie man es erwarten darf, ohne dabei in Klischees oder Kitsch zu verfallen. Eines wird auf jeden Fall klar: Ragnarök meint nicht allein das Schicksal der Götter oder eine Schlacht der Helden, es bedeutet auch Erneuerung. Wie das Leben selbst, verläuft auch die Nordische Mythologie nicht linear, sondern zyklisch. Jedes Ende gebiert also auch einen neuen Anfang.

Die Reise der Helden hat begonnen…

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

Literaturhinweise:

Die Edda, die ältere und jüngere nebst den mythischen Erzählungen der Skalden, übersetzt und mit Erläuterungen begleitet von Karl Simrock, 6. Aufl. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung: Stuttgart, 1876.

Reiner Tetzner: Germanische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt. Reclam: Stuttgart, 2015.

Ulrich Bröckling: Postheroische Helden. Ein Zeitbild. Suhrkamp: Berlin, 2020.

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .