Die Volksmärchen ranken sich häufig um entzückende Bräute, die in Pflanzengestalt erscheinen, aus ihr er- oder aus einer Pflanze emporsteigen. Metamorphosen von Mensch zu Pflanze und Pflanze zu Mensch finden sich in den Märchen weniger häufig als Tierverwandlungen, dennoch sind sie weltweit anzutreffen. Pflanzenbraut wie Tierbräutigam sind immer Teil einer Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau, in der der menschliche Partner eine aktive Rolle bei der Erlösung und der damit einhergehenden Zurückgewinnung der menschlichen Gestalt einnimmt. Allein in den Begrifflichkeiten Pflanzenbraut und Tierbräutigam stoßen wir auf einen großen, wenn auch nicht ausnahmslosen Unterschied – nämlich, dass Tierverwandlungen in Märchen häufig Männer betreffen, während die Pflanzenverwandlung fast immer das weibliche Geschlecht betrifft. Beispiele wie die Schwanjungfrau oder der in einen Baum verwandelte Jüngling aus Grimms Die Alte im Wald gehören zu den selteneren Ausnahmen. Ein weiterer großer Unterschied zu den Tierbräutigamerzählungen und zugleich Merkmal der Pflanzenverwandlungen im Märchen ist, dass letzteren meist keine Verfluchung, Strafe oder böswillige Verwünschung durch Gegenspieler wie Dämonen, Hexen oder den Teufel vorausgehen.
Pflanzenmetamorphosen sind seit der Antike ein beliebtes Motiv in verschiedenen Erzählgattungen. Es reicht zurück zum altägyptischen Zwei-Brüder-Märchen, in dem der jüngere sein Herz in einer Zedernblüte verwahrt – ein Vorgang, der anschließend eine Verwandlungskette über Pflanzen und Tiere in Gang setzt.
Im altgriechischen Mythos um die Nymphe Daphne und ihren Vater, den Flussgott Peneios, zeigt sich ein Motiv, dass sich auch in Märchen widerspiegelt. Zum Schutze vor dem von Eros verzauberten Apollon, der Daphne aus seinem unstillbaren Verlangen heraus versucht zu vergewaltigen, fleht diese ihren Vater an, dass er ihre – den Apollon reizende – Gestalt wandeln möge.
In Ovids Metamorphosen, Buch 1, Vers 545–555:
»›Hilf, Vater‹, sagt sie, ›wenn ihr Flüsse göttliche Macht habt!
Durch Verwandlung verdirb die Gestalt, mit der ich zu sehr gefiel!‹
Kaum war die Bitte beendet, befällt schwere Taubheit die Glieder:
Die weichen Brüste werden von zarter Rinde umschlossen,
die Haare werden zu Laub, die Arme wachsen als Äste;
schon wird der flinke Fuß von trägen Wurzeln gehalten,
ein Wipfel verbirgt das Gesicht: Der Glanz allein bleibt ihr.
Phoebus liebt sie gleichwohl. An den Stamm hält er die Rechte
und fühlt noch unter der neuen Rinde die zitternde Brust.
Die Zweige, wie Glieder, mit seinen Armen umschlingend
küsst er das Holz, doch das Holz weicht vor den Küssen zurück.«
An diesen Mythos erinnernd, lässt sich in einem rumänischen Märchen das Mädchen Daphne vom Geiste ihrer Mutter in einen Lorbeerbaum verwandeln, um sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Denn ihr Vater, der Kaiser, will in ihr seine verstorbene Frau erkennen. Nachdem sie sich 1000 Jahre später in Menschengestalt zu einem dort übernachtenden Kaisersohn legt, gelingt ihr im Anschluss die Rückverwandlung in die Pflanze nicht mehr. Ihre Mutter spricht zur ihr: »Ich kann nicht. Du bist nicht mehr mein Kind, sondern eines anderen Frau.« Sie bleibt eine Frau und heiratet nach einigen Hürden ihren Kaisersohn – beide tragen eine Lorbeerkrone, ähnlich dem Apollon.
Die Gleichsetzung des Menschengestalt einnehmenden Pflanzenmädchens mit dem Unschuldsverlust findet sich in weiteren Märchen. So darf das Rosenmädchen eines rumänischen Märchens nach ihrer Verwandlung in einen Menschen nicht mehr in den Rosenstrauch zurückkehren oder das Pflanzenmädchen in einem Märchen aus Lesbos nicht zurück zu den Myrten und Lorbeeren.
Zum Schutze verwandelt werden junge Frauen auch in den Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen, wie auf der magischen Flucht in Der Liebste Roland, zur Bewahrung der Reinheit und Jungfräulichkeit in Die Nelke oder aus rätselhaften Motiven im Rätselmärchen. Diese Märchen werden dem Märchentyp ATU[i] 407 The Girl as a Flower oder Blumenbraut zugeordnet. Dieser Märchentyp lässt sich in zwei größere Gruppen unterteilen, die sich deutlich voneinander abheben. So handelt ATU 407 A The Bayberry Child von der Verwandlung einer Blume zum Mädchen und ATU 407 B The Devil’s (Dead Man’s) Mistress von der Verzauberung eines Mädchens zur Pflanze (und seine Erlösung).
Die unerwartete Selbstverwandlung der Blume zum Mädchen (Typ A) findet sich beispielsweise in der deutschen Verwandlungsballade Sub Rosa in Des Knaben Wunderhorn, auch wenn sie stark auf das Wesentliche reduziert ist. Im fünften Vers heißt es: »Komm ich ins Kämmerlein, Find nicht mein Röselein, Als ich herummer sah, Sitzt ein schön Jungfrau da.« Die Märchen Die kleine Myrte von Giambattista Basiles (1583–1632) oder Clemens Brentanos Das Märchen von dem Myrtenfräulein liefern mehr Inhalt. Beginnend mit dem klassischen Start des Märchens, nämlich einer Mangelsituation, wie es Wladimir Propp (1895–1970) 1928 in seiner Morphologie des Märchens beschrieb, klagt die Frau, die kein Kind bekommt: »Herrgott im Himmel, wenn ich doch nur etwas gebären möchte und wäre es auch nur ein Heidelbeerzweig.« Daraufhin gebiert sie einen Zweig statt einem Menschenkind. Diese unabsichtliche Verwünschung durch die eigenen Eltern ist vor allem seit dem Erscheinen der The Witcher-Serie aus dem bekannten Grimm-Märchen Hans mein Igel bekannt, in dem der Vater sein Kind schon vor der Geburt in Tiergestalt verwünscht, als er zornig spricht: »Ich will ein Kind haben, und sollt’s ein Igel sein.« Der von der Frau gepflegte Zweig wird eines Tages von einem Prinzen entdeckt, dem sich alsbald auch das schöne Mädchen zeigt. Nach einigen Konfliktlinien vollendet das Mädchen seine Menschengestalt und es wird Hochzeit gefeiert.
Zahlreiche Varianten des Typen B sind besonders in Mittel- und Osteuropa sowie Indien und China verbreitet. Sie zeigen oft Kontaminationen mit anderen Erzähltypen, besonders mit ATU 363 Vampir, der häufig in tschechischen, slowakischen, russischen und ungarischen Varianten festzustellen ist. Die Märchen haben fast alle den gleichen Handlungsablauf: Ein Mädchen wünscht sie um jeden Preis einen Geliebten und wenn es auch ein Toter, Leichenfresser, Vampir oder Dämon wäre. Der unachtsam geäußerte Wunsch geht in Erfüllung und das Mädchen sieht sein Entkommen einzig im eigenen Tod. Aus ihrem Grab wächst eine besondere Blume, der sie – von einem Prinzen oder edlen Herren mitgenommen und gepflegt – sodann als junge Frau entspringt. Häufig steht diese Beziehung dann unter einem Sprech- oder Sehtabu. So darf der Jüngling seine Braut nicht öffentlich zeigen oder über sie reden, da sie sonst vom untoten Liebhaber gefunden wird. Viele dieser Erzählungen enden aufgrund des Tabubruchs in einem unglücklichen Ausgang. Dabei handelt es sich um das Motiv der »gestörten Mahrtenehe«. Das Motiv der Mahrtenehe bezeichnet die erotisch-sexuell motivierte Liebesbeziehung oder Ehe einer meist männlichen Person mit einem meist weiblichen überirdischen Wesen, deren Dauer an die Beachtung eines Verbots beziehungsweise Tabus gebunden ist. Die bekannteste Erzählung ist die der Melusine. Der Tabubruch führt auch im ungarischen Märchen Die Grabrose zu einem tragischen Ende. Indem der König das Pflanzenmädchen entgegen dem bestehenden Tabu bereits in der ersten Nacht anfasst und küsst, wird ihre Erlösung verhindert und er verrückt.
Zahlreiche Pflanzenbrautmärchen sind dem Typ ATU 408 Die drei Orangen zuzuordnen. Dabei handelt es sich um eines der am meisten verbreiteten Zaubermärchen. Aufgrund eines Frevels ist ein Prinz dazu verdammt, das schönste Orangenmädchen zu finden. Von einem Menschenfresser bewacht, muss der Jüngling meist noch weitere Proben bestehen, bis er die richtige Braut für sich gewinnt. Während er einen Wagen holt, wartet seine Liebste auf einem Baum und wird dabei von einer hässlichen Frau entdeckt. Ab hier gibt es zwei Subtypen, wie das Märchen weiterverläuft. Im Subtyp A wird die Schöne von der Hässlichen getötet, woraufhin sie sich in einen Fisch oder eine Taube verwandelt. Das Tier lässt die Hässliche ebenso töten. Aus den Überresten wächst ein Baum, welchen sie fällen lässt. Eine dritte Person nimmt einen Splitter des Baumes mit nach Hause und es wächst ein neues Orangenmädchen heran. Der Prinz hört von ihrer Geschichte und findet wieder zu ihr. Im noch populäreren Subtyp B rammt die Falsche der Pflanzenbraut beim Kämmen eine Haarnadel in den Kopf. Sie verwandelt sich daraufhin in eine Taube. Am Schloss wird sie von einem Koch oder Gärtner gefunden. Ihr Geliebter baut eine Bindung zu dem Vogel auf, findet die verwunschene Haarnadel und zieht sie heraus. Dadurch wird die Braut zurückverwandelt, es folgt die Heirat und die falsche Braut wird bestraft, indem sie selbst ihr eigenes Urteil spricht.
In den Pflanzenmädchen und Pflanzenbräuten spiegeln sich zahlreiche Symboliken wider. Märchenspezifisch ist, dass hier die völlige Identifikation des weiblichen Wesen mit all ihren symbolischen Attributen vollzogen wird. Die Pflanzenbräute befinden sich stets zwischen Erotisierung und Zensur – so gehen sie in einigen Märchen völlig nackt aus der Frucht hervor, teils sind sie von ihren langen Haaren ganz bedeckt, manchmal tragen sie schon nach ihrer Verwandlung prächtige Kleider, oder erscheinen sogar mit Kind in den Armen – immer aber sind sie Wesen von wunderbarer Art.
Ein Beitrag von Janin Pisarek
Janin Pisarek ist Erzählforscherin und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte in der historisch-vergleichenden Erzählforschung liegen in Verwandlungen und Mahrtenehen der europäischen Volksmärchen sowie den dämonologischen Sagen und Sagengestalten des deutschsprachigen Raumes. In diesen Bereichen ist sie vielseitig publizistisch aktiv. Seit 2018 ist sie Redakteurin der Zeitschrift Heimat Thüringen. Seit Anfang 2019 ist sie Teil des interdisziplinären Projektes Forgotten Creatures, das Sagengestalten erforscht und vielseitig vermittelt. Bei Rohnstock Biografien managt sie autobiografische Erzähl- und Buchprojekte.
Literaturhinweise:
Christine Shojaei Kawan: Art. Orangen: Die drei O., In: Kurt Ranke: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 10, Berlin: De Gruyter, 2002, Sp. 346–355.
Gertraud Meinel, Joseph R. Klíma: Art. Blumenmädchen. In: Kurt Ranke: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 2, Berlin: De Gruyter, 1979, Sp. 495–506.
Gertraud Meinel: Art. Pflanzen. In: Kurt Ranke: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 10, Berlin: De Gruyter, 2002, Sp. 941–947.
Helga Volkmann: Die Pflanzenbraucht und ihr Erlöser. In: Helga Volkmann, Ulrich Freund [Hrsg.]: Der Froschkönig … und andere Erlösungsbedürftige. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, 2000, S. 75–85.
Janin Pisarek: Mehr als nur die Liebe zum Wassergeist. Das Motiv der ‚gestörten Mahrtenehe‘ in europäischen Volkserzählungen. In: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege. Jahrgang 27, Heft 1, 2016, S. 3–8
Janin Pisarek: Die Pflanzenbraut im Märchen. In: Märchenforum. Zeitschrift für Märchen und Erzählkultur, 85. Ausgabe, Frühjahr 2020, S. 20–23.
Janin Pisarek: Das Vermächtnis von Anti Aarne & Kaarle Krohn. Die Finnische Schule der Erzählforschung. In: Märchenforum. Zeitschrift für Märchen und Erzählkultur, 88. Ausgabe, Winter 2020, S. 46–49.
Anmerkungen:
[i] Seit 2004 sprechen wir vom Aarne-Thompson-Uther, kurz ATU (Antti Aarne, Stith Thompson, Hans-Jörg Uther), früher Aarne-Thompson-Index (AaTh) »The Types of the Folktale. A classification and bibliography«. Das internationale numerische Klassifikationssystem dahinter ist bereits seit über einem Jahrhundert gültig und liefert brauchbare Informationen zu vergangenen und gegenwärtigen Erzählstoffen. Seine Wurzeln reichen zur Entstehung der geografisch-historischen Methode ab den 1880er Jahren als Reaktion auf die im Geist der Nationalromantik gestiegene Bedeutung von Märchen, Sagen und Balladen mit dem Ziel, alle Märchen beziehungsweise Varianten eines konkreten Erzähltyps international vergleichbar zu machen.
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