„Ein ewig Räthsel bleiben will Ich Mir…“ sprach König Ludwig II. von Bayern und baute sich Lust- und Luftschlösser, die uns heute noch beglücken können. Zur gleichen Zeit – vor mehr als 150 Jahren – entstand ein Rätselbuch, das in die meisten Sprachen der Welt übersetzt wurde und Filmemacher, Komponisten oder Künstler immer wieder beflügelt hat. Es geht um Alice in Wonderland, um die siebenjährige Alice Liddell, die Tochter eines Universitätsdekans in Oxford. Es gab sie und zugleich wurde sie erfunden, ein prekärer Vorgang, den wir dem Mathematikdozenten und Theologen Lewis Carroll verdanken, dessen eigentlicher Name Charles Lutwidge Dodgson war.
In seinen beiden Alice-Büchern hat er das Rätsel der Kindheit und des Aufwachsens erlebbar gemacht, ebenso wie die Rätsel der Sprache, des Bewusstseins und der Logik des menschlichen Gehirns. Vor allem sind die Rätsel aber Spiele und dienen der Unterhaltung. Bohrt man tiefer, gerät man in die Strudel philosophischer Fragen, in eine psychische Unterwelt und die Höhlen der Träume. Wer bin ich? Woher komme ich? Warum bin ich so und nicht anders? Was ist Zeit? Was ist Ursache und Wirkung? Warum ist alles so absurd? Der Sturz in den Kaninchenbau, den die schläfrige Alice bei der Verfolgung des weißen Kaninchens erlebt, ist dafür das treffende Symbol, denn er führt schnurstracks in ein Wunderland. Im zweiten Buch wird sie das Land hinter den Spiegeln betreten, eine weitere Dimension, die sich hinter unserer alltäglichen Realität verbirgt. Selbst in schlechten Übersetzungen bleibt noch etwas von dieser Wundersamkeit erhalten und Fragen über Fragen tun sich auf. Wer das Original lesen kann, wird Weiteres, Präziseres wissen wollen. Dafür sei vor allem Martin Gardners erschöpfender (aber nicht im Sinne von ermüdendem!) Kommentar empfohlen: Alles über Alice, (dt. 2002). Darin erfährt man viel nützliches, aber auch manches nutzlose Wissen, was wiederum seinen eigenen Reiz hat, führt es doch die spielerische Ader der Vorlage weiter in die Sekundärliteratur, in die Umdichtungen und in die Kriminalromane, die auf bestimmten Zitaten aus dem Buch beruhen – oder auch in die Quantenphysik, Relativitätstheorie und den Darwinismus. Überhaupt haben die Alice-Bücher nach Shakespeare und der King James Bibel der englischen Sprache wohl die meisten Sentenzen, Phrasen und Wortspiele geschenkt.
Nun ist ein weiteres Buch der Spurensuche erschienen. Während Gardner Mathematiker und Naturwissenschaftler war, ist der Autor nun ein Historiker der englischen Kinderliteratur. Peter Hunt hat sich in diesem Feld einen Namen gemacht. Das erklärt zugleich die Begrenzung dieses Buches, das kaum über die Sphäre des Kinderliterarischen und der Oxforder wie viktorianischen Welt hinauskommt. Das sollte man wissen, wenn man es sich anschafft. Aber die Anschaffung lohnt weiterhin. Vor allem enthält das Buch reichhaltiges Bildmaterial: Fotos aus der Frühzeit der Fotografie, in der der Autor Carroll/Dodgson als Pionier sehr aktiv war oder die berühmten Illustrationen von John Tenniel, der unser Bild von Alice und den anderen Figuren im Wunderland nachhaltig geprägt hat. Es fällt sogleich auf, dass die reale siebenjährige Alice einen kurzen dunklen Haarschopf trägt (eher einen Bob wie Mireille Mathieu) und nicht, wie Tenniel sie abbildet, lange blonde Haare. Die Protagonistin bietet von Anfang an eine Fläche von Projektionen – vom Autor selbst angefangen über die Künste und Medien der folgenden Generationen.
Hunt erzählt nun die Geschichten hinter der Geschichte – wie alles begann. Eben mit einer Bootsfahrt auf der Themse, mit zwei Männern, darunter Carroll, und drei Mädchen an Bord, an einem schönen Julitag 1862. Doch schon hier beginnt die Erinnerung Carrolls holprig zu werden. Eigentlich, so Hunt, war das Wetter an diesem Tag gar nicht gut, es regnete. Doch die Bootsfahrt wird in der einen oder anderen Form stattgefunden haben, vielleicht an einem anderen Tag, vielleicht mit anderen Passagieren? Nach und nach dröselt Hunt in diesem prachtvollen Band die Anspielungen auf, insbesondere auch die Neuschreibungen von damals berühmten und den Kindern eingebleuten Versen. Carroll verdreht die pädagogische Moral und macht sich und den Kindern daraus einen hinterhältigen Spaß, wenn etwa aus der emsigen Biene ein mildtätig fressendes Krokodil wird. Oder Hunt zeigt, dass die Spielkartenszene am Schluss des ersten Buches auf Pantomimen zurückgeht, die der Autor sich gerne angeschaut hat. Auch der Mäuseschwanz als Gedicht hat eine längere Genealogie hinter sich, sozusagen einen Schwanz von Vorformen. Carroll hat ja selbst immer wieder Vorschläge für den Illustrator gemacht, die im Übrigen auch sein Zeichentalent bestätigen.
Wunderland, schreibt Hunt, habe 42 Illustrationen, Hinter den Spiegeln sollte ursprünglich ebenfalls 42 haben. Und dann ist da noch die Vorschrift Nummer zweiundvierzig, die der König im Gerichtssaal verliest: „Alle über einen Kilometer großen Personen haben den Gerichtssaal zu verlassen.“ (Alle Interpreten dieser Bücher sollten sich angesprochen fühlen!) Douglas Adams‘ Computer steht also nicht alleine da, wenn er die 42 als die Erklärung aller Erklärungen postuliert. Zu Humpty Dumpty, einer Figur aus einem alten englischen Kindervers, und dem Weißen Ritter, der möglicherweise Carroll selbst darstellt in seiner unbeholfenen und sentimentalen Einstellung zu Kindern, hat Hunt weitere Erklärungstafeln aufgestellt. Insgesamt ein sehr aufschlussreiches Buch, das vor allem die viktorianische Welt in Oxford und England auf das Buch bezieht. Martin Gardners Buch dagegen ist weiter gespannt, da es Bezüge zu den Wissenschaften, zur Philosophie und zur Nachwirkung in großer Fülle vorstellt. Wer sich für das engere historische Umfeld interessiert, wird mit Hunts Buch gut bedient. Aber ich hätte mir auch neben Struwwelpeter, als deutschem Pendant der Parodie von Pädagogik, weitere Anknüpfungen gewünscht: zur europäischen Kinderliteratur (Pinocchio, Andersen und anderen), zur Kindheitsgeschichte und zur Weltliteratur (von Woolf bis Proust). Und warum nicht auch zum träumerischen König von Bayern? Auch dieser Ludwig erschuf sich ein Wunderland als Kontrapunkt zur eigenen Melancholie, war sehr interessiert an modernen technischen Erfindungen, betrieb ein frühes Fotolabor und fand keinen rechten Kontakt zur Wirklichkeit seiner Zeit. Er wollte sich ein Räthsel bleiben – „und andern“. Ein Satz, den man über Charles Lutwidge alias Lewis Carroll unbedingt wiederholen muss.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweis:
Peter Hunt, Die Erfindung von Alice. Wie alles begann. Aus dem Englischen von Gisella M. Vorderobermeier. Darmstadt: wgb Theiss 2020 (zum großen Teil farbige Illustrationen).
Weitere Literaturtipps:
Martin Gardner, Alles über Alice. Übersetzt von Friedhelm Rathjen und Günther Fleming. Hamburg: Europa-Verlag 2002.
Alexander Rauch, König Ludwig II. „Ein ewig Räthsel bleiben will Ich Mir…“ München: Edition Charivari 1997.
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