Odyssee durchs Winter-Wunderland: „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin

Es war einmal … Schnee. Schnee ist „das“ Symbol für den Winter. Wir bauen Schneemänner. Wir lieben Schneeballschlachten. Wir laufen Ski. Wir warten auf „weiße Weihnachten“ und sind enttäuscht, wenn uns Petrus den Wunsch (mal wieder) nicht erfüllt hat. Wir fluchen über Schneematsch und schliddern über von feinen Schneeschichten überzuckertes Eis. Und nichts ist schöner, als sich an einem Sonntag mit einem Buch unter die Decke zu mummeln, während draußen sacht die Flocken fallen. Schnee besitzt gefühlsmäßig etwas geradezu verkitscht-heimeliges. Deshalb Vorsicht! Der Roman „Der Schneesturm“ des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin, erschienen 2012 in deutscher Übersetzung im Verlag Kiepenheuer & Witsch, könnte das traute Bild vom mythisch weißen Winter-Wunderland etwas dämpfen.

Vor allem sind es die Gedanken, die sich während und nach der Lektüre der zweihundertdrei Seiten auftun. Was hat man da eigentlich gerade gelesen? Ein Märchen? Eine Satire? Eine Dystopie? Einen skurrilen Roadtrip? Ein Abenteuer? Eine zeitkritische Parabel, versetzt mit fantastischen Elementen? Eine Seelenwanderung? Einen Roman über das menschliche Ringen mit der Natur? – Auf ihre eigene, hintergründige Weise ist diese Geschichte alles davon. Und doch ist sie vor allem eines: Sie ist der Schnee. Die abgründige Farblosigkeit in allen Facetten. Der Schnee sticht in die Augen. Er fällt mal heftig, mal sacht. Er degradiert alle sonstigen Farben und Formen. Er bringt die Kälte. Und den Schlaf, den man nicht schlafen darf. Er stürmt. Er knirscht. Er kneift. Er führt vom Wege ab. Der Schnee ist die Welt. Er ist Himmel. Und zugleich Hölle, eine Hölle aus Weiß, die Sorokin auf melancholisch-realistische Weise als Erzählrahmen dient. Und mittendrin: Das vielleicht ungewöhnlichste Heldengespann seit Don Quijote und Sancho Panza oder Robinson Crusoe und Freitag.

Da hätten wir den Landarzt Platon Iljitsch Garin – trotz des philosophischen Namens meist nicht sonderlich philosophisch aufgelegt, sondern vielmehr ungeduldig, gereizt und ganz seiner Aufgabe verschrieben, die Bewohner eines entlegenen Dorfes gegen die schwarze Pest zu impfen, welche die Menschen allerdings nicht tötet, sondern in Zombies verwandelt; gleichzeitig ist er desillusioniert, neurotisch, ungnädig und dünkelhaft gegenüber Menschen, die weniger Arzt sind als er und vor allem weniger intelligent erscheinen. Garins Begleiter ist Kosma (auch genannt „der Krächz“ oder bezeichnet als „die Knalltüte“) – Ofenschläfer aus Leidenschaft, etwas einfältig, aber gutmütig, treu, zupackend, dem Schicksal ergeben und mit dem Leben zufrieden, zudem stolzer Besitzer eines Schneemobils, angetrieben von rebhuhngroßen Miniaturpferden (eine kurios-komische Interpretation des Wortes „Pferdestärke“). Kosma soll also den Doktor an sein Ziel (den Ort Dolgoje) bringen, nachdem dieser mit der Kutsche im Niemandsland gestrandet ist bzw. auf seiner Mission vom Schnee gestoppt wurde.

Der Weg ist nicht weit – zumindest ohne Schnee. Doch inmitten stürmender Flocken entschleunigt sich nicht nur die Reise, wird man nicht nur auf den Weg des ungleichen Duos mitgenommen (ein Weg, der solange zur Lesesucht wird, bis man es zur letzten Seite geschafft hat), nein, aus der Fahrt mit dem Schneemobil wird eine Art schneeweißer (Alb-)Traum, den Figuren und Leser Meter für Meter entlanghasten, ohne je an sein Ende zu gelangen, obwohl das Ziel nahe ist. Und man ahnt, dass vielleicht nicht das Ziel das Ziel ist, sondern der Weg selber. Denn auf diesem kollidiert das wundersame Gefährt u. a. mit einem im Schnee versunkenen und deshalb zunächst unsichtbaren pyramidenähnlichen Gegenstand, über den Doktor Garin nach einigen Aufregern und Zigaretten (wehe dem Schneeverwehten, wenn es nicht genug zu rauchen gibt) schließlich sinniert: „Es sind viel zu viele unnütze Dinge in der Welt … Die werden fabriziert, breitgekarrt über Städte und Dörfer, die Leute zum Kauf animiert, man verdient sich am schlechten Geschmack eine güldene Nase. Die Leute kaufen das Ding und freuen sich, ohne zu merken, wie nutzlos und dämlich es doch eigentlich ist. Und eins von diesen beschissenen Dingern hat uns heute aufs Kreuz gelegt …“ (S. 44) Was es mit der Pyramide tatsächlich auf sich hat, sei an dieser Stelle nicht verraten, witzig und in mehr als einer Hinsicht bewusstseinserweiternd ist es allemal. Ebenso wie der Auftritt eines etwas anderen (Horror-) Schneemanns.

Es werden nicht die einzigen Zwischenfälle und Begegnungen auf der Straße ins Nirgendwo bleiben. So finden unsere Helden in der ersten Schnee-Odyssee-Nacht Unterschlupf bei einem Müller, der zu den Miniaturmenschen gehört – Liliput aus Jonathan Swifts Roman „Gullivers Reisen“ lässt herzlich grüßen. Der Miniaturmüller trinkt denn auch Schnaps aus einem Fingerhut seiner riesenhaft anmutenden Gemahlin und wird, als er zu betrunken ist, zur Beruhigung flugs auf deren Brüste gesetzt, mit durchaus seltsamen Folgen: „Die Müllerin lachte, dass ihr der Busen hüpfte und der Mann herumgeschleudert wurde wie bei hohem Wellengang.“ (S. 59)

Die Sprache des Romans ist mal derb, mal poetisch – man kann den Schnee und die Atmosphäre, die Angst, die Hoffnung, die Verzweiflung und den Traum, auch dank der Übersetzung von Andreas Tretner, durch jeden Satz rieseln hören. Im Schnee werden die Menschen zu Geistern. Es ist ein symbolischer, abstoßender und gleichzeitig zärtlicher Abgesang auf das postmoderne Russland, das Vladimir Sorokin beschreibt, wobei er im selben kalten Atemzug der ganzen Welt gleichsam den Spiegel vorhält. Man muss lange nachdenken nach dem Ende. Denn das Ende ist ein Ende, wie es nur der Schnee erzählen kann. Und doch liegen jene Sätze, die aktueller sind denn je, in der Mitte der Geschichte, eingebettet in eine Traumsequenz zwischen Wärme und Weiß, Leben und Tod: „Der Glaube solle die Menschen bessern. Der Mensch solle den Menschen lieben. Zwei Jahrtausende seien vergangen seit dem Tode Jesu, und immer noch haben die Menschen nicht gelernt, einander zu lieben. […] Sie haben nicht aufgehört, einander zu hassen, zu betrügen und zu berauben. Einander zu töten. Können die Menschen vom Töten lassen?“ (S. 118)

Sorokins Schneesturm ist kein gewöhnlicher Schneesturm, aber er ist ein Schneesturm, dem man sich stellen sollte – am besten in wohliger Wärme. Und mit „Doktor Garin“ hat er in diesem Jahr auch eine Fortsetzung erfahren. Aber das, wie so vieles, ist eine andere Geschichte.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm


Literaturhinweis:

Vladimir Sorokin. Der Schneesturm. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 2012. 12 €.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Odyssee durchs Winter-Wunderland: „Der Schneesturm“ von Vladimir Sorokin“

  1. Eine durchaus erbauliche Lektüre, ein scheinbar schönes russisches Wintermärchen, das augenblicklich Bilder unendlich weiter, weißer Winterlandschaften und Märchenfiguren wie Ded Moros, Snegurotschka und Baba Jaga in Erinnerung ruft. Es ist ein gekonntes Spiel mit Streotypen des alten Russlands, der russischen Literatur wie auch der klassischen russischen Literatursprache, wunderbar vom Übersetzer Andreas Tretner ins Deutsche übertragen. Allein schon der gewählt Werktitel Sorokins ist eine Anspielung auf Lew Tolstois „(Im) Schneesturm“ (Metel‘). Das Lesevergnügen wird um so größer, je mehr der Lesende die zahlreichen literarischen Anspielungen: Puschkin, Tschechow, Tolstoi, Gogol, aber auch Kafka (Der Landarzt!) nachvollziehen und die zahlreichen russischen Kulturcodes entschlüsseln kann. Zunächst glaubt man sich wohlig eingebettet in der Erzähltradition der klassischen russischen Literatur wiederzufinden, doch bald schon beginnt eine fantastische, wirre Irrfahrt durch das ländliche, kaum veränderte Russland hin zu einer nahen, bedrohlichen Zukunft. Hier beweist sich erneut die meisterhafte Sprache Sorokins, die augenzwinkernde Verbindung altväterlicher Erzählungen von Zwergen und Riesen vermischt mit Elementen des Grusel- und Horrorromans, die in eine mehr oder weniger deutliche Gesellschaftskritik mündet. Es handelt sich dabei um eine Gesellschaft, die gezeichnet wird von sonderbaren Wundervorstellungen, masochistischen Verhaltensweisen, von Wodkarausch und Drogenvisionen. Letzendlich gleicht Sorokins Buch einer düsteren Parabel eines sich vom Westen abwendenden, isolationistischen „euro-asiatischen“ Russlands in einer bedrohlicher Nähe zu China.

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