Nordischer Schamanismus

„Wollte Odin seine Gestalt wechseln, dann lag sein Körper wie schlafend oder tot da, er selbst aber war ein Vogel, ein wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange“. (Snorri Sturluson: Heimskringla)

Der germanische Zauberer

Vermeintlicher Forschungsstand ist freilich, dass den nordisch-germanischen Völkern so etwas wie „Schamanismus“ weitestgehend fremd war. Allenfalls ein paar „Spuren“ (Buchholz) oder „Züge“ (Lichtenberger), die „seltsam schamanisch“ (Eliade) bzw. „schamanoid“ (Simek) seien, ließen sich in der nordischen Mythologie finden. In meinem Buch Schamanismus bei den Germanen vertrete ich die gegenteilige Position, dass nämlich die nordisch-germanische Kultur und Religion ganz wesentlich vom Schamanentum gekennzeichnet und geprägt war.

Natürlich haben die Germanen den Begriff „Schamanismus“ nicht verwendet. Es handelt sich um ein sibirisches Wort mit der Bedeutung „weiser Mensch“ (ewenkisch Ša-man). Der germanische Begriff für den Schamanen war wahrscheinlich „Zauberer“ oder auch „Lachsner“ (wobei lachsner laut Grimms Wörterbuch ursprünglich „Zauberer“ bedeutete). So nimmt nicht wunder, dass es vor allem der weise Göttervater Odin-Wotan ist, der mit dem nordischen Schamanentum in Verbindung steht, jener Wundergott zahlreicher Mythen, Riten und Zaubersprüche, dessen bloßer Name auf den Schamanismus hindeutet (gemeingerm. *woda: „besessen, erregt“). Wotan ist die germanische Gottheit der Ekstase, Weissagung und Tierverwandlung sowie Runenkunst (tatsächlich bedeutet die älteste Form des Wortes „Zauber“ – altengl. teafor – wörtlich „rote Farbe“ und steht in direkter Verbindung mit dem Ritzen bzw. Röteln von Runen). Es gibt sogar ein Edda-Lied, in dem beschrieben wird, wie Odin beim „Schlagen (drepa á) auf die Trommel (vétt)“ in Trance „zusammensackt (siga)“ (Lokasenna). Aber auch der nordische Weltenbaum Yggdrasil, der wütende Berserkergang, die Zauberstäbe der Völvas oder die rituelle Verwendung von Zauberpflanzen – um nur vier Beispiel zu nennen – weisen auf die Existenz eines authentischen germanischen Schamanentums und sollen im Folgenden kurz skizziert werden.

Weltenbaum: Die Schamanenweihe

Bei den Burjat-Mongolen in Sibirien gibt es ein Ritual, das ein angehender Schamane vollziehen muss, um Schamane zu werden: Der Initiand wird zunächst am ganzen Körper mit dem Blut eines geopferten Bockes kultisch angemalt. Dann geht er zu einer Birke, die den Weltenbaum verkörpert und in die neun Einkerbungen geschlagen sind, einerseits als praktische Stufen, anderseits symbolisch als Darstellung für die neun Welten, durch die der Weltenbaum strukturiert ist. In einem rituellen Akt klettert der Initiand auf die Birke, wobei er in der Hand ein magisches Schwert hält, ein schamanisches Werkzeug, etwa um sich gegen etwaige Dämonen verteidigen zu können. Auf der Spitze der Birke verharrt er dann für 9 Tage: In diesem außergewöhnlichen körperlichen und psychischen Ausnahmezustand lernt er die neun Welten im Geiste zu durchreisen und seine Seele aktiv durch den metaphysischen Raum zu manövrieren. Wenn er wiederkehrt, ist er ein Schamane.

In der nordisch-germanischen Mythologie gibt es ganz genau die gleiche Geschichte (Hávamál): Hier ist es der Göttervater Odin-Wotan, der den germanischen Weltenbaum Yggdrasil rituell erklettert. In den Händen hält er kein Schwert, sondern seinen magischen Speer, mit dem er sich im Übrigen selbst verwundet und also gleichsam blutrot bemalt ist. Auch er verharrt für neun Tage und neun Nächte in der Krone des Weltenbaumes und lernt in dieser Zeit wiederum die neun Welten zu durchreisen, die den Weltenbaum Yggdrasil in der germanischen Mythologie konstituieren. Meines Erachtens handelt es sich bei dieser eddischen Mythe um die poetische Darstellung einer Proto-Initiation zum Schamanen. Wer bei den Germanen Schamane werden wollte, musste es dem Schamanengott gleichtun und einen eben solchen Ritus durchlaufen, etwa im Rahmen einer Scheinhängung, bei der der Initiand den kleinen Tod durchlebt und das Jenseitige kennenlernt.

Berserker: Krieger im Geiste

Ein zentrales Element des Schamanismus ist die Tierverwandlung („Therianthropie“): Bereits jungpaläolithische Kleinkunstwerke und Höhlenmalereien bilden Mischwesen aus Mensch und Tier ab, Löwen-, Hirsch- und Vogelmenschen, um nur wenige zu nennen, die Schamanen darstellen, welche sich in Tierfelle gehüllt haben und sich im Geiste mit ihrem Totem – ihrem „Krafttier“ – verbinden. Diese wundersame Tierverwandlung taucht bei allen möglichen schamanischen Kulturen auf, etwa bei den Sámi, in Sibirien oder bei den Native Americans: Eine berühmte Darstellung des Malers und Indianerkenners George Catlin aus dem 19. Jahrhundert stellt naturalistisch einen Blackfoot-Schamanen dar, der sich ein Bärenfell übergezogen hat und eine Trommel schlägt.

Aber auch in der nordisch-germanischen Überlieferung ist davon die Rede, dass es Menschen gibt, die sich zu gewissen Zeiten in Bärenhäute hüllen und gleichsam zum Bären werden. Die Rede ist vom berühmt-berüchtigten Berserkergang bzw. der Berserkerwut. In der Vergangenheit hat man den Berserkergang zumeist als militärisches Phänomen gedeutet. Meines Erachtens macht jedoch eine Interpretation als ein totemistische Phänomen viel mehr Sinn, konkret die Deutung, dass es sich bei den Berserkern um Schamanen handelt, die nicht physisch gegen menschliche Legionen, sondern gleichsam im Geiste gegen metaphysische Dämonen kämpften. In diese Richtung weist auch die altnordische Sage von Bödvar Bjarki (das heißt: „kriegerischer kleiner Bär“), eines Mannes, der in seinem Feldbett schläft, während draußen eine große Schlacht geschlagen wird, in deren Verlauf ein großer Bär die feindlichen Heere aufreibt – in dem Augenblick, in dem Bödvar Bjarki aus seinem Tiefschlaf geweckt wird, ist der Bär verschwunden (Hrólfs saga krauka). Demnach unternimmt der Berserker eine Seelenreise in der Gestalt seiner Fylgja („Krafttier“). Es scheint sich primär um ein psychologisches Phänomen zu handeln. In einem Atemzug mit den Berserkern werden übrigens die Ulfheðnar („Werwölfe“) genannt, die sich gleichfalls als Schamanen deuten lassen (vgl. meinen von Wolfgang Bauer herausgegebenen Aufsatz: „Der Werwolf als Schamane“).

Völva: Seherinnen und Schamanenstäbe

Seit jeher werden im Schamanismus verschiedene Arten von Zauberstäben verwendet: Bereits eine steinzeitliche Höhlenmalerei in der Grotte von Lascaux stellt einen solchen Schamanenstab dar (der Stab, auf dem ein Vogel sitzt, steht aufrecht neben einem liegenden Schamanen mit Vogelkopf). Aber bis heute verwenden zum Beispiel die nepalesischen Jha(n)kris einen Phurba genannten „Geisterdolch“. Die sibirischen Schamanen und Schamaninnen verwenden Zauberstäbe von rund einem Meter Länge: Einerseits verkörpern diese den Weltenbaum, andererseits dienen sie zugleich als Reitvehikel. Im Rahmen ekstatischer Tänze „reiten“ bzw. „fliegen“ die Schamanen mithilfe dieser Stäbe in die Geisterwelt – der Zauberstab fungiert gewissermaßen als Schamanenpferd.

Solche Zauberstäbe gab es aber auch bei den Germanen, wie literarische und archäologische Überlieferungen bezeugen: Ihre Träger waren germanische Seherinnen und Weissagerinnen, Frauen, denen man prophetische und magische Kräfte nachsagte. Schon Tacitus überliefert ja, dass die Germanen manche Frauen geradezu als Heilige und Göttliche verehrt haben, etwa Veleda, deren zauberische Fähigkeiten sogar in Rom bekannt waren (sie hatte nämlich den Ausgang des Bataveraufstandes 69 vorhergesagt). In der nordischen Überlieferung werden solche Frauen allgemein „Völva“ genannt (man denke an das erste Lied der Edda: Völuspa – die Weissagung der Seherin). Das Wort Völva aber leitet sich vom altnordischen völr ab und bedeutet wörtlich „Stab“. Gut möglich, dass die germanischen Seherinnen ihren Zauberstab gleichfalls zum Schamanisieren verwendet haben, um „reiten“ und „fliegen“ zu können (auch von den Hexen heißt es, dass sie auf Besen reiten und auf Stöcken zum Blocksberg fliegen). Die germanischen Zauberinnen waren Priesterinnen der Freyja, jener Göttin der Magie, die laut nordischer Überlieferung den Menschen den Seiðr brachte, eine spezielle Form von Trolldom („Zauberei“), die ekstatische Seelenreisen, Hilfsgeister und Heilungen umfasst und dem zirkumpolaren Schamanentum der nordeuropäischen Sámi nahesteht.

Zauberpflanzen: Religiöse Rauschmittel

Weltweit versetzen sich Schamanen mithilfe bestimmter Trancetechniken wie Trommeln oder Tanzen in einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand, um Wissen zu erlangen, Heilung zu erwirken oder Opfer darzubringen. In diesem Zustand ist der Schamane dazu in der Lage, mit Göttern, Geistern und Dämonen in Kontakt zu treten. Eine ethnologisch vielfach beschriebene Form der Tranceinduktion ist außerdem die Verwendung verschiedener pflanzlicher Drogen, die stark psychoaktiv wirken und Halluzinationen und Visionen hervorrufen. Für die Schamanen sind diese Pflanzen gleichwohl Götterpflanzen und heilige Geschöpfe. Zum Beispiel werden in Sibirien im Rahmen religiöser Rauschkulte Fliegenpilze konsumiert, in Südamerika wird ein psychedelischer Zaubertrank namens Ayahuasca kredenzt und wahrscheinlich inhalierte schon die Pythia im Orakel von Delphi psychotropes Bilsenkraut, um sich in eine prophetische Trance zu versetzen.

Solche Zauberpflanzen gab es auch bei den Germanen: Die Seherin Albruna, die schon von Tacitus erwähnt wird, teilt sich sogar ihren Namen mit der stark psychoaktiven Alraune. Man fand auch große Mengen des Bilsenkrautes als Beigabe in einem Völva-Grab im dänischen Fyrkat, was darauf schließen lässt, dass auch die nordischen Wahrsagerinnen ihre Séancen mithilfe der Schamanenpflanze einleiteten: Noch in der frühneuzeitlichen Hexenliteratur ist immer wieder die Rede davon, dass die Hexen „fliegen“ können, während sie im Tiefschlaf liegen, weil sie sich vorher mit einer Hexensalbe eingerieben haben, die unter anderem Bilsenkraut enthält. Aber auch der Fliegenpilz, der bereits dem Namen nach zum Flug geeignet ist, wurde von den Germanen mit ihren Göttern in Verbindung gebracht: Laut alter Sage wachsen die rot-weißen Pilze dort, wo neun Monate vorher der blutende Geifer des achtbeinigen Schamanenpferdes Sleipnir, auf dem Odin durch die Luft reitet, hingetropft ist. Schon vor über 200 Jahren entstand außerdem die Theorie, dass auch der Berserkergang mit dem Konsum von Fliegenpilzen zusammenhänge. Mit Verweis auf die für militärisch kämpfende Bärenkrieger eher ungünstige narkotisierende Wirkung des Pilzes wurde diese Theorie jedoch verworfen. Vor dem Hintergrund der Deutung des Berserkerganges als schamanisches Phänomen macht dieser Zusammenhang indessen wieder Sinn.

Ein Beitrag von Dr. Thomas Höffgen


Dr. phil. Thomas Höffgen, Autor und Referent, studierte Germanistik und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, war Dozent am Germanistischen Institut der RUB und promovierte über Goethes Walpurgisnacht. Er absolvierte ein ökologisches Volontariat im Regenwald von Peru und lernte die traditionelle Kultur und Spiritualität der Ese’Eja-Indianer kennen. Weitere Forschungsreisen führten ihn vor allem in die unberührten Waldwildnisse Schwedens, wo er der altnordischen Naturreligion der Germanen, aber auch dem schamanischen Erbe der letzten Ureinwohner Europas, der Sámi, nachspürte. Thomas Höffgen ist unter anderem als Autor des religionswissenschaftlichen Bestsellers „Schamanismus bei den Germanen – Götter, Menschen, Tiere, Pflanzen“ (⁵2021) bekannt. Weitere Werke sind: „Der verteufelte Waldgott – die Christianisierung der Germanen“ (2022), „Karneval im alten Europa – Ursprung, Brauchtum und Bedeutung eines heidnischen Verkleidungskultes“ (2020) und „Volkspoesie – Von grimmschen Märchen, germanischen Mythen und den Gesängen der Naturvölker“ (2019).

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Literaturhinweise:

Basilow, Wladimir: Das Schamanentum bei den Völkern Mittelasiens und Kasachstans. Berlin 1995.

Buchholz, Peter: Schamanistische Züge in der altisländischen Überlieferung. Saarbrücken 1968.

Campbell, Joseph: Mythologie der Urvölker. Die Masken Gottes. Basel 1991.

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Hasenfratz, Hans-Peter: Die religiöse Welt der Germanen. Ritual, Magie, Kult, Mythus. Freiburg 1992.

Harrison, Dick: Vikingaliv. Värnamo 2007.

Höffgen, Thomas: Der Werwolf als Schamane. In: Wolfgang Bauer und Clemens Zerling (Hrsg.): Wölfe in Mythos und Kulturgeschichte. Basel/Zürich/Roßdorf 2022 (im Erscheinen).

Höffgen, Thomas: Der Wilde Mann. Schamanismus in Volksdichtung und Verkleidungskult. In: Hülle und Haut. Verkleiden und Umschließen. Berlin 2014.

Höfler, Max: Volksmedizinische Botanik der Germanen. Originalausgabe von 1908. Berlin 1990.

Kuper, Michael (Hrsg.): Schamanengeschichten aus Sibirien. Originalausgabe von 1955. Berlin 1987.

Lewin, Louis: Phantastica. Die betäubenden und erregenden Genußmittel. Originalausgabe von 1927. Erbach 1887.

Lichtenberger, Sigrid: Züge des Schamanentums in der germanischen Überlieferung. In: Schamanentum und Zaubermärchen. Kiel 2005.

Lommel, Andreas: Schamanen und Medizinmänner. Magie und Mystik früher Kulturen. München 1965.

Simek, Rudolf: Lexikon der germanischen Mythologie. 3. Auflage. Stuttgart 2006.

Steinsland, Gro: Människor och makter i vikingarnas värld. Stockholm 1998.

Steinsland, Gro: Norrøn religion.Myter, riter, samfunn. Oslo 2005.

Müller, Klaus: Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. 4. Auflage. München 1997.

Nioradze, Georg: Der Schamanismus bei den sibirischen Völkern. Stuttgart 1925.

Vitebsky, Piers: Schamanismus. Reisen der Seele, magische Kräfte, Ekstase und Heilung. Köln 2001.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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