Ninon Hesse – auf den Spuren der Göttinnen und Götter: Die mythologisch-archäologischen Expeditionen von Hermann Hesses Frau in Griechenland

Auf Ninon Hesse stieß ich vor langer Zeit, als ich über den britischen Autor John Cowper Powys (1872-1963) promovierte. Ich wusste, dass Hermann Hesse seinen Roman Wolf Solent bewunderte, der 1930 auf Deutsch erschien, stellte aber bald fest, dass seine Frau Ninon sich viel tiefer in das mythologisch geprägte Werk dieses Autors eingearbeitet hatte als er. 1947 veröffentlichte sie einen langen Aufsatz über Powys in der Neuen Schweizer Rundschau, der verdeutlicht, dass sie sich immer mehr mit den Fragen der Mythologie beschäftigte, diesmal am Beispiel eines modernen Autors, der in seinem Roman eine „private Mythologie“ entwarf. In anderen Werken wird er vor allem von keltischer und griechischer Mythologie angeregt. So jedenfalls trat Hesses dritte Frau für mich aus dem Schatten des Steppenwolfs und Glasperlenspielers. Die Beschäftigung mit Powys, den sie möglicherweise durch den Religions- und Mythenforscher Karl Kerényi kennengelernt hatte – denn dieser hatte schon 1934 Thomas Mann von dem Autor zu überzeugen versucht – , läuft bei ihr parallel mit einem großen Hunger auf griechische Mythologie und Archäologie.

1895 wurde sie als Ninon Ausländer in Czernowitz geboren, dem heutigen ukrainischen Czerniwzi, das noch zur k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn gehörte und so viele deutschsprachig-jüdische Autorinnen und Autoren (von Rose Ausländer bis Paul Celan) hervorgebracht hat. Sie ist als Mädchen sehr bildungshungrig und neugierig auf die Welt, liest mit 14 Hermann Hesse Peter Camenzind und schreibt ihm bald darauf einen Brief über ihre Gedanken bei der Lektüre. Hesse antwortet und es entsteht ein sporadischer Briefwechsel. Sie beginnt ein Medizinstudium in Wien, wechselt aber nach drei Jahren zu Kunstgeschichte und Archäologie über. Im Krieg ist sie Krankenpflegerin in Wiener Hospitälern. Zu Kriegsende heiratet sie einen Ingenieur und Kabarettkünstler und heißt nun Ninon Dolbin. Hermann Hesse trennt sich gerade von seiner Frau und zieht in den Tessin. Hesses Erzählungen in Klingsors letzter Sommer haben es Ninon angetan und sie trifft den Autor erstmals in Montagnola im Tessin. Im selben Jahr trennt sie sich von ihrem Ehemann, der seine Untreue auslebt. In Berlin studiert sie nun Kunstgeschichte und sie beginnt an einer Promotion über einen französischen Goldschmied zu arbeiten, wozu sie eine Zeitlang auch in Paris lebt. Hesse lässt sich von seiner ersten Frau scheiden, Ninon versöhnt sich mit ihrem Ex, trennt sich aber wenige Monate später 1926 endgültig von ihm. Entscheidend dafür ist eine weitere Begegnung mit Hesse in Zürich. Der überredet sie, von ihrer Doktorarbeit abzulassen, denn Hesse hat sich nun auch von seiner zweiten Frau scheiden lassen und hegt wohl den Gedanken, die viel Jüngere könnte ihm im Alter (er ist Jahrgang 1877) zur Seite stehen. Es ist ein wenig kompliziert mit diesen Beziehungswechseln, aber bald pendelt sich fast alles ein. Noch stellt er seiner Familie Ninon als seine „Sekretärin“ vor, 1931 heiraten sie schließlich.

Die Hochzeitsreise soll nach Rom gehen, doch Hesse unterzieht sich lieber einer Rheumakur in Baden, so dass Ninon allein den Honigmond verbringt – aber eben in Rom! Dies ist die erste Weichenstellung für ihre künftige Lebensform, die sowohl Unterstützung des weltberühmten Autors bedeutet als auch Distanz und Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit und zwar durch das Eintauchen in Griechenland, in Kultur, Archäologie und eine mythisch gesättigte Landschaft. Während ihr Mann sein Alterswerk, Das Glasperlenspiel, beginnt, begibt sie sich auf Reisen in die Antike, ihr eigenes Glasperlenspiel. Zunächst geht es nach Italien, 1934 nach Neapel und Sizilien und wieder Rom, dann in die großen Museen in London und Paris. 1936 versuchen die beiden nach Rom zu fahren, doch Hesse kehrt um und Ninon fährt wieder allein an den Tiber. Das eigentliche „Erweckungserlebnis Griechenland“ geschieht schließlich 1937: sie betritt griechischen Boden – Athen, Delphi, den Peloponnes und die Inseln. Während sich in Deutschland das Unheil verdichtet, reist sie weiter, zum Louvre und kurz vor Kriegsausbruch noch einmal nach Athen, Attika und Delphi. Bis zum Ende des Krieges aber wird sie sich hauptsächlich in der Schweiz aufhalten; als Jüdin wäre für sie jede Auslandsreise lebensgefährlich geworden. Dafür verdichtet sich die innere Auseinandersetzung mit der griechischen Mythologie.

Es ist auffällig, wie sehr die Antike in diesen schlimmen Jahren die Geister mit unterschiedlicher Motivation anlockt. Manche gehen in die innere Emigration, wie etwa Marie-Luise Kaschnitz, auch wohl, obwohl von konservativer Warte aus, Friedrich Georg Jünger, der Bruder Ernst Jüngers. Oder es sind Philosophen im Exil wie Karl Löwith, die die Antike neu bewerten oder wiederentdecken. Thomas Mann, ebenso im Exil, widmet sich der jüdischen Antike, als er an seiner Joseph-Trilogie arbeitet, und gleichzeitig mit einem der größten Mythologen des Jahrhunderts, dem Ungarn Karl Kerényi, korrespondiert. Immer ist es eine uralte Zeit, eine europäische Wurzelkultur, die diesen Menschen hilft, über die Tagessorgen, die Politik und den Krieg mindestens kurzzeitig hinwegzukommen. Warum die Antike so trostreich sein kann, wäre ein anderes Thema. Für Ninon jedenfalls bedeutet Griechenland (oder eben auch die Museen im Westen) eine Verbindung nicht nur zur alten europäischen Kultur, sondern auch zu eigenen Erinnerungen und unausgelebten Möglichkeiten des Selbst. Auch kann sie hier ihre interdisziplinären Interessen und Begeisterungen ausleben: Philologie, Archäologie, Geschichte, Kunst, Literatur, Religion, Ethnologie… Und die Reisen sind eine Flucht vor dem Repräsentieren und Verwalten, das ihr als Frau des Nobelpreisträgers für Literatur zugefallen ist – eine Aufgabe, die sie zuhause annimmt, aber von der sie sich immer mal wieder erholen muss.

Deshalb hat sie aber auch das Bedürfnis, dem zu Hause gebliebenen Hermann Hesse ihre Erfahrungen und Gedanken in vielen Briefen mitzuteilen. Sie geben ein präzises Bild ihrer Reisen und ihrer mythologisch-archäologischen Überlegungen wieder. Die beste Kennerin des Werks von Ninon Hesse, Gisela Kleine, zeigt in ihrer Doppelbiographie des Paares, wie sich Ninons Denken und Interesse verändert. Kapitel 10 ist überschrieben „Spiegelungen“ und geht auf die Parallelen ein zwischen der Entstehung von Das Glasperlenspiel und den griechischen Erlebnissen Ninons, die mythologisch ihr Verhältnis zu Hesse in seiner Evolution widerspiegelt. Die erste Figur ihres Pantheons ist demnach Dionysos, der dem Hesse der Steppenwolf-Zeit entspricht. Das Dionysische ihrer Reisen ist es, das ihr Schwung verleiht, Freiheit, neuen Ausdruck. Denn sie muss ja zunächst beginnen im Schatten des klassischen Antike-Bildes, das sie aus dem 19. Jahrhundert mitgenommen hat. So fühlt sie sich auch als Ariadne, die einen Faden durch das gigantische Labyrinth legt, das diese Antike in Wirklichkeit darstellt. Der Faden ist ein Zeichen, das auf Ursprünge, Anfänge verweist, die es zu fassen gilt. Wenn sie sich dem Gott Apollo in allen denkbaren Formen nähert – als Statue, Bildnis, als Landschaft und Tempel –, dann um sich seinen Ursprüngen zu nähern. Was steckt hinter dem Geheimnis der vielgestaltigen Götter, aus welchem Wurzelboden menschlicher Evolution sind sie entstanden. Vom dionysischen Schweifen und der reinen Begeisterung geht der Weg zum Entdecken als Erkenntnis, zum planvollen Sichten der antiken Bestände in allen ihren verwirrenden Versionen und Abwegen. Auch der klassisch gesehene Apollo ist begrenzt, man muss ihm unter die Haut gehen, das Palimpsest seiner Gestalten entziffern.

Ihre Besuche und Besichtigungen werden zunehmend kulturgeschichtlich gesättigt, denn sie trägt bald immer die passende Literatur mit sich – von Hesiod, Homer und Vergil bis hin zu Pausanias. Dazu schreibt sie fortwährend, skizziert und notiert oder kopiert in ihren Notizbüchern, die bis heute nicht von der Wissenschaft ausgewertet sind. Man kann das meiste im Deutschen Literaturarchiv Marbach einsehen. Ihre Reisen aber sind wunderbare Serien von Erlebnissen, Kontaktaufnahmen mit der alten Welt durch Ruinen, in denen sie sich gespiegelt fühlt: „Wir alle sind zukünftige Vergangene und Verschüttete.“ Erkenntnis ist ihr das wahre Glück, nicht das Wissen selbst. Ohne Anschauung ist ihr das Wissen nichts, daher muss sie reisen und sehen, und das heißt: bezeugen. Als sie sich tiefer in die landschaftliche Wirkung auf die Kunst versenkt, geht ihr auf, dass die Statuen ganz anders erlebt werden. So versucht sie sich in einem „polyphonen Sehen“, das es ihr erlaubt, die Schichten in einer Figur, Vase oder einem Relief, in Tempel oder Weihestätte gleichsam mitzuhören. Im Falle Apollos, mit dem sie sich gut ein Jahrzehnt beschäftigt, geht ihr auf, dass es neben dem lichten Gott auch eine dunkle Seite gibt, ein Wesen aus dem Zwielicht. Ihre Auseinandersetzung mit diesem doppelten Gottesbild spiegelt wiederum das Verhältnis zu Hesses Glasperlenspiel, das so apollinisch-kristallklar aufgebaut ist und sie eher herausfordert, denn sie hasst „Apollon, so wie er im Belvedere steht, glatt und geleckt. Aber ich habe gelernt, durch ihn hindurchzusehen, auf seine wahre Gestalt“ (zit. in Kleine 467) Der strahlende Gott konnte auch Todesengel sein, erschreckender, grausamer Racheengel. Ihre mythische Biographie des Apoll wurde nicht vollendet, aber es liegen gut 2000 Seiten Notizen und Abschriften vor.

Im Laufe der Zeit baute sie wissenschaftliche und freundschaftliche Beziehungen mit Antike-Forschern wie Walter F. Otto oder Karl Kerényi auf. Letzterer ersuchte sie manchmal selbst um Rat. Durch ihn kam sie 1943 auch in den Gelehrtenkreis Eranos, der sich regelmäßig in Ascona am Lago Maggiore traf. Begründet hatte ihn zehn Jahre zuvor die Niederländerin Olga Fröbe-Kapteyn. Sie konnte im Laufe der Jahre Mythenforscher wie C.G. Jung, Joseph Campbell, Gershom Scholem oder Mircea Eliade gewinnen, aber auch andere bekannte Wissenschaftler wie Erwin Schrödinger, Jan Assmann oder Annemarie Schimmel. Für Ninon erwiesen sich diese Treffen als fruchtbar, insbesondere, was die Beziehung zu Karl Kerényi anging. Sie liebte die Art, wie er die Mythen in seinen Vorträgen erzählte und verglich ihn mit dem anfangs erwähnten John Cowper Powys, der dies auf seine, nämlich dichterische Art auch tue.

Neben ihrer Beschäftigung mit Apollo entwickelte sich ihre Märchenforschung. Sie gab zwei Märchenbände heraus (1953, 1956). Auch in den Märchen geht es ihr um die Entdeckung des Zwielichtigen, um die Ambiguität, die durch archaische Überreste in später Gewandung hindurchwirkt. Geschichten um Wolf und Fuchs interessieren sie besonders, denn diese lassen sich wiederum mit den Urbildern der Götter wie Apollo vergleichen, bei dem ihr das Wolfsartige als „Apollon Lykeios“ aufgefallen war. Mit ihrer Freundin Paula Philippson, einer deutschen Kinderärztin, die sich ebenfalls dem Studium der Antike zugewandt hatte, untersucht sie solche dynamischen Vorgänge in der Kulturgeschichte, die die klassische Idealvorstellung der Antike unterlaufen, die sich Winckelmann und das deutsche Gymnasium im 19. Jahrhundert rein und schön ausgemalt oder besser entfärbt hatten. Auch für Paula Philippson (1874-1949) ist dieser Gang in die Urgeschichte Europas eine Art, sich vor der Gegenwart zu schützen. Als Jüdin wurde ihr 1933 Berufsverbot erteilt und nach den Pogromen 1938 floh sie in die Schweiz.

Ninon entdeckte nach Apollo die Zeusgattin Hera, zu der Philippson und Kerényi ihr wertvolle Hinweise gaben. Auch hinter oder in Hera steckte mehr als die von ihrem untreuen Gatten gelackmeierte Göttin. Indem Ninon Heras Landschaften immer wieder aufsuchte – ob auf dem Olymp oder Samos –, entzifferte sie allmählich das vorhomerische, vorklassische Bild einer Göttin, deren Vorläuferin ihr schließlich die Gorgo-Medusa zu sein schien. Die Beinamen der Göttin deuten dabei immer auf Charakterzüge, die zum Teil untergegangen sind. So war Hera auch die „Pferdegöttin“, die „Kuhäugige“ oder die „Zügelhalterin“ – Anspielungen auf Urbilder, die nicht aufgehen in der klassischen Gestalt. Ninon verfolgte diese Hypothesen mehr als ein Jahrzehnt, was ihr eigener Gatte nicht recht verstand. Sie befreite Hera gleichsam von patriarchalischen Zuordnungen und entdeckt archaische Urbilder, zu denen auch magische Tänze für Erdgöttinnen gehören. Wie Goethe die Urpflanze, so wollte sie das Ur-Weibliche hinter Hera entschleiern. Dazu zeichnete sie jede Menge Gorgonen-Darstellungen nach, gefräßige und geflügelte Ungeheuer, die an mexikanische und mesopotamische Fratzen erinnern. Die Fachwelt ignorierte die Dilettantin oder man nahm sie etwas verblüfft zur Kenntnis, aber nur wenige Forscher nahmen sie wirklich ernst. Immerhin war unter ihnen, sie sehr ermutigend, der Leiter der deutschen Olympia-Ausgrabung Emil Kunze, der ihre Art und Weise lobte, in die Tiefe zu gehen und neue Perspektiven zu öffnen. Mit 57 lernte sie noch Neugriechisch, um den Griechen ihrer eigenen Zeit näher zu kommen. Ah, die Griechen! 1957 schrieb sie an Hermann Hesse: „Nichts blieb für die Griechen un-benannt, un-beseelt, un-geformt, die Blitze waren Zeus‘ Ausdrucksweise, das Feuer Hephaistos‘, jeder Fluss ein Gott, das Meer eine Götterfamilie, die Luft, der Regenbogen, die Morgenröte – “ (zit. in Kleine 499). Und was sie über den englischen Wolf Solent von J.C. Powys schrieb, das gilt auch für sie selbst – sie war wie er jemand, die durch die Menschen, Tiere und Pflanzen hindurch die Urbilder sah, „ein mythischer Mensch in unserer Zeit.“ (Hesse 1947, 608)

Ein Beitrag Prof. Elmar Schenkel


Literaturhinweise:

Ninon Hesse. „Über den Wolf Solent von John Cowper Powys.“ Neue Schweizer Rundschau 1947, Heft 10 und 11, S. 600-608 und S. 654-667.

Ninon Hesse. Lieber, lieber Vogel. Briefe an Hermann Hesse, ausgewählt und erläutert von Gisela Kleine. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.

Gisela Kleine. Ninon und Hermann Hesse. Biographie eines Paares. Berlin: Insel Verlag 2017.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Ninon Hesse – auf den Spuren der Göttinnen und Götter: Die mythologisch-archäologischen Expeditionen von Hermann Hesses Frau in Griechenland“

    1. Ach tut das wohl, etwas so Schönes, Würdigendes, Forschendes zu lesen. Wie spannend die mythischen Gestalten werden. Vielen Dank für diesen schönen Beitrag

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